Tag 74, Sonntag, 31.07.2007 (Tag 5 - Chemo-Zyklus 4)
Auf der Toilette kommen einem die unsinnigsten, schrägsten, absurdesten Gedanken. Nur Männer können das nachvollziehen. Manchmal trifft man da Überlegungen, die so gar nicht political correkt sind und eher in der Schublade verschwinden sollten. Haben z.B. Hitler oder Stalin ihre Vernichtungspläne vereinsamt auf ihrer vergoldeten Toilette geschmiedet? Ich hege keine Vernichtungspläne, aber bei der Durchsicht der Tageszeitung kommen mir auch so manches Blödsinnige, z.B. dass heute alle Fernsehbeiträge irgendwie alle mit meiner aktuellen Lebenssituation zu tun haben:
Tzzzzzzz....schräg, oder? Aber nicht so schlimm wie Stalin und Hitler.
Ich lese schon eine Weile in einem wunderbaren Buch. Wahrscheinlich ist es ein Buch nur für Deutschlehrer, Literaturprofis oder verliebte schwule Intellektuelle. Liebesbriefe großer Männer. Wirklich sehr empfehlenswert. Hey, Roy, MacGyver , da hättet ihr mal die Nase gerümpft, wenn ich euch dieses Buch gestern überreicht hätte. Hihihihi...
Okay, ein schöner Schmachtfetzen, so ganz nach meinem Duktus, möchte ich euch hier vorstellen.
Ist von Kurt Tucholsky, einer meiner Lieblingsautoren. Kurt Tucholsky schreibt an Mary Gerold.
Mary Gerold war die zweite Ehefrau des Schriftstellers. Sie lernten sich während des ersten Weltkrieges kennen und waren 9 Jahre verheiratet, lebten aber nur zeitweise zusammen. 1933 verbrannten die Nationalsozialisten Tucholskys Bücher und bürgerten ihn aus. Er lebte daraufhin in Schweden im Exil. Er starb 1935 an einer Überdosis Schlaftabletten – man weiß nicht, ob aus Versehen oder absichtlich. Tucholsky redet in seinen Briefen Mary mit „Er“ an. Manche wissen ja, dass ich die dritte Person liebe. Mein Ex-Friseur sprach immer in der dritten Person mit mir. Nur aus diesem Grund bin ich zu ihm hingegangen, nein, er war auch noch Schwabe dazu. Vielleicht habe ich auch deswegen diesen Brief rausgesucht. Jezt habe ich es, diesen Liebesbrief widme ich meinem wunderbaren schwäbischen Ex-Friseur. ;-)
14. Juni 1918
„Dicker, wie ich von ihm weggegangen bin, da habe ich genau gewusst, dass man ihm richtige Briefe schreiben kann, weil Er das versteht, und dass Er nach dem dritten, wenn er sentimental süßlich wäre, gelangweilt auf die Straße schauen würde. Das kommt ja auch gar nicht in Frage, zwischen uns beiden. Aber – das muss Er mir schon erlauben, zu sagen – aber solange ich nun von Autz bin, und das ja nicht lange, das ist wahr, habe ich eine richtig fixe Idee (...) Es kann nun sein, was es will: etwas Persönliches, oder eine Landschaft oder eine spaßige Situation oder ein schönes Buch oder ein Bild oder irgendetwas...ich muss immer denken: Was würde sie dazu sagen? Und: Das müsstest du ihr eigentlich zeigen? Und Sie muss überall dabei sein. – Es ist ja gar nicht das, dass ich glaube, Du müsstest nun immer das Beste und Klügste sagen, das ist ja Unsinn – Du bist jung und ein Mädchen, und es ist gar nicht Deine Sache. Aber das ist der Zusammenklang und das Gefühl: Sie gehört dazu, und wenn sie es nicht miterlebt, dann macht es dir keinen Spaß.
Das kann man nicht aufschreiben. In dem, was ich hier und da für Dich drucken lasse, ist auch nicht ein Hunderstel davon. Ich scheue mich kaum – aber man kann das nicht. Das Gefühl quillt über die Druckseiten, und das ist dann nachher Sache des Herzens, aber nicht mehr der Literatur. Und es geht nicht mal ganz – obgleich ich mir einbilde, deutsch schreiben zu können, in den Briefen. Wahrscheinlich überhaupt nicht in Worten. Es lässt sich ausdrücken – und Du erlaubst schon, dass ich es einmal, in neunzehn Schreibebriefen – sage: wenn man über Deine Hand streicht. – “
Bisschen schräg, mit viel Gefühl und Offenheit, toll!
Wenn ich einen Liebesbrief schreiben würde, und würde meine Liebste mit Er ansprechen. Ich glaube, das käme heutzutage nicht mehr so gut an. Liebesbriefe sind out. Frauen finden sie mittlerweile auch heute als zu „süßlich“. Das behaupte ich jetzt einfach mal so. In Filmen ja, heul schluchtz, flenn, aber in der Realiät, iiiiih.... Und wir, wir lassen uns unsere Emotionen und Ritterattitüden aberziehen. Wie sagte ein mir sehr gut bekannter BMW-Biker mal am Lagerfeuer so platt: "Ey, manchmal weiß ich echt nicht mehr, ob ich Männlein oder Weiblein bin. Wir Männer haben unsere Identität verloren. Die Weiber schießen uns unsere Eier ab und reißen uns das Herz raus." Hört sich irgendwie an wie ein Statement vom Letzten Bullen Mick Brisgau. Diskussionswürdig, ich stimme euch zu, aber...so ein bissel is da schon was dran, wie mir manchal erscheint. Puuuh...aber dafür brauch ich nochmal einen extra Blog-Tag. ;-)
Tja, da köchel ich so vor mich hin - Schupfnudeln mit Gemüse und Lachs - denke an Liebesbriefe von berühmten Männern und Prinzessin Uteb - da quietscht die Eingangstür. In diesem kurzen Moment, in dem ich meinen Oberkörper Richtung Küchenausgang drehe, denke ich: Hmmm...das wär ja was, wenn jetzt die Prinzessin Rote-Beete, die überhaupt gar keine Rote-Beete mag, hier hochstolpern würde. Und was sehen da meine Glubschaugen? Sie is es tatsächlich. Hab ich es wieder getan? Manchmal bin ich mir da echt nicht mehr sicher. - Ich muss mal nächste Woche Lotto spielen. So ganz nebenbei. - Ein spontaner, ehemals geplanter, Überraschunsbesuch. Klasse. Und nicht nur, das die Frau, mit der ich bis zu meinem Lebensende Kniffeln spielen will, mir hier in voller sexy Motorradmontur gegenübersteht, sie hat doch auch noch tatsächlich 2 Riesen Stücker Zwetschgenkuchen vom Cafe Centner im Schlepptau. Klar, dass ich da die Schupfnudeln beseite schupfe und auf eine spätere Verspeisung vertröste.
Reden ist das Wichtigste. Manchmal aber auch zu viel. Immer die korrekte Ausgewogenheit an den Tag zu legen, ist nicht einfach. Vor allem für mich nicht einfach. Ein Kumpel, mit dem ich seit längerem fast Bett und Tisch teile, und der verdammt gute Kartoffelstampes machen kann, sagte einmal: Mit dir kann ich so schön schweigen. Ein schönes Kompliment. Trotzdem bleibt das Reden wichtiger. Was bleibt übrig, wenn die Knochen nicht mehr so wollen, dann muss man miteinander reden können. Anständige verständige Kommunikation ist das Schwierigste überhaupt. Es denken alle, klar krieg ich hin, aber kaum einer ist darin ein Spezialist. Nicht mal ein Deutschlehrer. Da spielt so viel mit rein. Man möchte steuern, ist aber oft hoffnungslos ausgeliefert. Man möchte Klarheit und bleibt doch stets unklar. Man verlangt das richtige Wort und findet sie selbst nicht. Man will auf den Punkt kommen und schweift ständig ab. Als ob das Steuerrad blockiert wäre und man gerade durch scharfkantiges felsiges Küstengewässer manövrieren müsste. Nur ein Wort und doch kann so viel darin verborgen liegen, kann plötzlich etwas komplett in die Hose gehen, woran man niemals im Traum gedacht hätte. Miteinander reden und schweigen können: Wer einen solchen Partner gefunden hat, der kann sich wirklich glücklich schätzen. Ich hoffe, ich habe ihn endlich gefunden, diesen einzigartigen Liebes-Rede-Schweige-Partner. Versucht es einmal selbst: Kaff und Kuchen und Reden. Zwei Stunden. Wenn ihr das Gefühl habt, wow, was für ein Gespräch, dann is es der oder die Richtige. Und wenn er oder sie dann noch gut riecht...Super-Jackpot! ;-)
Oh heilige Speckschwarte! Wie soll das bloß ausgehen mit mir? Ich wage es nicht auf die Waage zu steigen. In den letzten 3 Tagen hab ich so viel gefressen wie schon lange nicht mehr. Außerdem komme ich mir vor wie ein wabelndes Schwimmbecken, so viel Wasser ist bei mir eingelagert. Ich hoffe, das regeniert sich alles. Verrückt. Wenn man völlig Unbedarfte in Sachen Krebs erzählt, dass man sich gerade einer Chemo-Therapie unterzieht, dann wird verständlicherweise das Vorurteil formuliert: Oh meine Güte, dann kotzt du dir bestimmt die Augen raus. Neee, ich fress mir die Wampe rund, mein Jung. Das Cortison ist medizinisch gesehen eine Revolution, kalorienmäßig der größte anzunehmende Unfall. Manchmal träume ich davon, wieder joggend durch den Wald zu stampfen. Ohne irgendwelche Zipperlein. Ich glaube, ich habe es schon mal geschrieben. (Wie machen das eigentlich die Profis? Wenn man so einen dicken Wälzer verfasst, dann vergisst man doch automatisch auf Seite 2567, was man so auf Seite 1346 verzapft hat). Also nochmal, mir is so, dass ich euch das schon mal Kund getan habe: Wenn ich heil aus dieser Krebs-Geschichte raus komme, werde ich einen Marathon angehen und auch mit Sicherheit schaffen. Weil ich mir nichts (Korrektur: fast nichts) Schöneres vorstellen kann, als zu laufen. Kennt ihr Forrest Gump? Eine der schönsten Szenen des Films für mich: Als Forrest anfängt zu rennen, weiter, immer weiter. Wie hat mich diese Sequenz im Kino damals fasziniert. Wie oft ist mir das schon durch den Kopf gegangen. Einfach nicht mehr aufhören zu laufen. Jeden Meter und jeden Atemzug werde ich genießen, das könnt ihr mir glauben. Ihr Gesunden schnauft einfach so vor euch hin, is für euch nichts Besonderes. *schnauf* *schnauf* Aber wenn es mir in der Chemopause besser geht und ich mal wieder so einen richtigen tiefen Atemzug nehmen kann, dann ist das für mich wie ein weiterer Geburtstag. Alles was man verloren hat, fängt man erst an richitg zu schätzen. Bekloppt, aber leider alltäglich.