Tag 63, Mittwoch, 20.07.2011
(Tag 14, Chemo-Zyklus 3, letzter Aplasie-Tag)
Pulver gestern komplett verschossen. Nachladen dauert noch ein wenig...
Nachgeladen!
Von Fehlern und den schönen Dingen des Lebens
In der Pädagogik ist es Usus, dass man immer mit dem Positiven beginnen soll, wenn man jemanden beurteilt. Warum? Weil nur das gestärkte Ego dadurch, den Vernichtungsschlag besser wegstecken kann. So will ich es dann auch mal halten.
Die schönen Dinge zuerst
Trocken gelegte Feuchtgebiete. Schließende Stellen am Körper, die vorher sehr unappetitlich waren. Ich erspare euch hier Einzelheiten. Bin ja dann doch noch nicht Schlingensief oder Roche. Ich bin ein Cyborg, besser der unzerstörbare Össi-Arni: Bösewichte umgehauen, Flosse abreißen, die nächste dran schrauben, weiter Graf Tumor metzeln.
Wundersamer Allgemeinzustand. Sehr gut, aber wahnsinnig gut noch nicht. Wahnsinnig gut ist anders. Wie Jesus nach der Auferstehung vielleicht. Der war bestimmt auch ganz doll gerädert, so nach dem Nageln, das arme Gottessöhnchen. Ich kann jetzt wieder Spülmaschine ausräumen, ohne total vermeiert auf dem Küchenboden aufzuwachen, und ich kann die Wäsche in 15 Minuten aufhängen anstatt einen halben Tag dafür zu brauchen. Dadurch spare ich verdammt viel Zeit und kann hier die tollsten Dinge zum Besten geben. Wie ihr gerade lesen könnt
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Ein kroatischer Hut. Spüre jetzt die kroatische Seele auf meiner Glatze. Es sind nun zwei Hüte in meinem Besitz: Jeanshallen-Jimmy und Kroati-Karl. Scrdacno dobro dosli! Danke Dani und Alex! Tolles Geschenk! Werde versuchen, ihn lange in Form zu halten.
Prickelnde Gespräche. Wie ich sie liebe. Fruchtbar, gehaltvoll, inspirierend, intellektuell. Heute war viel davon geboten. Deswegen bin ich auch erst so spät zum Blogschreiben gekommen. Nun hab ich wirklich mein pfälzisch-schwäbisches Dessidententum hinter mich gelassen: Sister of Spain, Miss Mici, Prinzessin Uteb, Manne Manno, allesamt prickelnde Gesprächspartner. Ich freue mich schon auf meine Heilungsparty.
Der Kühlschrank, schnaufend, aber sexy. So wie sein Herrchen. Ist rappel voll. (Das Herrchen nicht!) So ein rappelvoller Kühlschrank sieht echt verdammt sexy aus. Davorstehend möchte man am liebsten alles gleich aufreißen und auf-und abschlecken. Nächste Chemo kann kommen!
Statistisches Sommerwetter. Ich bin mir sicher, 99,8 %, die jetzt vor diesen Zeilen sitzen, haben heute über das Wetter geschimpft. Statistischen gesehen, ist es ein ganz normaler Sommer. Unsere subjektive Wahrnehmung aber (meistens) eine andere. Die subjektive Wahrnehmung des Wetters eines vor sich hin faulenden Typen in Isolationshaft, der mit einem HB-Wert von 7,4 und Leukozyten von 280 ist wohl nicht identisch mit der eines 2-Meter-Bikers, der 2,8 Promille mit seiner Harley über den Asphalt zischt. Draußen endlich den Regen zu riechen und die Tropfen auf der Haut zu spüren, war für mich heute eine absolut existenzielle Erfahrung. Am liebsten hätte ich mich nackig gemacht vor den REWE gesetzt. Aber ich glaube, dann wäre Krebs zu meiner kleinsten Sorge geworden. Und ihr hättet mich nicht nach Heidelberg fahren dürfen, sondern nach Eschbach Süd.
Nun ist es aber auch mal gut mit den schönsten Dingen. Fehler sind da, um gemacht zu werden!
Errare humanum est!
Fehler Nr. 1: Bohnen bei Chemo
Noch ein Gebot für heute: Kaufe niemals mit leerem Magen ein. Sonst kannst du das, was du kaufst, bald wieder in den Eimer schmeißen. Auch daran habe ich mich gehalten. Mein Lebensmittelvorrat gab nix mehr her. Irrtum. In einem kleinen süßen Eckchen war noch ein schnuckliges Döschen mit Böhnchen versteckt. An der Nase gerieben wie Wicki, überlegt, welches Gericht Chefkoch Alexandre Schnure daraus wohl zaubern könnte. Gewürze und Nudeln auf die Hülsenfrüchtchen geleert und das Döschen ins Töpfchen gekippt. Bohnen, Chemo: 1. Fehler! Auch da erspare ich euch auch wieder ausführlichere Ausführlichkeiten. Nur so viel: Ich weiß jetzt wieder, dass ich einen Darm besitze und der wohl an der richtigen Stelle verortet ist. Und dass ich richtig schnell laufen kann, wenn es nur um Leben und Tod geht. War kurzfristig am Zweifeln ob das Döschen Böhnchen nicht doch eine Tonne TNT war. Ob ich die Nacht überlebe, wird sich zeigen.
Fehler Nr. 2: Experimente mit Chemohirn – Nudeln in Schüttelboxen
Ich gebe es ja zu. Vor meiner Erkrankung und dem ganzen Medikamentengedöns war ich auch schon so manchmal ein bisschen durcheinander. Betonung liegt auf MANCHMAL und EIN BISSCHEN. So einmal bis zweimal die Woche. Höchstens. Die Bezeichnung Chaot verbitte ich mir an dieser Stelle, ja! Nun bin ich am Ende jeden Tages einfach nur froh, dass ich mir nicht noch mehr Kriegsnarben zugefügt habe. Dass das Haus 46 noch steht, dass Roy Träger immer noch von seiner Couch krächzt und Ronny Holzwurm sich immer noch durch die Balken seiner Bude frisst. Der Fehler: Versuche mit Chemohirn niemals zu experimentieren. Vom Lymphom geheilt, aber dafür Plastik-Krebs gekriegt, nämlich durch einen dahin schmelzenden blauen Schüttelbox-Deckel. Deckel, Herdplatte, heiß...jau, genau! Roch extrem krebsig. Fast wie Madame RHEINPFALZ von gestern. Bitte nach meinem Ableben um Obduktion meiner Gebeine, will wissen, welche giftige Substanz mich tatsächlich gekillt hat, Chanel Nr. 5, Plastik Nr. 6 oder Roter Rauscher Nr.7
Fehler Nr. 3. Lebende Einwegflaschen in Füllhorn-Papiertüten
Kann meine Porsche-Spritze mit der Leergutkohle von heute bezahlen. Aber nur durch Mehrweg, meine Einweg legen jetzt alle zerbröselt vor dem Pfandautomaten bei REWE Landau. Ich glaube ich habe durch meine Aktion der Kardiologie einige Schrittmacher-Patienten geliefert. Papiertüte hoch. Loch. Kawumm!!! Knall!!! Schepper!!! Die toten Flaschen haben doch noch gelebt. Ca. 50 alkoholfreie Karlsberger rollten, kullerten und schrammten über die Fließen. Einige Kunden wollten mich, so war mir, unmittelbar auf den Elektrischen Stuhl sehen oder gleich in den Pfandautomaten hämmern. Sorry Leute, Chemohirn! Wie entschuldige ich das alles bloß, wenn ich geheilt bin. Wer spricht noch von Fukushima? ICH bin das lebende Restrisiko.
Was ist Glück? In Hirschausens Glücksbuch steht: Glück ist, wenn man mehr angenehme Dinge als unangenehme Dinge erlebt. Puuh..meine Schweißtropfen auf der Stirn trocknen blitzartig ein. 6:3. Glücksbilanz für heute: Schnuri ist doppelt so glücklich wie unglücklich.
Mal sehen, was die morgige Bilanz hergibt. Ich tippe auf 100:99.
Gute Nacht!
Ha! Ihr habt gedacht, ich schreib heute nix mehr...Pech gehabt! ;-)