Tag 97, Dienstag, 23.08.2011 (Tag 7 - Chemo-Zyklus 5)
Achtung: Wer keine Lust hat, sich durch die folgenden Zeilen völlig deprimieren zu lassen, der klickt gleich auf Tag 98.
Heute hilft mir auch mein Sturkopp nicht mehr weiter. Der Sturkopp, der es bis jetzt immer geschafft hat, meiner miesen Situation noch etwas Positives abzugewinnen. Blutwerte vor dem 8. Tag des 5. Chemo-Zyklus auf dem Sinkflug, körperlicher und seelischer Zustand auch. Schwierig, zu beschreiben, wie dieser Zustand genau aussieht, wie ich mich fühle. Diese Frage höre ich so oft. Die Antwort überfordert mich jedes Mal. Ich möchte gerne detailliert antworten. Finde aber nicht die richtigen Worte. Gut, schlecht, kommt mir alles so banal vor. Grippe? Nein. Bei einer Grippe fühlt man sich richtig elend. Gliederschmerzen habe ich keine, Fieber auch nicht. Hals-und Kopfweh, alles nicht der Rede wert. Jeder kennt vielleicht dieses Ausgepumptsein nach einer physischen Anstrengung: Muskelkater am ganzen Körper, müde, leer im Kopf, aber glücklich – das ist es auch nicht. Überarbeitung, Überlastung, nach einem harten Arbeitstag abends völlig fertig auf die Couch plumpsen und an nix mehr denken wollen. Trifft‘s auch nicht richtig. Von allem ein bisschen und hin und wieder auch ein bisschen mehr. Vielleicht so: Ich bin 42 Jahre und fühle mich heute definitiv so, als wäre ich ein 141-jähriger Opi mit Herzschrittmacher, mobiler Lungenmaschine, beidseitigem Hörgerät und einer Vielzahl von Plastikprothesen an wichtigen und nicht mehr so wichtigen Stellen des sich in Auflösung befindlichen Körpers. Alle Funktionen, die im Alltag eben funktionieren, die man ja nicht ständig wahrnimmt, nimmt man plötzlich bei jedem Pups wahr. Wenn man ein Glas hebt, denkt man, upps das geht aber langsam, oder upps, schon wieder auf die Plautze geschüttet. Muhammed Ali lässt grüßen! Wenn man die Brötchentüte der Verkäuferin abnimmt, bekommt man wegen akuter Überanstrengung plötzlich einen „sichtbaren“ sowie „fühlbaren“ Schweißausbruch, der so heftig ist, dass man sich aus Peinlichkeit hektisch wegdreht, dabei zwei Löcher gleichzeitig reißt: eins in der Papiertüte und eins in die Brust. Überall im Verkaufsraum liegen nun verschrammelte Brötchen, die mal gut aussahen und gut dufteten. Natürlich liegt da sofort ein Vergleich mit dem Brötchenbesitzer nahe, dem beim Anblick des staubigen Brötchens auf dem Boden, seine eigene baldige Einäscherung in den Sinn kommt. Man stolpert die 25 Treppenstufen zum Schafott hoch und macht dabei zwei Pausen, holt mindestens 3 Mal tief Luft, schnauft 4 Mal kräftig durch und versucht durch 5-maligem-Kopfschütteln das Pfeifen aus den Ohren loszuwerden. Weil einem eine Flasche Saft so schwer vorkommt wie ein Möbelstück aus Massivholz, trägt man eben nur diese eine Flasche beidhändig zum Frühtstückstisch und sonst nix. Das Frühstücken genießt man aber nicht richtig, weil es zu lange dauern wird und man es abbrechen muss, weil man ja rechtzeitig bei der Blutabnahme sein will. Es kommt einem permanent in den Sinn, dass zurzeit alles unerfüllt bleibt und extrem unbefriedigend ist. Man will aus diesem Kreislauf ausbrechen, ist aber nicht mal in Lage „Faules Ei“ mit 5 Personen zu spielen. Das Schlimmste aber ist: diese unglaubliche Müdigkeit in Verbindung mit der Unfähigkeit wenigstens 1 Stunde tief und selig schlafen zu können. Als hätte ich wie „Schlafes Bruder“ entschieden, nie mehr schlafen zu wollen oder als hätte ich mich mit viel Alkoholika in den Schlaf betäubt, um dann wieder panisch aus einem viel zu kurzen Wegdösen aufzudösen. Dabei hätte ich schockiert feststellt, dass der Sack voller Probleme immer noch nicht im Müll gelandet ist und ich mich doch nicht in einem Gemälde von Hieronymus Bosch wiederfinde, sondern in der Realität eines Krebskranken. Alles, was man tut, um sich abzulenken, lenkt überhaupt nicht mehr ab, sondern kostet nur noch mehr Kraft. Ich ertappe mich dabei für einen kurzen Moment zu denken: Mensch, du, Müder, mach jetzt einfach die Augen zu und nie wieder auf. Dann hat die Qual endlich ein Ende. Mir ist völlig schleierhaft, wie ich es dann doch noch hinbekomme, nicht hoffungslos zu werden, die Augen wieder aufzuschlagen und den nächsten Gang zu verrichten, als würde mich das alles nichts angehen, als würde das alles einem Fremden passieren. Ich bin mir selbst ein Rätsel.