Tag 80, Samstag, 06.08.2011
(Tag 10 - Aplasie - Chemo-Zyklus 4)
Es gibt einen Roman von Jules Verne, der heißt "In 80 Tagen um die Welt". Als Teenager habe ich diese Geschichte geliebt: mitgefiebert mit Phileas Fogg, dem weltgwandten Gentleman und neidisch auf seine vielen abstursen Abenteuer. Ich reise nicht 80 Tage um die Welt, aber ich habe 80 Therapietage hinter mir, auch ein unvorstellbares Abenteuer. Wie würde mein Roman heißen? 80 Tage und zwei Lymphome, oder so...
Das passt ja wieder...
Idealer Spruch zur Nußdorfer Weinkerwe heute in der RHEINPFALZ:
Das Fenster ersetzt das Theater in der Provinz.
(Gustave Flaubert)
Wie wahr!
Noch einen:
Wir sind gegen keine Fehler an anderen intoleranter, als welche die Karikatur unserer eigenen sind.
(Franz Grillparzer)
Ha, auch wahr!
Der Flammkuchenwagen steht immer noch.
Um 03.00 Uhr bin ich heute Nacht endlich eingeschlafen. Wirklich nicht einfach zur Zeit mit mir. Kann nicht mal bei Kerwelärm pennen. Diese Schwüle macht mich fertig. Musste mich entscheiden: ersticken oder durch das blöde Geblubber von schoppengeschwängerten Idioten wahnsinnig werden.
Mein Blut ist ziemlich durcheinander. Hoffe, es beruhigt sich nochmal.
Fühle mich wie eine Schildkröte auf Extasy.
Gefrühstückt, geputzt, geduscht, gecremt, geschlafen, gewaschen, geleert, gegrunzt.
Okay, der Samstag muss ich auch ohne Prinzessin Uteb verbringen. Es soll dieses Wochenende einfach nicht sein. Es kommen auch wieder bessere Zeiten. Bestimmt. Nächstes Wochenende zum Beispiel. Da müsste ich wieder in voller Blüte stehen. Man wird sehen. Vielleicht auch ganz euphorisch. Am Freitag ist ja schließlich ein weiteres Befundgespräch mit Frau Dr. Meisner.
Warum stelle ich mich nicht einfach tot, wie so viele andere? Wie die, die an meinem Fenster vorbeiziehen. Warum schaue ich nicht an dem Elend vorbei und genieße das Leben, fresse ein XXL-Schnitzel und tinke Flasche Lambursco dazu? Mache die Glotze an und zieh mir jede Stunde eine neue Heile-Welt-Geschichte rein, um mich zu betäuben. Nein, ich muss diese ganzen Sachen in Stern, Zeit und Spiegel lesen, die mich runterziehen, aufbauen, wieder wegbatschen und in mir wieder den Samen der Hoffnung einpflanzen. Ich bin ein Massochist. Wahrscheinlich ist es das - ich suche die Hoffnung in all den Sätzen, irgendwas, was mir die Antwort gibt, warum das alles passiert und wie wir damit umgehen sollen. Diese absolute eine und unwiderrükckliche Antwort. Ich suche sie jeden Tag, wie Momo.
Im Spiegel:
Drei skandinavische Schriftsteller schreiben über das Attentat in Norwegen. Es schmerzt fast körperlich die tiefe Erschütterung dieser Autoren wahrzunehmen.
Jo Nesbo (der, der mit all seinen Krimis gerade in den Bestsellerlisten vertreten ist.)
„...Im Juni radelten der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg, der Autor dieser Zeilen und ein gemeinsamer Freund zusammen durch Oslos Straßen, um im bergigen Wald zu wandern. Alles innerhalb der Stadtgrenzen dieser großen kleinen Stadt. Ein paar Meter hinter uns folgten zwei Bodyguards, auch sie auf dem Fahrrad. Als sie an einer Ampel halten müssen, hielt neben dem Ministerpräsidenten ein Auto mit heruntergelassener Scheibe: Ein Mann rief seinen Namen. „Jens!“ die Tatsache, dass das norwegische Volk über seinen obersten politischen Leiter redet und ihn so auch anspricht, ist eine Tradition im Geiste des Egalitarismus, über die ich mich schon lange nicht mehr wundere. „Ich habe hier einen kleinen Jungen, der es sicherlich toll findet, dir mal guten Tag zu sagen.“ Jens Stoltenberg lächelte und begrüßte den kleinen Jungen auf dem Rücksitz per Handschlag. „Hallo, ich bin Jens.“ Der Ministerpräsident mit Fahrradhelm, der Junge mit Sicherheitsgurt. Beide hatten sie bei Rot gehalten. Die Bodyguards standen in gehörigen Abstand hinter uns. Und lächelten. Es ist ein Bild der Sicherheit und des gegenseitigen Vertrauens, der ganz alltäglichen norwegischen Idylle. Ein Bild dessen, was wir für normal hielten. Wir trugen doch einen Helm, einen Sicherheitsgurt und hatten alle Verkehrsregeln befolgt. Natürlich kann es schief gehen. Es kann immer schiefgehen.
Ende Februar begann in Oslo die Nordische Ski-WM. Die norwegischen Teilnehmer und Teilnehmerinnen hatten Erfolg, und jeden Abend versammelten sich Zehntausende enthusiastischer Norweger bei der Medaillenvergabe im Osloer Zentrum, um zu feiern. Am 25. Juli kamen an die 200 000 von Oslos 600 000 Einwohnern zusammen, um gemeinsam zu trauern. Der Kontrast konnte kaum stärker sein, die Ähnlichkeit aber auch nicht. Beides zeigt die unerwartete Stärke der Gefühle eines Volkes, das die Beherrschung als nationale Tugend achtet und in dem es die Redewendung „einen kühlen Kopf bewahren gibt, „warmes Herz bewahren“ aber nicht. Sogar auf diejenigen von uns, die wir eine automatische Aversion gegen nationale Selbstverherrlichung, Flaggen, große Worte und die Freuden und Trauereuphorie großer Menschenmengen haben, macht es einen bleibenden Eindruck, wenn Menschen zeigen, dass das Gedankengut und die idealistischen Werte der Gesellschaft, die wir geerbt und schließlich für selbstverständlich erachtet haben, tatsächlich von Bedeutung sind.
Ja, es sind bloß symbolische Handlungen, die den einzelnen Menschen nicht viel kosten, aber trotzdem sind diese Handlungen nicht wortlos. Sie sagen, dass wir nicht bereit sind, uns unsere Sicherheit und unser Vertrauen von jemandem nehmen zu lassen. Dass wir uns weigern, diesen Kampf gegen die Angst zu verlieren. Der Wille ist da...“
„..Also – auch wenn es keinen Weg zurück gibt zu der totalen, bewusstlosen und naiven Furchtlosigkeit der Unbetroffenheit: Es gibt einen Weg nach vorn. Man kann mutig sein. Weitermachen wie bisher. Die andere Wange hinhalten und fragen: „War das alles, mehr hast du nicht zu bieten?“ Und nicht zulassen, dass die Angst die Prämissen dafür setzt, wie unsere Gesellschaft sich weiterentwickelt.“
Henning Mankel
„...Die Konsequenz aus der Tragödie kann nur ein verstärkter gesellschaftlicher Dialog sein. Die Gesprächsbereitschaft der Demokraten darf nicht nachlassen – weder gegenüber den Muslimen noch gegenüber den rechten Nationalisten. Ich höre, dass in Deutschland immer wieder mal ein Verbot der NPD gefordert wird. Das ist der falsche Weg, die Partei kann unter neuem Namen in neuer Form wieder auftreten oder im Untergrund weiterwirken. Genauso verkehrt wäre es jetzt nach Breiviks Massenmord, die Diskussion mit den skandinavischen Rechtsparteien abzubrechen, weil der Täter eine bedenkliche Menge von Ideen, Meinungen und Haltungen mit ihnen teilt. In der Debatte liegt Bewegung, im Ausschluss nur Erstarrung. Reden, reden und zuhören – Diskurs als Mittel der Lösungsfindung. Das ist unser Erbe der Aufklärung. „
Eric Fosnes Hansen
„...Anstand und Maß und Respekt für Motive und Ansichten des Andersdenkenden sind Voraussetzung für alle demokratischen Gesellschaftssysteme. Die Ereignisse in Norwegen gemahnen uns an etwas, das wir nicht noch einmal erleben möchten. Militärkräfte in Kampfausrüstung in Olso, diesen Anblick erleben wir als Niederlage, weil sie einfach nicht zu uns und unserer Idee einer Gesellschaft passen.
Als ich sah, wie die 200 000 die Rosen gen Himmel reckten, dachte ich: Es wird gelingen. Wenn sich wildfremde Menschen um den Hals fallen, denke ich an die Worte des Dichters Nordahl Grieg von 1940: „Wir sind so wenige in unserem Lande. Jeder Tote ist Bruder und Freund.“ Vielleicht ist gerade das die Stärke eines kleinen Landes. Die kurze Entfernung von Mensch zu Mensch. Aber war die Entfernung kurz zu genug zu ihm? Er hat auf Armeslänge von uns gelebt. Und ich frage mich: Gibt es noch andere?
Ich weiß es nicht. Ich mache mir Sorgen, ich hoffe. Aber heute weine ich um dich, meine kleine Stadt, um dich mein geliebtes keines, ein wenig langweiliges Land.“
Reden und zuhören, drauf schauen und nicht wegsehen, aufstehen und nicht wegducken, machen und nicht labern, Augen auf – immer und überall, nur so können wir etwas ändern. Nur: Wir sind noch viel zu wenige, können manchmal nicht anders und stehen uns selbst im Weg.
Hotel Somalia (Ein Bericht über das menschenunwürdige Nicht-Leben in Ostafrika)
„Deka erreichte das Lager zu Fuß, die letzen Tage schleppte sie sich auf allen vieren voran. Sie kam vor vier Monaten als Vollwaise. Seit Monaten bemühten sich kenianische Helferinnen, ihr beizubringen, sich nicht nur als Opfer zu sehen, sondern als Mutter, die lernen muss, ihr Kind zu lieben, das in ihrem kugelrunden Bauch heranwächst. Sie sitzt im geschützten Innenhof einer Hilfsorganisation für Kinder, die unbegleitet und schutzlos die Grendze nach Kenia überquert haben. Sie trägt einen weiten Umhang, erstarrt bei der Erinnerung an jene Nacht auf ihrer Flucht, lässt stumm und regungslos die Fliegen über ihr Gesicht krabbeln. Es waren Soldaten oder Milizen der Schabab oder der marodierende Verbrecherbanden. Deka weiß es nicht genau, es war stockdunkel. „Es waren sechs Männer“, sagt sie. „Sie trugen Waffen.“ Dekas Vergewaltigung dauerte die halbe Nacht, die Männer wechselten sich ab, sie schlugen und beschimpften das Mädchen, brüllten: „Lauf weg, wenn du dich traust!“ Nachdem sie abgelassen hatten von ihr, blieb sie nackt liegen am Straßenrand. Dann machte sie sich wieder auf den Weg zu einer Tante, die schon in Dadaab lebte. Als ihre Regel auch im vierten Monat ausblieb, brachte die sie in die Krankenstation des Lagers. Der Moment, als der Arzt sagte, dass sie schwanger sei, war der schlimmste ihres Lebens, sagt Deka. Schlimmer noch als die Nacht im Straßenrand. Von der Tante wurde sie verstoßen, sie warf sie aus der Hütte. In wenigen Tagen, wenn in Mogadischu die ersten Verhungernden mit Erdnusspaste gerettet worden sind, wenn sich die Welt wieder der Eurokrise und Amerikas Schilden zugewandet hat, wird Deka ihr Kind zur Welt bringen. Ihren Bastard, einen ausgestoßenen Balg im Lager der Ausgestoßenen. Sie hofft, dass eine Tochter wird, sie wird sie Ian nennen. Sie sagt, das sei ein alter somalischer Name, sie möge seinen Klang.“
In der ZEIT:
Kein Mitleid mehr! – Vorsorge ist unspektakulär, sie liefert keine Bilder für große Gefühle
Es ist auch deutlich preiswerter. Wir steuern auf eine Ära zu, in der Klimawandel, Bevölkerungszuwachs, Urbanisierung, Nahrungsmittelknappheit und bewaffnete Konflikte uns vielleicht nicht immer mehr, aber immer komplexere Krisen bescheren werden. Das ist kein Grund für Ohnmachtsgefühle, das ist eine Aufforderung zu kluger, effizienter Politik. Bauern in Kenia Anbaumethoden zu zeigen, die weniger vom Regen abhängig sind, ist um Hundertfaches billiger, als sie nach der Dürre jahrelang mit Notrationen zu versorgen. Das Vieh somalischer Nomaden rechtzeitig in Sicherheit zu bringen ist hundert Mal billiger, als jetzt deren halb verhungerte Kinder vor dem Tod zu bewahren. Genau darin liegt ein teuflisches Detail unser „Heftpflasterpolitik“: Für Prävention gibt es kaum Geld. Denn sie ist unspektakulär, bietet keine Bühne für dramatische Rettungsaktionen, keine Bilder für große Gefühle – und damit im globalen Wettbewerb der Helfer kaum Gelegenheit, sich zu profilieren. Auch aus diesem Grund ist die Hilfe für Ostafrika zu spät gekommen. Nichts an diesen Einsichten ist neu oder revolutionär. Es braucht keine Revolution, um eine Politik des Mitleids durch eine Politik der Verantwortung zu ersetzten. Es braucht allein den politischen Willen von Regierungen, auch der unseren. Und den politischen Druck der Öffentlichkeit. Auch der unseren."
Während ich diese Zeilen in die Tastatur tippe und an Deka, Ian und diesen unmenschlichen Wahnsinn denke, unsicher bin, ob mein Mitleid richtig ist, ziehen wieder die ersten betäubten Schreihälse unter meinem Fenster vorbei, stehen tausend betäubte Schreihälse in Stadien dieser Republik und wissen nicht, was es bedeutet, überhaupt so freimütig schreien zu können und zu dürfen.
Wie gesagt, manchmal wünsche ich mir, auch wieder einer dieser Schreihälse sein zu können. Aber das ist endgültig vorbei. Für immer.
In der ZEIT:
DIE ZEIT DER LESER
Daniel ist tot
Daniel ist tot. Daniel der Sohn unserer ältesten Freunde, der „große Bruder“ unserer Töchter – vor zwei Monaten ist er im Himalaya in einer Gletscherspalte verschwunden, mit 35 Jahren. Mitten im Leben ist er in den Tod gestürzt.
In gewisser, absurden Weise war sein Tod wie sein Leben: stürmisch, geradeaus. Seine Familie, seine vielen Freunde und uns lässt er fassungslos zurück. Hier stehen wir, jeder vor seiner eigenen Gletscherspalte aus Verzweiflung, Schmerz und Wut.
Daniel ist tot. Die Wucht dieser Tatsache bringt das Leben derer, die ihm nah waren, völlig aus dem Gleichgewicht: Daniel – mein Freund, mein Bruder, mein Klettergefährte, ein Geliebter, mein einziges Kind. Wie sollen wir jetzt übrig bleiben – als Freund, als Schwester, als Mutter, Vater, als Geliebte?
Nichts ist mehr in Ordnung. Das Leben geht weiter, schwankend zwischen absolut belanglos und absolut unerträglich. Allem, was wir tun, alles was wir erleben, ist Daniels Tod beigemischt. Wir müssen den Schmerz immer aufs Neue bewältigen. Und gleichzeitig, während all dies stattfindet, geschieht etwas Seltsames, etwas noch kaum Sichtbares: Aus Daniels radikaler Abwesenheit entsteht irgendwas Neues, kommt etwas Neues ins Leben –hier, da, dort.
Was mein Leben bereichert
Leserin 1:
Wenn ich am Morgen früh raus muss und vom Schlafzimmer die Treppe runterhuschen will, formt mein Freund mit seiner Hand einen Nasenbär, dessen Schatten vom Bett auf den Boden springt, um mich zu verabschieden. So fängt der Tag einfach toll an. Und ich frage mich, ob der Besitzer dieses einfühlsamen Tieres in Erwägung ziehen würde, mich zu heiraten.
Leser 2:
Meine amerikanische Brieffreundin lernte ihren Edward im Internet kennen. Jetzt hat sie ihn geheiratet –eine Woche nach ihrem 90. Geburtstag. Es sei ihre letzte Chance gewesen, schrieb sie mir.
Leserin 3:
Abends die Praxistür hinter mir ins Schloss fallen hören, den Kopf noch voll von Geschichten über Krankheit und Leid. Tief einzuatmen und zu spüren, welche Gnade ist, gesund zu sein.
Ich: Ein Wettkampf, der über eine SMS ausgetragen wird, und darin besteht, wer wen mehr liebt.
Eine Studentin auf die Frage nach dem Sinn des Lebens
„Werte sind –heiten –keiten: Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit. Werte sind abstrakt. Ich will trotzdem versuchen, konkret zu werden.
Ich schätze es, wenn andere offen sagen, was sie stört. Ich nenne es Ehrlichkeit. Ich schätze es, wenn Menschen mit Macht diese nicht missbrauchen. Das ist meine Gerechtigkeit. Toleranz ist auch noch so ein Wert. Kein Denken in kleinen und zu engen Schubladen. Offen sein und es bleiben. Das ist schwierig. Aber ich versuche es. Auch Freiheit ist mir wichtig. Frei sein von Ideologien zum Beispiel. Das alles sind Koordinaten meines Lebens. Jetzt fragen Sie auch nach dem Sinn desselben. Ich glaube, der Sinn ist, dass ich lebe. Dass ich auf der Welt bin. Und dass ich versuchen soll, das Beste daraus zu machen. Jeden Tag.“
Absolut einverstanden, nur eine kleine Ergänzung des Blogschreibers:
...und nicht nur immer für mich da bin, sondern ganz besonders für andere. Das ist Sinn, das macht Sinn. Leider braucht man dafür Zeit und Kraft, die man nicht grenzenlos zur Verfügung hat.