Tag 96, Montag, 22.08.2011 (Chemo-Tag 6 - Zyklus 5)
Die Nacht war kurz. Der Schlaf unruhig. Leider war ich zu schlapp, um diesmal wieder mit einer Schlafstörung produktiv umzugehen. So lag ich im Bett und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Was mir da alles in den Sinn kam, das muss leider alles ins Buch. Wenn man beim Denken tatsächlich mal alle Schranken niederreißt, dann kann einem angst und bange bei der Geschichte werden. Innere Kernspaltung sozusagen. Denken kann manchmal wirklich ein Fluch sein. Denkt nur mal für ein paar Minuten intensiv drüber nach, ob ihr glücklich seid. Warum seid ihr evtl. nicht so glücklich, wie ihr es euch wünscht? Das kommt man ganz schnell an die Schmerzgrenze. Und jetzt stellt euch nur mal vor, ihr habt da die ganze Nacht dafür Zeit, nach Antworten zu forschen.
Um 07.00 Uhr ging’s dann Gott sei Dank raus. Das Denken wurde durch Pflichttermine unterbrochen. Waschung, Blutabnahme und Hausarzt. Meine Blutwerte könnten besser sein. HB 7,8, Leukos bei 2400, Thrombozyten bei 200. Ich warte bis Mittwoch. Dann können die Heidelberger entscheiden, ob ich noch zusätzliches Blut bekomme. Man wird gelassener von Zyklus zu Zyklus. Vor ein paar Wochen hätte ich die Tagesklinik bzw. den entsprechenden diensthabenden Arzt noch verrückt gemacht und mich damit natürlich auch. Jetzt nehme ich einfach alles hin, so wie es eben kommt. Mein Herz scheint ja stabil zu ticken. Bin nur scheintot, noch nicht ganz tot.
Nach der Blutabnahme, die reibungslos verlief, obwohl die Vampir-Omi an mir rumsaugte, holte ich Frühstücksbrötchen. War ziemlich relaxt heute, die gute alte Blutsaugerin. Meine Adern haben sich aber auch wieder beruhigt. Fast kein blau mehr zu sehen, was bloody Grandma sehr freute. Da ich immer wieder nach Abwechslung strebe, ergatterte ich mir an der Tanke am Westbahnhof, wo es die besten und frischesten Brötchen der ganzen Stadt gibt, die letzten zwei Laugenbrötle und ein exklusives Müslistängle. Für die Jungs hab ich natürlich auch noch was in die Tüte packen lassen. Man is ja nicht so. Zurück in Haus 46, war ich dann völlig überrascht, dass die Jungs + Bier und Tüte auch schon am Tisch saßen und wohl bereits auf meine Brötchen warteten, obwohl sie gar nicht gewusst haben, dass ich Brötchen mitbringen werde. Sie haben wie ich die Nacht durchgemacht, nur anders, weniger denkend. Wie ich sie dafür beneide. Ggelegentlich.
Ich stürzte mich auf meine Laugen und meine Zeitung, ohne Jungs und Tüte. Einfach in Ruhe mit der Tageszeitung zu frühstücken ist purer Luxus.
Pünktlich um 09.45 Uhr stand ich dann bei Doc Sneider auf der Matte. Das Wartezimmer voll bis zum Anschlag. Doc Sneider war aus dem Tandem-Radelurlaub zurück. Da ich das Chaos schon ahnte, nahm ich natürlich vorsorglich meine Frühstückszeitung mit in die Praxis. Um 10.30 Uhr kam ich dann dran. Kurzes Intermezzo. Susi war ganz irritiert, dass ich ohne OP-Maske erschien und die Blutabnahme verweigerte. Doc Holliday zog schon die Spritze und war auch deprimiert, dass er mir kein Loch in den Pelz brennen konnte. Jetzt aber...macht die ganze Zeit rum, wegen der blöden Faxerei und dann kann er nicht die Finger von mir lassen. Blutdruck perfekt, und noch ein nettes „Alles Gute, Herr Schnur, ich will sie aber jeden Monat hier sehen!“ Na, das kann er haben, Pflichttermine sind ja nicht so schlecht für mich. Siehe oben!
Vollgestopft mit Laugen und Müsli-Stängle musste ich meine Lieblings-Lesbe aus Barcelona emotional aufbauen. So ein Politikstudium kann auch ganz schön anstrengend sein. Vor allem, wenn die Professoren nicht so machen, wie man will. Ach her je, bin ich froh, dass ich nicht mehr studieren muss. Studi sein ist ja ganz nett, aber das ganze unnötige hochtrabende theoretische Zeugs (die Chiffre in Paul Celans Werk beispielsweise), das man sich da einverleiben musste, hätte man sich getrost sparen können. Der ganze akademische Betrieb ist ein Luftschloss ohne Luft. Ich muss nur mal erwähnen, dass ich z.B. in meinem ganzen Studium kein einziges Schulbuch, also das Buch, mit dem die Schüler und die zukünftige Lehrkraft tagtäglich umgehen werden, gesehen habe. Hat man nicht für so wichtig erachtet. Das ist irgendwie so, als würde der Schreiner in seiner Ausbildung kein Holz zu Gesicht bekommen oder der Maurer kein Mörtel.
Die zukünftige UNO-Botschafterin streichelte mir dann auch noch ein wenig über die Glatze, so wie man das per Telefon eben machen kann. Das mit dem Mitleid ist so ein Ding. Irgendwie möchte man keins. Aber wenn man dann so ein paar Mitleidstropfen geliefert bekommt, tut das auch ganz schön gut. Das ist wieder so ein Beispiel dafür, dass man (fast) nie das Richtige machen kann, wenn man mit einem Krebspatienten bzw. mit mir umgeht. Ich möchte oft, dass der Gegenüber selbst darauf kommt, was ich mir gerade in diesem Augenblick wünsche, aber das ist ja Schwachsinn. Das kann doch keiner leisten. Nicht mal meine besten Freunde. Es ist wie eine Gradwanderung auf dem Vulkan. Da die richtige Balance zu finden, wirklich schwierig. Ist nicht leicht mit mir. Vielleicht wird es irgendwann wieder einfacher, mit mir umzugehen. Arbeite auf jeden Fall dran. ;-)
Apropos arbeiten. Lotterleben hatte sich ausgelottert. Klar, Buchhaltung über Arztkosten- und Rechnungen gehört da ja schon obligatorisch dazu. Diverse Emails und Kartengrüße an Anvertraute und Anverwandte auch. Ein bisschen Steuer, ein bisschen Grims ein bisschen, Grams und...einen 12-seitigen handgeschriebenen Brief von einem kirgisischen Pfälzer. Schon was Besonderes so ein Brief. Wer bekommt sowas noch? Wer schreibt noch Briefe auf Papier? Ich würde auch so gern handschriftlich antworten – ich schreibe gern – aber durch das Zittern der Hände wird das eine Jahrhundertaufgabe. So viel Tippex hab ich gar nicht im Haus. Aber ich werde die Tage mindestens einen 5-seitigen PC-Brief verfassen. Versprochen, mein kirgisisches Lockenköpfchen!
Wirklich ein besonderer Tag heute. Ereignisreich. Und alles spielte sich fast ausschließlich in meinen vier Wänden ab. Welch eine Schande eigentlich, bei diesem schönen Sommerwetter. Was dieser Tag noch besonders machte? Ich habe es endlich getan: die Leinwand ausgepackt und mein Krebsbild angefangen. Prinzessin Uteb klang auch etwas überrascht, dass ich das jetzt endlich angegangen bin. Immerhin habe ich mit ihr zusammen vor mehreren Wochen dieses Monstrum von Leinwand in die Kutsche bugsiert.
Das Malen war eine Achterbahn der Gefühle. Ich hatte eine grobe Vorstellung, die aber durch den kreativen Prozess sich schnell verselbständigte. Ich führte die unterschiedlichsten Malutensilien, probierte mich aus, pendelte zwischen der naiven Sichtweise eines Kindergartenkindes und dem Genie von Salvador Dali. Während des Malens lief vor meinem inneren Auge ein Film über die vergangenen Monate ab. Alles kam plötzlich in mir hoch, mit jedem Pinselstrich. Jede Infusion, jede Untersuchung, jedes Gespräch, jede Träne – wie in einer Jukebox wurde alles auf einmal abgespielt. Ich fühlte mich befreit, aber auch gleichzeitig bedroht. Die schwarzen Balken nahmen meine Seele gefangen. Kurz dachte ich daran, das Projekt abzubrechen, als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet. Als ich dann das Rot entdeckte und mich wieder nur auf die Farbe konzentrieren konnte, beruhigte sich das Gefühlschaos wieder, die Jukebox in meinem Kopf wurde still und ich malte, nein pappte mich regelrecht in einen Rausch. Ich pappte eine Schwammfläche nach der anderen auf das Bild. Ich zog den Schwamm von der Leinwand und es war als ob ich das Schwarze in meinem Leben damit abzog. Ein unfassbar schönes Gefühl. Vor allem deswegen, weil es schien, dass ich selbst alles in der Hand hätte, ich selbst für einen guten Ausgang verantwortlich wäre.
Das Bild ist noch lange nicht fertig. Ich freue mich auf die nächsten Schritte. Es ist egal wie es wird. Ich habe keinen Kunstanspruch. Von mir aus kann das Kindergartenkind gegen Dali siegen. Es ist mein Bild! Mein Krebsbild! Jede Beurteilung ist da zweitrangig. Die Wirkung ist wichtig, ob subjektiv oder objektiv.
Ein aufregender Tag geht da zu Ende. Ein aufregender Tag, der auf dem Papier eigentlich gar nicht so aufregend war. Die Aufregung fand vorwiegend in meinem Kopf statt. Ich freue mich auf den neuen Tag. Ich habe keine Termine, weiß nicht, was er bringt. Ich weiß nur, dass ich zu tun habe, was auch immer das sein wird. Bin motiviert, fühle mich schwach, aber auch unendlich gestärkt. Ich glaube, dieser Zustand, in dem ich mich befinde, ist mein ganz spezieller Zustand. Ich will mich der Schwäche nicht hingeben. Ich bin so furchtbar müde, mein Sturkopf will es aber nicht zulassen, dass ich mich ausruhe, habe noch so viel zu bewältigen, zu verarbeiten. Nicht denken, machen! Ich muss machen! Ein Drang, dem ich nicht entfliehen kann. Die Aussagen von Ärzten, Krankenschwestern, Arzthelferinnen und PTAs suggerieren mir immer, dass ich mich aufgrund meines niedrigen Hb-Wertes eigentlich ziemlich mies fühlen müsste. Ich fühle mich vielleicht auch mies und trotzdem will ich das Miese nicht die Oberhand über mein Dasein gewinnen lassen. Als ob man nach einer langen Fahrt zu seiner Liebsten todmüde ankommt, aber nicht schlafen will, weil man das Zusammensein noch genießen möchte.
Gedicht 1 – in der Malpause entstanden
Schwarz, schwarz, dunkel-schwarz.
Hass, Hass, furchtbarer Hass.
Gegen mich, dich, alles.
Augen zu, bluttot.
Augen zu, mundtot.
Augen zu, für immer tot.
Augen zu, für immer fort.
Gedicht 2 – nach dem Malen entstanden
Rot,
du rettest mich,
ins Leben.
Jeder deiner Striche
ein Segen.
Rot,
du findest mich,
im Dunkeln
und für
das Leben!
Rot,
es wird wieder hell
um mich
durch
dich!