Tag 77, Mittwoch, 03.08. 2011
(Tag 8 - Chemo-Zyklus 4 - Abschluss)
Ein guter Start in den Tag heute. Fühle mich erstaunlich vital. Denke, dass liegt noch an dem frischen Blut, das ich erhalten habe. Aller Werte sind gut. Schon seltsam, wie man sich jetzt auf einer ganz besonderen Weise wahrnimmt. Ständig stellt man seine Körperfunktionen auf den Prüfstand. Fragt sich selbst am laufenden Band: Wie geht’s dir? Ja, ganz gut! Na ja, so la la! Super duper! Ich glaub, morgen lass ich den Pfarrer kommen! Und davor: Is mir doch egal, wie es mir geht, blöder Heini! Werde schon nicht gleich abnippeln. Wie sich alles plötzlich so schnell ändern kann. Die Sichtweisen, die Einstellung, die Prioritäten. Das Wertesystem spielt verrückt, im Gleichklang mit dem eigenen Blut. Ist das jetzt gut? Ja, definitiv ja, eine aufregende, spannende Zeit, die ich da durchmache. Natürlich könnte ich auf vieles verzichten. Eine ganze Latte könnte ich da aufzählen, die gelinde gesagt unangenehm sind. Wie ein Eiterpickel. Tötet einen nicht, lebt man mit, aber tut sack weh, deprimiert. Von solchen Eiterpickeln habe ich am Tag dutzende. Und doch: Noch nie hatte ich so viel Zeit, mich mit mir und mit anderen zu beschäftigen - nach dem Ich zu fahnden, nach dem tatsächlichen Sinn des Lebens, wie Rossi auf der Suche nach dem Glück. Wer hat schon dieses Privileg? Es kann einen aber auch in höchstem Maße überfordern, dieses ständige sich selbst Suchen, diese viele Zeit, ohne irgendwelche Verpflichtungen wahrnehmen zu müssen. Wer viel arbeitet, hat auch keine Zeit für Tränen. Dieser Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Trotz allem, so intensiv, so bewusst habe ich die Welt um mich rum noch nie wahrgenommen. Jeder Augenblick, jede Begegnung, jedes Lächeln, jeder Gedanke ist plötzlich etwas Großartiges, Einzigartiges. Ich müsste mich dafür eigentlich ohrfeigen für diese Frage: Was mache ich bloß, wenn der medizinische Heilungsprozess abgeschlossen ist? Fall ich da womöglich in ein Loch, wie es oft nach stressigen bestandenen Prüfungen gewesen ist? Was ist, wenn diese kostbare Zeit wieder verschwunden ist, wenn der Alltag einen von Neuem erschlägt, das Hamsterrad sich abermals beginnt zu drehen. Ist man nach dem Erlebten tatsächlich in der Lage, es auch anzuhalten? Immer Krebs zu haben, aber uralt zu werden, das wäre ein extrem cooler Zustand.
Um diesem Chemotag gleich mal den Wind aus den Segeln zu nehmen, greife ich eine Bemerkung von gestern auf, die Rubrik „Was mein Leben reicher macht“ aus der ZEIT, in die ZEIT der Leser. Hier schildern Leute Alltagserlebnisse, die sie ein Stück glücklicher werden lassen.
Leserin 1:
Heute Morgen, in der Dorfbäckerei, fragt mich ein Mann, offenbar wegen meiner „naturkostigen“ Kleidung: Kennen Sie Rudolf Steiner?“ Ich bejahe. Da wird aus dem schnautzbärtigen Vertretertyp in Sekundenschnelle ein Bub mit strahlenden Augen: „Ich war Waldorf-Schüler!“ Und er hebt an, aus dem Prolog im Himmel zu deklamieren: „ Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang...“ Als ich einstimme, schüttelt die Verkäuferin belustigt den Kopf. Und meint Tag ist dank der gemeinsamen Liebe zur Literatur gerettet!
Leserin 2:
Es klingelt. An der Haustür steht die Nachbarstochter. In der einen Hand einen Blumenstrauß aus dem Garten, in der anderen einen leeren Becher: „Wollen wir tauschen?“, fragt sie. „ Sie bekommen Blumen, ich einen Becher Zucker.“ Zufrieden zieht sie mit dem Zucker ab, und ich stelle die Blumen in die Vase.
Leser 3:
Ein paar geschenkte Tage auf meiner Lieblingsinsel Spiekeroog. Alle Wege sind mir vertraut und erschließen sich mir doch immer wieder neu. Der weite Horizont und das tiefe Glück darüber, selbst Teil des großen Ganzen zu sein.
Leser 4:
Zusammen mit meiner Freundin unsere gemeinsame Höhenangst zu besiegen und uns auf 204 Meter Höhe auf dem Berliner Fernsehturm zu verloben.
Leserin 5:
Ich laufe durch den Park und sehe einen Mann, der einen großen alten Baum umarmt, ganz fest. Nach einer langen, langen Weile löst er sich wiederwillig und klopft zum Abschied zärtlich auf den Stamm, wie man einem alten Freund auf die Schulter klopft.
Leser 6:
Dass ich elf Monate nach dem Tod meiner geliebten Frau, mit der ich 27 Jahre glücklich war, wieder lachen, Arm in Arm spazieren gehen und gute Gespräche führen kann. Und sogar Liebesbriefe schreiben. Danke Christina!
Ich:
Nach dem Gespräch mit der diensthabenden Ärztin von der Tagesklinik in Heidelberg habe ich beschlossen, mit Zyklus 5 und 6 in Landau fortzufahren. Die Ärztin stornierte alle weiteren Termine und gab die Nachricht an die Krankenschwestern an der Rezeption weiter. Nach der Infusion verabschiedete ich mich traurig, wissend, dass dies vielleicht meine letzte Chemo-Fahrt nach Heidelberg gewesen ist. Ich gab bekannt, dass ich aber nochmal nächste Woche kommen würde, um mich in aller Ausführlichkeit zu verabschieden (mit Blumen und Trinkgeld – das habe ich aber natürlich verschwiegen). Schwester Drachenzahn, die im Laufe der Zeit zu meiner Lieblingskrankenschwester mutierte, sagte: „Das geht nicht Herr Schnur, da habe ich Urlaub.“ „Dann komme ich eben übernächste Woche, grinste ich.“ Sie holte die Bäcker-Säge raus und rief: „Yeeeeeessss!!!“
Man sollte es kaum glauben. Dieser große schwere Apparat. Diese Mammut-Klinik. Dieser Klotz. Ist man da als Patient wirklich gut aufgehoben? Im Kopf ist doch, dass nur das Kleine, Überschauliche einem das Gefühl von Geborgenheit liefert. Ich habe mich bei meinen Weißkittel von der Tagesklinik sehr geborgen gefühlt. Die Mädels, agieren dort alle sehr Menschen zugewandt. Das scheint sowieso in Heidelberg eine absolut festgeschriebene Maxime zu sein.
Heute war Taxidriver Marc O. an der Reihe. Pünktlich wie es für einen strukturierten Mathe-Pauker und Stundenplan-Macher gehört, kurvte er mich zielorientiert, aber relaxt nach HD. Von allen Fahrern ist Marc O. der entspannteste. Kein Fluchen, keine Beschimpfungen, keine quietschende Reifen. Man fühlt sich wie in einer Peking-Kutsche, die die Touristen durch die City gondeln. Da wir schon frühzeitig unterwegs waren, hatten wir auch keine Probleme mit einem Stau. Um 08.10 Uhr schlurfte ich vor die Verglasung der Tagesklinik. Marc O. bekam meine Tageszeitung und wurde in der Cafete geparkt. Ich machte ihm Hoffnung, dass es heute nicht so lange dauern würde, da wir ja früh da seien. Die Hoffnung wurde nicht bestätigt. Sorry, mein lieber Marc O.
Die bereits oben erwähnte Ärztin holte mich auch schnell ab. Alles im grünen Bereich. War zufrieden mit mir. Ich besprach dann mit ihr die weitere Vorgehensweise: Landau oder Heidelberg? Hoffte auf mögliche Erfahrungswerte ihrerseits. Leider war sie sich genauso unschlüssig wie meine Leibärztin Frau Dr. M. Auch sie geht noch von weiteren zwei Zyklen aus. Da komm ich wahrscheinlich nicht drum rum. Auch sie hält es für unbedingt erforderlich, auf Nummer sicher zu gehen. Sie sieht auch keine Schiwierigkeiten darin, dass ich nun ins Auge fasse, das Prozedere zu wechseln. In wenigen Sekunden stand für mich somit fest, dass ich mir die restliche Chemo in der Praxis Huntenburg in LD in den Port pumpen lassen werde.
Leider war die Hütte voll als ich von der Ärztin kam. Ich musste noch eine ganze Weile warten bis ich endlich dran war. Und das auch nur mit ein wenig Druck meinerseits. In den 77 Tagen meiner Therapie ist meine Erfahrung, dass einen freundliches dominantes Auftreten innerhalb des medizinischen Sytems stets weiterbringt. Oft wurde ich durchgewunken, wenn ich erst selbst gewunken habe. Ich wäre sonst häufig schlicht weg vergessen worden.
Endlich am Tropf ging es dann ratz fatz. Zwei mal blubb blubb, der Drops war gelutscht.
Mit Marc O. schöne Nach-Chemo-Stunden verbracht. Zuerst im Ford (Kann man schöne Stunden in einem Ford verbringen?) Und dann mal wieder im Cafe im Markt. Meine Therapie hat bis jetzt 24 000 Euro gekostet. Aber genauso viel Kohle habe ich die letzten Monate auch in diesem kleinen schnuckiligen Cafe liegen lassen, so scheint mir. Beim Knabbern an unseren Frühstücksbrötchen haben wir festgestellt, dass wir uns beide kommunikativ sehr ähnlich sind. Langweile kommt da so gut wie nie auf. Und wir haben Gesprächsstoff bis am Ende unserer Tage: Lehrerkollegen, Naturerlebnisse, Ostbräute, Ex-Freundinnen und wichtige Weinbaugebiete. Wir haben ausgemacht, dass wir nach meiner Heilung einen 4000er in den Alpen wandernd erklimmen wollen. Ich kann eigentlich nach dem Gesundwerden gar nicht mehr in die Schule, habe für Unterricht keine Zeit mehr: wandle nämlich mit Anni-Blondi auf den Pfaden von Herr der Ringe in Neuseeland, mache mich mit Prinzessin Uteb und unseren Motorrädern auf den Weg ins Himayala-Gebirge, bin mit Sister Barca in der Party-Szene von New York unterwegs, nuckle mit Rittterkumpel Larry Reinheimerich am Srtand von Acapulco 1-Liter-Cocktails und verdiene mit Roy Trager zusammen in Straßen von Berlin das nötige Kleingeld für diese ganzen Reisen.
Die Chemo hat mich erledigt. Ritter Schnuribold ist erheblich rampuniert. Heute Morgen noch rumgehüpft wie ein Waldfrosch, jetzt liege ich im Bett wie gegrillte Froschschenkel. Das ist das Stadium zwischen Leben und Tod. Ich sehe permanente Lichtkegel und Sternschnuppen. Mir ist plötzlich heiß, als wäre ich in der Sahara unterwegs. Ein Massochist hält den Sauerstoffsschlauch zugedrückt und macht sich ein Spaß daraus, mich beim Japsen zu beobachten. Ich sehe furchtbar aus, wahrscheinlich auch im Mund. Ich bin zerstört, kann nicht schlafen und bin trotzdem zu erschöpft, um nur den Hörer von der Gabel zu nehmen. Tue es dann doch, weil ich das Gefühl haben möchte, nicht allein zu sein. Quäle mich, stark zu klingen, stark wie Ritter Schnuribold. Bin eher der piepende Narr, der den Kelch mit dem Elch verschüttet. Zyklus 4. Jetzt gilt's. Alles andere war bis jetzt warm laufen.