Tag 79, Freitag, 05.08.2011 (Tag 10 - Aplasie - Chemo-Zyklus 4)
Manchmal ist das mir alles zu viel Gedöns hier im Haus 46. Da möchte ich am liebsten wieder nach Eußerthal. Eine tiefe Sehnsucht nach Ruhe und Natur überkommt mich dann. Natur pur! Aber gestern wurde mir bewusst, dass ich mich auch glücklich schätzen kann, hier zu wohnen. Wir haben uns hier gut zusammen gefunden, respektieren uns und profitieren voneinander. Wir drei sind so unterschiedlich, und doch harmoniert es auf eine gewisse Weise recht gut.
Sterben werde ich hier hoffentlich nicht. Das wäre ein schlimmer Gedanke. Wohnen am Waldrand mit einem Bach und Garten vor der Türe, das wäre schön. Ruhe genießen, zu zweit - das wäre noch schöner. Das ist das Ziel.
Nochmal Blutwerte geprüft. Immer noch schlecht. So schlecht, dass ich das Frühstück mit meinem väterlichen Freund aus Old Hagenbach absagen musste. Wieder eine Absage. Langsam nervt’s. Na ja, noch zwei Zyklen, dann rücke ich allen renovierwütigen Hagenbacher jeden verdammten Tag auf die Pelle und stopfe mich mit Omas Dampfnudeln voll.
Blutabnahme war eine Sache von fünf Minuten. Ich will mich dort nicht länger als nötig aufhalten. Hab mir die Daumen gedrückt, dass ich Olivia nicht begegne. Was dann auch so war. Freu mich schon auf die Genugtuung, wenn ich bekannt gebe, dass ich nicht Erwägung ziehe, meine Therapie in Landau fortzuführen. Ich glaube, ich werde Mrs. Popeye ein paar Takte verklickern, wenn ich überhaupt dazu komme.
Mein gesundheitlicher Zustand wechselt von Stunde zu Stunde. Kommt vor, dass ich mich gut fühle, ist aber nur kurzfristig und ich bin total down. Plötzlich sehe ich dann nix mehr oder krieg einen unangenehmen Zitteranfall. Meine Hände zittern oft. Ich muss mich am Tag geschätzte 1000 Mal nach etwas bücken, weil ich was fallen gelassen habe. Mittlerweile passiert es mir, dass ich das Ding, das ich gerade in meinen Händen halte, angucke und denke: Gell, ich lass dich gleich fallen? Hmmmm, ja...so is es. Das machen alle die Begleitmedikamente. Ich habe echt keine Lust mehr auf den Scheiß, das kann ich euch sagen. Es gibt wirklich Hammererkrankungen. Alzheimer z.B. Schlimmer geht’s immer, sag ich da nur. Ich will nicht jammern, kann ja echt noch viel machen. Ich denke, die schlimmsten Krankheiten sind doch die, bei denen man bei vollem Bewusstsein eine Art physische und psychische Wesensveränderung durchmacht. Ich schaue in den Spiegel und find mich eigentlich nur noch zum Kotzen. Ich pflege mich sehr, mache Sachen, die mir gut tun. Aber all das kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich mich jeden Tag immer abstoßender finde. Wenn ich auf meine Seite gehe und die vielen Bilder vor Augen habe, worauf ich hin und wieder ganz flott aussehe, dann ist das, als wäre ich auf der Seite meines Onkels gelandet.
Ich bleibe nun auf jeden Fall über das Wochenende hier. Ich schaffe es einfach nicht in das Land der Roten Beete zu reisen. Muss da jetzt durch. Das "da" ist die Nußdorfer Weinkerwe.
Krebs macht sensibel. Hat vor eurer Bude mal schon ein Flammkuchenstand seinen Ofen eingeheizt? Meine ganze Wohnung hat wie in einer Räucherkammer gestunken. Das geht nicht. Kann viel ab, aber das ist zu viel.
Hab soeben mein Anliegen vorgetragen: Bitte zieht um, sonst überlebe ich das nicht, im wahrsten Sinne des Wortes. War ganz brav und freundlich. Meine Erfahrung ist mittlerweile, dass man bestimmend, aber nett sein muss, um seine Ziele zu erreichen. Rumschreierei ist meistens völlig fehl am Platze. Tja, der Flammkuchenman reagierte leider anders. War ziemlich geschockt, lief dunkel-rot an und meinte das ginge jetzt aber mal gar nicht. Ich grinste, blieb standhaft, entschuldigte mich für den aufkommenden Ärger, aber der Wagen müsse leider weg, ich hätte nicht vor, Forellen in meinem Schlafzimmer zu räuchern. Nußdorfer Kervevereinsfuzzi maschierte schwitzend auf und war noch roter im Gesicht als der Flammkuchenstinker. Heute ginge auf gar keinen Fall nix mehr. Darauf forderte ich Flammenkuchen für alle. Was uns auch später gewährt wurde. Ob das qualmende Ofenrohr morgen vor meinem Schlafzimmer verschwunden ist – man darf gespannt sein. Überlege den Flammkuchenmacher auf Schmerzensgeld zu verklagen und so richtig mal den Querulanten raushängen zu lassen, schließlich drohen die Dorfväter uns auch immer mit Knast, weil wir unser Unkraut vor dem Haus nicht rupfen. Vor ein paar Tagen kam sogar ein Streifenwagen und kontrollierte uns, die Unkrautrauszupfverweigerer. Andere Proleme gibt's nicht, oder? Ostafrika im Arsch, Amerika im Arsch, Dax im Arsch, Norweger im Arsch, Amy Winhouse im Arsch, aber wir müssen Unkraut jeten, sonst wandern wir hinter schwedischen Gardinen.
Nüchtern im Bett zu liegen und uns das Gegröle und Gesinge von vollgesoffenen Jugendlichen und Ehemännern antun zu müssen, ist jetzt nicht das, was ich unbedingt unter ein gemütliches Wochenende verstehe. Die Welt ist furchtbar schräg. Schräg, was sag ich da, sie ist total bekloppt. Das muss wohl so sein. So wie es Regen und Sonne gibt, so gibt es eben vollgesoffene Straßenmusikanten und nach Luft japsende Lymphompatienten. Mit dieser Gewissheit muss man eben klar kommen.
Freue mich auf Prinzessin Uteb. Mein lichter Moment in meinem tristen Kerwedasein.