Tag 99, Donnerstag, 25.08.11 (Tag 9 - Chemo-Zyklus 5)

 

  •  Gut gefühlt und wiederrum schlecht. Es scheint wohl so, dass man die niedrigen Leukos auch irgendwie merkt. Fühlte mich frisch und gleichzeitig auch schlapp. Hatte mittags einen absoluten Hänger, fühlte mich wie unser Dauergast Bier und Tüte. Mein Mund tut mir schrecklich weh. Ständig läuft mir Soße aus der Nase. Tropft in einer Sekunde über mein Kinn, so flüssig ist das Zeug. Ich glaube, das hängt mit der Spritze zusammen. Aber nur so eine Vermutung. Das war in den letzten Monaten immer so. Nur heute besonders heftig. Könnte ja auch sein, dass sich meine Leukozyten über die Nase verabschieden. Muss da mal nachhaken beim nächsten Gespräch. Interessiert mich.
  •  100 Leukos dazu gewonnen seit gestern. Thrombozyten bei 50. Also prima Werte sind das nicht. Kennt ihr so die Bombenentschärfungsfilme? In den der Bombenentschärfer das große Bumm-Bumm vermeidet, in dem er ganz vorsichtig Richtung Bumm-Bumm-Zone robbt und dabei 10 Kilo Schweiß verliert. So geht es mir auch ungefähr. Da ich durch das Cortison zu einem Volltollpatsch mutiert bin, kann mich jedes Utensil in meinem Haushalt umbringen. Selbst das Auge eines Stofftiers kann mich in wenigen Sekunden zu einem Bombenentschärfungslooser machen. Gott, wie ich es liebe, Wörter zu erfinden. Kann zur Sucht werden. Fazit: War heute also ganz besonders Vorsichtig in meiner Wohnung unterwegs.
  • Was war noch? Semmelknödel mit Tomaten-Tofu-Soße. Ging schnell, keimfrei, war lecker.
  • Grims und Grams waren wieder meine Freunde. Brief an den blonden Kirgisen eingetütet. Kärtchen an meine Schwester Rita ergänzt. Witzig, gerade heute kam ein Brief von ihr ins Haus. Für so einen Brief von einer 75-jährigen Frau muss man sich ganz viel Zeit nehmen. Sie schafft es auf eine Doppel-Grußkarte, 1000 Wörter zu schreiben. Ich bin jedes Mal von neuem fasziniert. Wenn man bedenkt, dass das eine einfache Frau ist, und welche Fähigkeiten unsere Kinder (bzw. wir selbst) im Schreiben noch besitzen, dann ist für mich immer etwas ganz Besonderes diese Karten-Romane zu lesen.
  • Irgendwie blemberte die Zeit so dahin. Der 1.Teil der Säulen der Erde noch angeschaut. Das Buch war ein großes Leseerlebnis. Der Der Vierteiler ist auch ganz unterhaltsam, aber versprüht bei weitem nicht den Zauber der Romanvorlage. Trotzdem freue ich mich auf die nächsten Teile.
  • Ein Bericht, nein viel mehr ein Interview mit einem unglaublichen Menschen im Internet gesehen. Er stellte sein Buch vor: Hinter dem Horizont links. Acht Jahre mit dem Land-Rover durch die Welt. Für mich war dieser große hagere Mann mit Zopf und Ziegenbart eine Art Guru. Ich hätte ihm noch Stunden, was sage ich, Tage zuhören können. Ein ganz feiner Zeitgenosse. Ist mit 50.000 Euro los und war 8 Jahre unterwegs. 100 Länder bereist. 197 gibt es anscheinend auf der Erde. Traf im 5. Jahr seine große Liebe. Wenn man die Beschreibungen in Amazon liest, muss dieses Reisetagebuch grandios sein. Dieses Abenteuer ist es auf jeden Fall. Wenn ich alle meine Konten plündere, komme ich vielleicht auf die Hälfte. Wären also 4 Jahre. Reisen und schreiben. Beamtenstatus aufgeben. Ziegenbart hat diesen Traum, den so viele von uns träumen umgesetzt. Ich traue mich noch nicht. Noch nicht. Wenn Ziegenbart sagt, dass das Besondere an der Reise gar nicht die absurden Erlebnisse an sich waren oder die unbeschreibliche Natur, sondern das Kennenlernen der Menschen, die Erkenntnis wie unterschiedlich wir Homo Sapiens doch sind und auf dieser Welt leben, dann löst das bei mir ein großes Bedürfnis aus, das auch mal so zu erleben. Ich kann da jede Zeile davon nachempfinden. Der Typ saß da auf seinem Sofa und war mit sich im Reinen. Das spürte man in jeder seiner Gesten. Aber nicht so ein esoterisch Verklärter, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben. Spricht anscheinend in seinem Buch auch äußerst kritisch über die Entwicklungshilfe. Wenn ich das so hier schreibe, muss ich mir das Ding eigentlich gleich bestellen. ;-)
  • Die Abendstunden waren dann für einen alten Freund – Kopfklinik-Manne – reserviert. Mensch, hatten wir uns viel zu erzählen. Oder hab ICH zu viel geplappertt? Gemeinsam alte Erkenntnisse bestärkt und neue dazu gewonnen.

Die alten: Uns fehlt der rote Faden im Leben. Dass wir ihn immer wieder suchen müssen, kann für die anderen richtig nervig sein. Die Ansprüche, die man gegenüber anderen hegt, muss man selbst erst mal erfüllen. Bewegung macht glücklich. Vor allem, wenn man von Zeiskam nach Landau radelt.

Die neuen: Man muss Entscheidungen treffen, die weh tun, aber einem am Ende gut tun. Ausgeglichenheit erlangt man nur, wenn man weiß, was man will, und wohin man will. Die Qualität von Freundschaft und Liebe braucht man nicht in Worte fassen, die spürt man, vor allem, wenn man eine Kiste Sprudel mitbringt.

 

Heute ist Freundetag. Da kommt doch um Mitternacht von dem Träger des Papakreuzes rein, Karschden aus dem schönen schwarzen Walde. Au ja, Besuch, das wäre mal was. Schach und über das Leben philosophieren bis zum Abwinken, wie in den alten Abi-Tagen. Das würde mir gefallen. Dafür würde ich jede Chemo saußen lassen.

Jetzt gehe ich Leukos gebären. Wäre ja gelacht. 100 lächerlich! Heute Nacht zeuge ich 1000 Kinder. Nennt mich Dschingis Khan der Blutkranken!

 

Gute Nacht! Und wenn ihr heut einen echt harten, nervigen Tag hattet und ihr mit Freude zurzeit nichts am Hut habt, dann freut euch wenigstens darüber, dass ihr gesund seid und freut euch über die vielen Optionen, die euch zur Verfügung stehen. Auch wenn ihr etwas niemals angehen werdet, so habt ihr zumindest stets die Möglichkeit, es doch irgendwann zu tun. Sowas nennt man Autonomie. Diese Autonomie verloren zu haben, ist das schlimmste an meiner ganzen Erkrankung. Es komme, was wolle, ich werde sie wieder zurückerlangen!