Tag 76, Dienstag 02.08.2011 (Tag 7 - Chemo-Zyklus 4)

Gut ist: Dass ich meine Notizen habe und ich immer nachlesen kann, was ich so tagtäglich erlebe bzw. was mir so aufgefallen ist. Sonst habe ich ja alles vergessen, wenn ich erst nach Tagen wieder an das Schreiben des Blogs komme.

Schlecht ist: Das ich mein Gekritzel leider nicht entziffern kann. Ich habe eigentlich eine anständige Schrift für einen Mann, zwar nicht so schön wie unser aller geliebter Kirgisi-Schorschi, aber doch ganz passabel. Nun, durch die ganzen Medikamenten wohl versursacht, wirkt sie jetzt, als ob ne Schildkröte mit Parkinson oder ein Arzt auf Decortin ein Rezept ausgestellt hat.

Ein paar Wortfetzen erkenne ich...

Da steht: Schön...Kreuz...lang, nein...Kreuzgang...ah, ja, Kreuzgang.

 

Ich war heute in Landau unterwegs. Ritter Schnuri total chillig und groovig schlendert lässig mit seiner tonnenschweren Rüstung durch die Straßen von San Land Au. Neue Geldbörse gekauft. Das Krankenhaustagegeld muss Gewinn bringend angelegt werden. Normalerweise habe ich mir so 15 Euro-Dinger geholt. Die sind dann nach wenigen Monaten immer völlig ausgerissen und verschrabbelt. 42, verliebt, Schwabe, Wessi, Lehrer, da hat man halt ein paar Karten und die stopft man natürlich so blöd und angeberisch wie man ist, alle in dieses viel zu kleines Leder-Imitat hinein. Fluchend, weil einem die Karten ständig aus den davor vorgesehenen Fächern rutschen und man bei der Zahlung stets für einen Lacher sorgt, da man immer zuerst seine 5 Bankkarten vom Boden aufklauben muss, versucht man sich noch über ein paar Wochen zu retten, bevor man wieder 15 Euro in Scheinen zückt, denn man traut sich niemals mehr mit einer EC-Karte zu zahlen. (Was für ein geiler Satz! Wenn mir so ein Satz in der Vergangenheit vor die Lehrer-Nase kam, schlug ich dem Schüler, der das verbrochen hatte, in der Regel die Syntax um beide Ohren.) Aber ich lasse ihn stehen. Dieser Satz gehört zu mir, wie der Krebs an meiner Tür. Ich werde nach der Heilung milder mit Satzbau-Verbrechern umgehen, versprochen!

Auf jeden Fall, zurück zur Geldbörse-Kauf-Geschichte, wollte ich nicht mehr Bankkarten vom Ladenboden aufsammeln und habe wieder diesen wunderbaren kultigen Landauer Taschenladen aufgesucht. Bin da schon fast gern gesehener Stammkunde. Okay, gern gesehen wird seit heute gestrichen. Früher. Ja früher wäre ich an den Geldbörsen-Verkaufsstand gelatscht, hätte einen, maximal zwei Lederdinger in die Hand genommen und hätte mich in 15, 4 Sekunden entschieden. Heute. Ja heute, da dreht Ritter Schnuri komplett am Käufer-Rad. Ihr müsst euch jetzt vorstellen, dass da ca. 100 bis 150 verschiedene Geld-Brief-Schein-Börsen lagen und ich sie alle, ich betone, ALLE, einem Test unterzog, wie bei der Neueinführung eines Formel-1-Rennwagens. Alle fünf Minuten kamen die Verkäuferinnen und wollten mich beraten. Irgendwie konnten die den Anblick eines körperlich und geistig behinderten Menschen in ihrer hippen Taschen-Boutique nicht ertragen. Ich hab sogar mein ganzes Zeug aus der alten Börse in die zukünftig neue umgegramt. Bin innerlich eine Kaufsituation durchgegangen und habe haptisch geprüft, ob die Geld-Brief-Schein-Karten-Leder-Tasche dafür tauglich sein könnte. Roch an ihnen, biss hinein und leckte mit der Zunge darüber. Wie man halt das so macht als Tester. Bei diesem Umzug ließ ich natürlich tatsächlich auch wieder regelmäßig alle Utensilien auf den verkeimten Teppichboden fallen und verbrachte die halbe Zeit damit zu, meinen Führerschein und Ausweis unter den Regalen zu suchen. Nach meinem 5. „Ich komm schon zurecht“, als wieder einmal mal eine Verkäuferin über mir schwebte und in mitleidig pflegerischem Ton fragte, ob sie mir irgendwie „helfen“ könne, vernahm ich nach meiner Abweisung sowas wie „Sind sie sich da auch wirklich sicher?“. Frechheit! Die können froh sein, dass ich nicht noch Touret habe und „Blöde, Verkäufer-Dumm-Sau“ in die Räumlichkeiten brülle.

Meine Auswahl fiel na ca. 1 Stunde auf zwei Prachtstücke der Geldbörsen-Macherkunst.

 

Objekt 1:

 

Ein elegant konzipiertes zart-flaches Lederetui. Raffiniert in der Nahtverarbeitung, intelligent in der Umsetzung von Kapazität und Banalität. Style und Esprit funkeln dich durch alle Lederporen an. Ein sogenanntes Muss-ich-unbedingt-haben-Stück. Man klappt es auf und elegant wie von Zauberhand entfalten sich schätzungsweise 25 Fächer für Kredit-Rabatt-Bonus-Visiten-Karten.

Nachteil: Viel zu breit, um es schnell mal in die Hosentasche zu verfrachten. Dieses Brieftaschen-Wunder hebt zwar tausend Jahre, aber meine Hosen dafür nur 1 Woche. Noch notiert: Münzgeldfach zu klein.

 

Objekt 2:

 

Die klassische Variante mit einem Spritzer Modernität. Vision und Tradition wurden hier mit der Erfahrung von vielen hundert Gedlbörsenmacherjahren umgesetzt. Praktikabilität und Stil halten sich permanent die Waage. Nicht so viel, nicht zu wenig, nicht zu dick, nicht zu dünn, nicht zu glatt und nicht zu rau, nicht zu teuer, nicht zu billig.

Nachteil. Keiner, der wirklich einer ist. Der Aufdruck sieht ein bisschen opamäßig aus. Aber da ich einen Opel-Meriva fahre, passt das auch wieder.

 

Da lagen sie nun. Objekt eins und Objekt zwei. Gafften mich mit ihren süßen Lederaugen an, nervös. irritierend, hoffnungsfroh, bettelnd: Kauf mich endlich, du krebskranker Schwuchtel, aber finger mich um Gottes Willen nicht mehr an! Instinktiv wusste ich natürlich sofort welches Objekt ich kaufen würde. Das 15-Euro-Ding bei Amazon. Nein, Scherz! So einfach mache ich es mir jetzt nicht mehr. Ich wusste es, aber ich konnte mich so ca. eine halbe Stunde trotzdem nicht zu diesem Wissen durchringen. Bin sogar zweimal mit einem der beiden Objekte an die Kasse, um meinen Mut sogleich wieder zu verlieren. Ich spüre eure Spannung. Zu was entscheidet er sich? Wer hilft ihm bei der Entscheidung? Das ist ja alles ganz nett zu lesen hier, aber ENTSCHEIDE DICH ENDLICH, DU PRIMAT! Und wieder half mir mein alter ego Ritter Schnuribold aus der Käufer-Patsche. Ich machte die Augen zu, zog die Rüstung an, hauchte mir selbst das Leben eines mutigen absolut entscheidungsfreudigen Rittersmann ein und okkupierte...Objekt 2.

Grund: Will ja vielleicht nach Afrika, in die weite Welt oder ins Kloster und da werden mir so viele Kreditkarten sowieso nur geklaut.

 

Abschließend noch eine produktimmanente Kosten-Nutzen-Rechnung, um mir meinen Kauf vor mir selbst zu rechtfertigen.

 

Früher: 15 Euro für ca. 6 Monate.

Heute: 45 Euro für mindestens 18 Monate.

 

Sollte ich also vor den 18 Monaten Objekt 1 wieder ruiniert haben. Dann gehe ich nochmal in den Laden, aber diesmal mit Touret-Syndrom.

 

 

Wenn ich so Zeit habe, die Seele mal so richtig baumeln zu lassen, vielleicht sogar muss, weil ich gerade eine ultra aufregenende Verbraucher-Schlacht überlebt habe, dann setze ich mit in den Garten der Augustinerkirche in Land von der Au. Mitten in der Stadt ein Kleinod der Ruhe. Von außen nicht nur annähernd zu vermuten. Ich kaufte mir den Spiegel und schritt durch den Kreuzgang zu meiner Lieblingsbank, weil sie etwas abgelegen und im Schatten hinter einem Rosenbusch liegt. Schön. Herrlich. Dachte ich. Leider wurde meine Meditation etwas gestört. Schräg gegenüber diskutierte ein osteuropäischer Familienclan lautstark Familienprobleme. Omi trinkt zu viel Wodka und soll jetzt in eine Entziehungsklinik. Omi will aber nicht, Omi will lieber weiter den Opa schön saufen. Sie hat ja schließlich schon 75 Wodka-Jahre überlebt. Opa findet das okay, weil er seine Frau ohne Wodka gar nicht zu ertragen weiß, Enkel 1 findet das cool, Enkel 2 abstoßend, Papi denkt, ich habe auch Durst, und Mutti will nicht mehr die Tochter der Wodka-Omi sein und holt eine Premium-Flasche aus der Aldi-Tüte. 3 Generationen, eine Kirche. Hmmmm...warum müssen Menschen immer Probleme haben? So stören? So laut sein? So Besinnungs-los?. Wollte über Rosenbusch, Lavendelsträucher und Zitronenfalter rüber rufen: Halloooo....meine lieben Russen, Polen oder Kirgisen, ich habe Krrrreeeeeeebbbbssss....und bereite mich gerade auf meine Einäscherung vor. Ich hab‘s gelassen, noch ein Abenteuer wäre ein Abenteuer zu viel gewesen. Habe versucht, Stille zu visualisieren. Puuuuh...harte Nuss. Zu harte Nuss. Heute. Tappte an den Russen, Polen oder Kirgisen vorbei und hielt die Luft an.

 

 

Ich trau mich ja gar nicht noch einen drauf zu setzen. Ihr glaubt mir nicht, dass ich das alles erlebe. Ihr denkt, ich zieh mir das alles aus der Nase, lebe meine Chemo-Phantasien aus. I confess: Manches schmücke ich ja ein bissel aus. Muss ja euch bei der berühmten Stange halten. Aber das Grundgerüst der Geschichten steht. Da erfind ich nix. Das erlebe ich alles. Dat gibbet doch allet gar net, geht mir jeden Tag tausendfach durch den Kopf. Und wie dat allet gibt. Ich bin eben zurzeit als 1,88 Meter großer Schwamm unterwegs, der alle Skurrilitäten des Lebens aufsaugt. im ständigen Medikamenten-Nebel, aber trotzdem sind alle Sinne geschärft. Und was ich nach meinem Kreuzgang erlebt habe, hat alles an Sinne angespitzt, die mir zur Verfügung stehen.

Da wollte ich zum Ausklang meines Meditationsbummels noch in aller Ruhe ein alkoholfreies Welde im Mago schlürfen. Warum müssen Menschen Probleme haben, habe ich oben gefragt? Eine noch viel wichtigere philosophische Frage: Warum machen Menschen immer den gleichen Fehler? Mago. Ruhe. Das ist ein klassisches Paradoxon.

Sitze da, schlürfe so vor mich hin, liebe das Cafe, weil es das einzige Cafe ist, wo man nicht nur die Zeit totschlagen, sondern sie auch lesen kann. Während ich die wunderbare Rubrik „Was mein Leben reicher macht“ rezipiere, da schreit es und knallt es von allen Seiten. Man kann nicht genau sagen, welche Geräusche zuerst da waren. Ein 2-jähriges Kind wird vor meinen Augen von einem Halbstarken auf einem BMX-Rad über den Haufen gefahren. An den Tischen stockt uns allen der Atem. Falsch, meine Pumpe explodiert, ich atme wie ein Ertrinkender. Im ersten Moment war ich mir sicher: Der hat das arme Mädchen tot gefahren. Im zweiten Moment, so als erfahrener Papa einer Unfall erprobten Tochter, wusste ich, die überlebt das hier. Platzwunde. Höllengeschrei. Monsterbeule. Aber sie wird es überleben und bestimmt noch 1,3 Kinder bekommen. Vater stürzt heran. Will den Halbstarken töten, schubst ihn aber nur und brüllt: Du Idiot! Der Halbstarke ist nur noch halb so stark und schneeweiß im Gesicht, wie ich bei einem HB von 7,4. Zwei Männer holen sich den Übeltäter, setzen sich an den Tisch der Konkurrenz und verhören den Fast-Kindes-Mörder. Vermute Polizisten in der Freizeit. Meine Tischnachbarn diskutieren darüber, ob man den jetzt nur noch Viertelstarken gleich öffentlich aufknüpfen oder nur lebenslang verpassen sollte. Eine Tochter sagt zu ihrer Mutter: Die Eltern sind schuld, warum lassen sie das Kind auch frei herumlaufen. Ich will mir da kein Urteil erlauben in meinem Zustand. Dafür hat meine Gesundheit gerade etwas zu gelitten. Aber eins will ich sagen. Ich bin nur froh, dass das Kind fünf Minuten später ruhig und entspannt auf Papas Arm an mir vorbei getragen wurde.

Ich schlürfe mein Welde aus und ärger mich darüber, dass da kein Wodka drin ist.

Abends bin ich dann noch zum Essen mit Kamikazen-Anni verabredet.

Bevor los düse, hol ich mich vom Kneipen-Führer Roy einen Tipp ab. Er hat von einem Lokal in Godramstein gehört, dass ganz gut sei. Irgendwie Lutz solle es heißen. Nun ja...notiert.

Als ich den Salon betrat, wurde mir Angst und Bang. Ich will nicht nach Klingenmünster. Nein, das will ich nicht. Ich will  nicht auch noch mehr Pillen schlucken müssen. Ich hasse bunte Pillen. Ich sehe Kamikazen-Anni doppelt. Links, rechts. Nebeneinander. Die klonen Friseurinnen. Die schneiden hier nicht, die klonen, das ist ein geheimes Labor vom FBI: Women in blond. Extraterristische blonde Kampf-Friseurinnen sollen multipliziert und zu Haarretterinen ausgebildet werden. Ich spreche die  Falsche Kamikazen-Anni an und merke das auch, weil ich komische Tätowierungen entdecke. Beobachte die  Zwillinge bei dem Schlussputz und bin stolz meine kleine Anni als souveräne Salonkraft zu erleben. Halt. Die Blumenkübel vor dem Laden müssen noch reingetragen werden, sonst kübelt der Chef morgen in die Blumen und wundert sich, warum da die Blumenkübel nicht mehr stehen.

 

Entscheide mich für die risikoarme Nummer und peile die Burweiler Mühle an. Ruhetag. Weiter. Buschmühle. Ruhetag. Vinothek. Ruhetag. Hilfe meine Nerven. Oh Mann, es ist wahrlich nicht einfach mit so einem Papa. Leichtes Gefühl von Demprimiertheit beschleicht uns. Zurück zu den Blumenkübel? Nein. Das Universum nimmt wieder das Heft in die Hand. Anni-Blondi: Ich hab so nen Kumpel, dem seine Eltern haben ein Lokal in Godramstein, weiß aber nicht wo es is. Ach. Frage nochmal nach, ob sie das auch wirklich jetzt gesagt hat oder ob ich mir das einbilde. Heißt der vielleicht Lutz? Ja, genau! Ach! Ich beschließe, mich einfach in Zukunft über überhaupt nichts mehr zu wundern. 

Tja, Universum sei Dank, kein Ruhetag. Und soooooooo schööön. Absolut empfehlenswert. Der Schuppen heißt einfach Beate Lutz. Der Namen ist schon kult allein. Gemütlich kann man draußen sitzen. Grandioses Essen, super nette Bedienung. Voller Erfolg! Man muss aber bisschen Geld bzw. zwei Geldbörsen dabei haben. 

 

Nicht nur gastronomisch war der Abend ein Higlight, sondern auch in der Papa-Tochter-Beziehung. Komisch. 19 Jahre sind wir jetzt schon verbandelt, aber jetzt lernen wir uns erst richtig kennen. Über knackige Surfer im Urlaub geqatscht, die man sich wie von einem Kirschbaum pflücken konnte. Das beeindruckendste Straßenfest von Basken mit orange-farbenen Halstüchern auf einem der größten Altstadt-Plätze der Welt nochmal aufleben lassen. Die Abenteuer einer Surf-Anfängerin, die dieses Gerät für das schwierigste Sportgerät seit der Erfindung der Murmel hält, erzählen lassen. Die vielen Schrammen, die die Mumel, äh das Brett bei dem Surf-Greenhorn verursacht hat, begutachtet. Und über meinen Blog und meine Familiengeschichte philosophiert. Hey, ich weiß ja  eigentlich nichts über deine Jugend, über deine Familie. Komisch. Kannst du mir was erzählen? Eine schöne Frage für den Daddy. Ich habe diese Frage meinen Eltern zu spät gestellt. Als ich reif dazu war, waren sie schon tot. Bei so einer Frage kann Alexander Schnuri Kalwass mal richtig in die Kiste langen. Da kann er  los legen. Und wie. Musst mich bremsen. Wollte in ein paar Minuten alles los werden. 7 Geschwister von 49 bis 76 sind so schnell nicht zu beschreiben. Darunter eine Altkommunisin, eine Zeugin Jehovas (beides in einer  Person beheimatet), eine Weltreisende, zwei Ex-Knackis, ein möglicher Psychopath und ein Phantom, das leider schon an Brustkrebs verstorben ist. Oh ja, gibt es da viel zu erzählen. 4 Traubensaft-Schorle und vier Gänge lang. Danke Anni, danke Universum für diesen schönen Abend!