Tag 73, Samstag, 30.07.2011 (Tag 4 - Chemo-Zyklus 4)

Das Lied wurde in Aspekte, der Kultursendung im ZDF, gespielt. Ist gerade der Renner im Internet. Es heißt "Mein kleines Land". Obwohl die Bilder so unsagbar traurig sind, soll es den Menschen Hoffnung in einer einer hoffnungslosen Zeit geben. Was ist unser Leben ohne Hoffnung?  Es ist schwer, sie jeden Tag von neuem zu entwickeln. Aber was bleibt uns übrig. Wir müssen trotzdem weiterhin an das Schöne und Gute glauben und solchen entarteten Kreaturen wie Anders Breivik keinen Raum lassen. Eigentlich sollten wir diesen Menschen einfach nur für immer und ewig wegsperren, seine Hass-Buch im Klo runterspülen und seinen Namen niemals mehr in den Mund nehmen. Aber das können wir nicht. Wir müssen verstehen. Wir müssen das Menschsein dagegenhalten. Sonst heben wir uns nicht ab von diesem Monster. Anders Brevik ist Graf Tumor, Norwegen ist das Rote-Beete-Reich. Jeden Tag müssen wir in die Schlacht ziehen. Das Schwert ist aber nicht das richtige Mittel auf Dauer, es lässt noch mehr Metastasen wie Breivik entstehen. Wir müssen raus auf die Straße und als gefühlvolle Menschen zeigen. Noch mehr Demokratie, noch mehr Herz, noch mehr Rücksicht, noch mehr Anteilnahme. Und weniger Anonymität und Einsamkeit. Schaut euch die Menschen genau an, die da gestorben sind. Unsere Kinder, unsere Väter, unsere Schwestern und und unsere Brüder könnten das sein. So sinnlos. Was für ein sinnloser Tod. Kaum zu ertragen. Aber nein, unser Atem steht für einen kurzen Moment still, wir sind schockiert, schütteln verständnislos den Kopf, sinnen auf Rache, ziehen das Schwert und schauen zwischen den Nachrichten Bauer sucht Frau. Es muss wohl so sein. Der Mensch würde sonst nicht Mensch sein.

Oder: homo homini lupus.

Körper und Geist in der Achterbahn


Ich muss zugeben, heute Morgen bin ich ein wenig zerstört aufgewacht und das lag nicht unbedingt an den Nebenwirkungen der Krebstherapie. Aber nicht das ihr denkt, ich hätte Alkohol konsumiert. Keinen Tropfen habe ich mir einverleibt. Na ja, okay, einmal habe ich den Cheyenne-Pfeffer mit etwas Tequila von der Orangenscheibe gespült, indem ich das scharfe Ding ins Schnappsgläschen tunkte. Das Abschlotzen war gar nicht so unlecker. Auch kleine Suchtfreuden können das Krebsgemüt erhellen.

Nach ein wenig Morgensport mit Kung-Fu, Pilates und Yoga Nidra konnte ich dann doch noch einen Blutdruck erlangen und einen Puls messen.

Roy Träger lag ebenfalls ohne Blutdruck zwischen Ritze seiner Matratze und der Ritze von Uschi. Hörte ihn aber noch röcheln. Und wenn er röchelt, dann lebt er. Entweder röcheln oder singen. Manchmal auch beides. Also zog ich hinaus in die weite Welt der Apothekenwelt, ohne meinen röchelnd-singenden Freund. Bevor ich ins Auto steige, mache ich immer den Nasen- und Ohrentest. Wenn ich mit dem linken Mittelfinger meiner rechten Hand ins rechte Nasenloch treffe und mit dem rechten Mitttelfinger ins linke Ohr, dann kann ich beruhigt ins Auto steigen. Wenn ich aus Versehen dem stellvertretenden Ortsvorsteher bei seiner täglichen Kontrollfahrt auf dem Fahrrad durch das Unkraut verseuchte Dorf das Auge aussteche, lass ich es lieber sein und leg mich wieder ins Bett.

Ich konnte fahren.

2. 100 Euro wieder gelatzt. Musste fast alles bestellen. Nur was komisch ist, irgendwie wird meine Gucci-Spritze von mal zu mal billiger. Kostet nur noch 1590 Euro. Ist das ein Sonderrabatt wegen meinen wechselnden hübschen Kopfbedeckungen? Das Ding verliert dadurch fast den Zauber der Extravaganz. Ertappe mich dabei zu denken: Ey Alter, so billig, wirkt die dann überhaupt noch. Man wird sehen. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, in einer Apotheke so viel Geld zu lassen, auch wenn ich das meiste davon ja wieder überwiesen bekomme. Stehe immer kurz vor einem Nervenzusammenbruch im Laden. Ich glaube, die Apothekerin, die aussieht wie eine Kreuzung aus Loki Schmidt und Anni Lennox, ist froh, wenn meine Therapie endlich mal ein Ende nimmt, in welcher Form auch immer. Der finanzielle Aspekt lässt sie natürlich um schätzungsweise 45 Jahre jünger aussehen, aber die psychische Belastung wiederrum um ca. 100 Jahre älter.

Ich stolperte zurück zu meinem Gefährt und hatte keine Kraft für irgendwelchen Augen-und Ohrentests. Tüte in den Kofferraum, Schlüssel ins Zündschloss und bloß weg von meinem vielen Geld. Die nächste Station war angesagt. Füllhorn. Auch so eine Geldannahmestelle. Dort lass ich aber gern mein Geld liegen. Toller Einkaufsladen. Meist auch ohne Nervenzusammenbruch, wenn nicht gerade die eine Verkäuferin an der Fleisch-Wurst-und-Käse-Theke bedient. Die könnte man auch getrost als Autoverkäuferin einstellen. Die würde sogar heute noch einen Trabi an den Wessi bringen. Wenn man da steht und nur nen bisschen Käse will, hat man schwuppdiwupp den ganzen Wagen voller Sonderausstattung. Und selbst wenn man schon um die Ecke gebogen ist und sich von ihr verstecken will, hört sie nicht auf ihr Verkaufsgespräch weiterzuführen. Früher hätte ich gesagt, wenn die wenigstens nicht so scheiße aussehen würde – durch meine Läuterung kommt mir sowas natürlich in nicht mehr über die Lippen.

Geburtstagsgeschenke. Meine WG-Nerven-SÄGEN wollen heute Geburtstag feiern. Master Roy feiert schon drei Tage. Ach was drei Tage, sein ganzes Leben feiert der schon. Und heute eben auch wieder. Wollte mir voll den Riss geben, aber leider geht auch mir mal die Puste aus. Und was ist da optimaler als einfach Gutscheine irgendwo zu erwerben. Der eine Gutschein, passend für Nerven-SÄGE 1, der seit mehreren Wochen, tagein tagaus, sägt, brettert, hämmert und bohrt: Baumarkt. Eigentlich gehöre ich gevierteilt. Hätte ihm eher eine Zwangsjacke mit Nieten bei Beate Uhse bestellen sollen. Der andere Gutschein für Nerven-SÄGE 2, der singt als hätte er eine von den Nerven-SÄGEN verschluckt, aber das meistens nur bei Vollmond oder Sonnenaufgang. Und ich totaler Totalausfall, was besorg ich dem: Gutschein vom Musikerladen. Hier hätte ich mich eher mal beschenkt, nämlich mit ner Steige Oropax.

Die ganzen Gutschein-Kauferei hat mich dann so mitgenommen, dass ich vorübergehend meinen rechten Fuß nicht mehr spürte. Ehrlich. Kurz dachte ich, den hab ich bestimmt zwischen Apotheke, Füllhorn und Gillet liegen lassen. Fuß weg, überfahren, gekidnappt, Pfandleihe, Fuß-Klappe für ausgesetzte Füße oder so... Ich hoffe, das ist kein schlechtes Omen. Echt ein merkwürdiges Gefühl so ohne Fuß. Werde mich doch nicht nach und nach auflösen? Zuerst die Schleimhäute – puff!!!, dann das Hirn – puff!!!!, und jetzt noch mein Fuß. Auch kein schlechter Abgang, so nach und nach in alle Einzelteile zu verpuffen.

Daheim nahm ich eine Sprudelkiste hoch, ließ sie auf meinen nicht vorhandenen Fuß sinken und merkte dann doch, das ich noch einen habe. Autsch! Schmerzen können auch mal glücklich machen, stellte ich fest. Wenn man mich jetzt in diesem Augenblick besuchen kam, sah man einen irren Glatzköpfigen, der mit auf seinem linken Bein umherhüpfte und seinen rechten Fuß tätschelte als wäre es ein Pferd und hätte gerade die Olympische Goldmedaille gewonnen.

Schlafen. Kurz schlafen. Ganz kurz. Nicht viel. Nur ein wenig.

Aufgewacht und freudig festgestellt, das ja heute der Tag ist, an dem Prinzessin Uteb ihre Aufwartung machen wollte. Die Spritze wartete noch auf ihre Zweckerfüllung. Leider war auch die Prinzessin so mitgenommen, nicht von Sprudelkästen oder Gutscheinen, sondern von der wöchentlichen Regierungsarbeit, dass sie sich nicht im Stande sah, sich nur einen Millimeter von der heimatlichen Couch zu bewegen. Sie fiel immer wieder in ihr entzückendes brummiges Schlafgebrumm, ohne etwas dagegen machen zu können. Nach weiteren vier Stunden hat es Schnuribold aufgegeben, die Prinzessin lebend und vergnügt im Lande von der Au in die Spinat aufgeblähten Arme nehmen zu dürfen und sah dem Schicksal fest ins Auge. Er musste das Wochenende ohne Prinzessin Uteb durchbringen.

Wer war nun in der Lage, die Spritzentätigkeit zu übernehmen. Roy würde eher Deutschrock mit dem Ding spielen als sie mir ins Bäuchlein zu stupsen, MacGyver würde eine Bohrmaschine aus der Spritze basteln und die Verpackung damit an die Wand nageln. Ritter Wicki rieb sich an die Nase: Kampfschwein Ulla, das äußerst umfangreiche medizinische Kenntnisse und dadurch den Rang eines Gesundheitscoaches beisitzt, könnte man ja auch mal fragen. Und tatsächlich, welch ein Glück, sie befand sich noch im Stall. Nun werdet ihr euch, verehrte Leser meines vergnüglichen Blogs, wundern, warum der so mutige Ritter sich nicht einfach selbst das medizinische Wunder verpasst. Da der Ritter häufig synaptische Aussetzer hat, ist nicht gesichert, ob die Flüssigkeit auch dort ankommt, wo es ankommen soll, wenn er selbst Medicus spielt. Denkt an im Krankenhaus liegende stellvertretende Ortsvorsteher.

Nach einer Stunden langen Handy-Blog-Email-Schreiberei waren dann die Gutscheine zu übergeben. Der Bär in Haus 46 tanzte behäbig. Hoffe durch meine Anwesenheit nicht die Stimmung versaut zu haben. So ein Krebskranker kann einem schon das Gemüt verhageln. Meine Augen sahen einen selbstgemachten...hmmm...ich finde ausnahmsweise mal keine Worte für diese Köstlichkeit...vielleicht Schoko-Butter-Keks-Blechkuchen. Gebacken von Hausbäckein Simonsche. Noch kann ich die Fressattacken auf das Cortison schieben. Wenn die aber als Dauernebenwirkung bestehen bleiben, was mach ich dann. Heul...Prinzessin Uteb will doch nicht mit einem Sumo-Ringer das Rote-Beete-Reich regieren. Nicht Sumo, der Suppen-Sepp, sondern Schnuribold, ein gestählter Ritter der Leidenschaft, will die Prinzessin der Herzen an ihrer Seite wissen. Ich frag mal in HD nach, ob die mir nicht noch so ein Anti-Fress-Attacken-Chip einpflanzen können.  Ich könnte ja damit drohen, dass ich ihr ultra-teures PET mit meinem alles zerstörenden Urin verschonen werde, wenn sie mir so ein Teil verpassen.

Nach ein paar Small-Talks und mehreren Blech-Kuchen-Stücken wurde mir es zu lebendig unter allen Zombies und ich verschwand wieder auf meiner Krankenstation. Ich lag schon auf Ackermann, Tannhäuser. Müsste meiner Krankenbude eigentlich auch einen Namen verpassen. Wie wär's mit...Schwammdrüber.

Mit Schlafen war nichts so. Manche brauchen Schlaftabletten, ich brauche den Kopf der Prinzessin in meinem Arm. Gott behüte, nicht als Trophäe, was denkt ihr, sondern als meditative Ruhekugel sozusagen. Wie schnell man sich an Rituale und Menschen gewöhnt. Sind sie weg, dann läuft einem das innere Gleichgewicht ganz schnell davon.