Dienstag, 16.08.2011
90. Tag der Therapie
So jetzt bin ich wieder einigermaßen auf dem Damm meinen Blog weiterzuführen. In den letzten Tagen (ab Tag 91) hat mich die Chemo diesmal doch recht mitgenommen. Die Nebenwirkungen werden immer heftiger. Aber ihr seht, ich lebe...und wie, das erfahrt ihr nun in den nächsten Blogeinträgen.
Heute kam mit der Post ein Brief, der das CT und das Befundgespräch der letzten Woche zusammenfasst. Das Wichtigste aus diesem Schreiben fasse ich nun zusammen. Vielleicht sind ja ein paar Ärzte oder Lateiner unter euch. ;-) Das man mal solche Sachen über mich schreibt, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich meine, sowas steht vielleicht irgend wann im eigenen Totenschein, aber dann ist es auch wurscht, was für einen letzten Satz so ein Weißkittel über einen auf’s Papier kritzelt.
Aktuelle Anamnese:
Herr Schnur stellte sich nach 4 Zyklen Rituximap-BEACOPP eskaliert wegen eines nodulär lymphzyten-prädominanten Hodgkin-Lymphoms mit Übergang in ein diffus-großzelliges T-Zell und histiozytenreiches B-Zell-Lymphom zu einer Verlaufskontrolle in unserer Ambulanz vor. Die BEACOPP-Dosis musste inzwischen aufgrund mehrfacher Grad-4-Throbopenien auf Basisstufe reduziert werden. Bislang keine wesentlichen infektiösen Komplikationen, häufige Muskelkrämpfe.
Körperlicher Untersuchungsbefund:
Guter Allgemein- und Ernährungszustand. Inguinal links prall-elastische Schwellung (post-operatives Serom). Keine Peripheren Lymphome abgrenzbar. Bauchdecken: weich. Milz: nicht vergrößert tastbar. Nierenlager: indolent. Keine Beinödeme.
CT-Hals/Thorax/Abdomen vom 10.08.2011:
Im Verlauf nach wie vor kleinere Lymphknoten entlang der Nervengefäßscheide bds., mit einem Durchmesser von maximal 10 mm. In der Voruntersuchung waren diese deutlich größer, mit einem maximalen Durchmesser links von bis zu 18 mm. Deutlich retrosternal eintauchende Struma. Diese ist konstant. Im Verlauf kein Nachweis pathologisch vergrößerter supra-oder infraclaviulärer Lymphkonten entlang der Illiacalgefäße rechts. Im Verlauf zeigen sich die Lymphknoten inguinal deutlich grßenrückläufig bei derzeit maximal 30 mm auf der linken Seite bzw. 20 cm auf der rechten Seite (Voruntersuchung maximaler Durchmesser bei ca. 36 mm links und 36 mm auch rechts). Rückläufige Lymphknoten auch an der Externa distal auf der linken Seite, mit Voruntersuchung 23 mm maximal, akutell 15 mm, links regelrecht. Pulmonal kein Focus, keine Lysen.
Zusammenfassende Beurteilung:
Herr Schnur stellte sich zu einer Verlaufskontrolle in unserer Ambulanz vor. Bildgebend zeigt sich aktuell ein weiterer geringer Größenrückgang aller Lymphommanifestationen. Wir empfehlen eine Fortführung der Chemotherapie mit 2 weiteren Therapiezyklien gemäß Rituximab-BEACOPP, anschließend sind eine erneute PET/Untersuchung und die Wiedervorstellung in unserer Ambulanz geplant.
So schaut’s aus. Alles rückläufig, aber noch nicht geheilt. Doch auf dem besten Wege dorthin. Es ist normal, dass es jetzt immer länger dauert bis sich die Lymphknoten zurückbilden. Am Anfang haut die Therapie richtig ins System, dann gewöhnen sich die Dinger aber irgendwie an das Gift und schrumpfen viel langsamer. Die Schwellung muss dann auch nicht unbedingt mit angereichertem Tumormaterial zu tun haben, sondern kann von diversen Verklebungen und Vernarbungen herrühren, die über Jahre auch so bestehen bleiben.
Man bleibt zuversichtlich. Na klar. I will survive. Doch einige der Formulierungen bringen einen trotzdem ins Grübeln und auf den Boden der Tatsachen zurück. Nein, ausgestanden ist noch nichts. Im Gegenteil, die Angst nimmt eigentlich zu, je länger die Therapie dauert und je heftiger die Nebenwirkungen sich bemerkbar machen. Der Chemopatient steht vor Schwelle: geheilt oder Krüppel. Ich hoffe es gibt noch eine andere Variante: geheilt und gesund. Für die Tochter wieder ein starker Paps, für die Freundin ein Fels in der Brandung, für die Freunde ein tatkräftiger lebenslustiger Mitstreiter zu sein – nichts wünsche ich mehr. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dauerhaft so auf Sparflamme vor mich hin zu köcheln. Nicht einfach das machen können, was man so will – scheiß egal, ob man es vor der Erkrankung ja auch nicht gewollt hat – ist kein akzeptabler Gedanke. Es geht um die Möglichkeiten, die man besitzt. Man wünscht sich Möglichkeiten! Und in vielen Telefonaten und Gesprächen merke ich, dass niemand weiß, was hier so recht Sache ist. Am Telefon klinge ich kräftig, in meinem Blog sprühe ich vor Lebensmut und kreativer Energie, am Kaffetisch reiße ich mich zusammen und überspiele die Nebenwirkung so gut es eben geht. Da kommt man schon mal ganz leicht auf den Gedanken: Jo, bissel Krebs halt, die Medizin wird’s schon richten, der Alex, das ist doch ein Baum von einem Mann, der fällt nicht um. Wenn man dann plötzlich doch mal mitbekommt, dass der Ritter den Löffel nicht mehr zum Mund führen kann, weil die Krämpfe in den Händen zu stark werden oder er nur apathisch auf dem Sofa rumliegt, dann weiß man, Schnuribold ist dann doch keine Eiche und erst recht kein Held. Oh je...Der Mensch rettet sich selbst aus dem Wahnsinn der Traurigkeit, in dem er sich ständig das Positive vorgaukelt. Und die, die sich dieses Positive schon längst nicht mehr vorgaukeln können, aus welchen Gründen auch immer, die stehen sowieso kurz davor, ganz durchzudrehen.
Jetzt, in diesem Augenblick, am 20.08.2011, um 06.57 Uhr MEZ, vor diesem Bildschirm sitzend, geht es mir gut. Leichte Übelkeit, leichtes veschleiertes Sehen, leichtes Kribbeln in den Füßen, sonst nichts. Ich fühle mich quasi gesund.
Aber zu diesem 90. Tag zurück.
Ein wunderbarer Tag.. Kennt ihr solche Tage? Es gelingt einem alles. Man schwebt. Man ist Jesus. (Aber vor der Kreuzigung!) Jeder Handgriff sitzt, jede Geste, man fühlt sich unbesiegbar. So ein Tag war das heute. Ich habe (fast) nichts fallen gelassen. Mein Kopf war klar wie Gletscherwasser. Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, was ich mache und welcher Schritt der nächste ist. Ein Beispiel. Mein Großeinkauf heute. Der musste sein, weil ja die Chemo wieder vor der Türe steht. Oft fahre ich einfach in den Supermarkt (vor allem während der Schulzeit) und kaufe das Nächstbeste ein. Lass mich treiben. Bin für einen solchen Einkauf komplett unvorbereitet. Heute, war alles anders. Einkaufszettel, Arsenal von Einkaufskörben und Taschen im Auto. Rein in den Supi, Lebensmittel in den Wagen, der schon mit einer Hakentasche von mir vorbereitet wurde. Normalerweise schmeiß ich den Grimsgrams rein und muss ihn draußen vorm Auto wieder einzeln aus dem Einkaufswagen nehmen. Wie viel Zeit geht da unnötigerweise flöten. Heute, mit einem einzigen Handgriff meinen Kofferraum vollgepackt und wieder entpackt.
An der Kasse hatte ich meine Payback-Bons schon einzeln abgerissen in der Hand und suchte den passenden Schnippsel in wengier als 45 Sekunden heraus (und es waren Hölle viele Schnippsel). Ja, ich gebe es zu, ich bin auch so einer. Fragt mich nicht, ich weiß nicht warum. Ich habe noch nie ein Werbeprodukt dafür eingelöst. Und meistens ist mir es auch zu blöd, diese blöden Bons raus zu gramen. Hab mir mal so eine Karte bestellt, weil ich meinen Wirtschaftsschülern zeigen wollte, wie sowas funktioniert. Natürlich hab ich bei den Kids vollmundig und pädagogisch wertvoll Kund getan, dass das ja alles Bauernfängerei wäre...tzzz...tzzzz... Ich war trotzdem stolz wie mein an Fresssucht leidender Ex-Kater Oskar. Das Grummeln und die Anfeindungen, die ich aus der Warteschlange, die sich hinter mir gebildet hatte, vernahm, begegnete ich mit einem souveränen Lächeln, das zum Ausdruck brachte, dass mir das Leben (und das Einkaufen) einfach nur unendlich Freude bereitet. Ich glaube, dieses Buddha-Lächeln hat „meine Wartenschlangen-Feinde“ noch mehr auf die Palme gebracht. Wie gesagt, der Tag lief wie geschmiert.
Abends kochte ich mir einen famosen Kartoffel-Blumenkohl-Auflauf für vier Personen und wünschte mir, dass Anna Zeit hat, den Part von drei der vier Personen zu übernehmen. Und...zack...saß sie an meinem Tisch und stopfe ein Blumenkohlröschen nach dem andern in ihre entzückenden Backen. Ach Väter sind manchmal total hirnlose Kreaturen, sitzen verliebt grinsend vor der Tochter, weil die schmatzend auf einem Blumenkohl rumnagt...und sowas wie hmm...hmm...lecker zwischen den Zähnen heraus presst. Zwischen dem 1. Tag der Geburt und dem 18 ¼ Lebensjahr ändert sich rein gar nichts, so scheint es. Auf jeden Fall nicht bei mir.
Trotzdem muss diese hirnlose Hobby-Papa-Kreatur mal demnächst so richtig den Profi-Vati raushängen lassen. Egal ob jetzt 1/100, 18 ¼ oder 99 1/3. Papa sein, ist leicht, Vater sein, verdammt schwer.