Tag 62, Dienstag, 19.06.2011 (Aplasie, Tag 13, Chemo-Zyklus 3)
Der Morgen
Es ist verrückt. Es ist wirklich verrückt. Ich bin wahrlich kein Esoteriker. Ein Kreuz-Schlitz-Schraubenzieher bleibt für mich ein Kreuz-Schlitz-Schraubenzieher und kein Ding, das denkt und fühlt und vielleicht den Wunsch hegt mit einem einfachen Schlitz-Schraubenzieher als Lebenspartner in den Bund der Ehe einzugehen. Kerzenqualm stinkt und ich spüre keine darin wohnende Kraft, die von verstorbenen Geistern stammen könnte. Ich sehe keine bunten Lichter um Menschen herum, die einem sagen, ob der Großonkel 4. Grades einen missbraucht hat. Alles ganz normal beim ollen Schnur. In der Hinsicht zumindest. Trotzdem. Was in den letzten Monaten so passiert ist bei mir, lässt den einfältigsten Maurer an seinem Weltbild des gemörtelten Steins zweifeln. Der Stein wankt. Mein Stein ist ein Buch. DAS BUCH. MEIN BUCH. Ich stehe also heute Morgen so an meinem Bücherregal, wie ich es oft tue. Blicke drüber. Verstelle, ordne oder ziehe nochmal eins hervor. Beim Verrücken eines Buches, flutscht mir das rechts davon Stehende vor die Füße. Mal wieder fällt mir Tollpatsch etwas auf den Fußboden, denke ich, und schüttle den Kopf über mein nervöses unkontrolliertes Wesen, das durch die Chemo-Therapie noch etwas hippliger geworden ist. Als ich ES in der Hand halte und zurückstellen will, merke ich erst, was ES für ein Buch ist. MEIN BUCH. Erste Irritation. Erstes Wundern. Ich blättere es auf. Streichele ES. Rieche daran. Lächle selig. Grinse über meine vielen Kritzelkratzeleintragungen. In keinem meiner Bücher sind mehr davon zu finden. Ich begegnete MEINEM BUCH zum ersten Mal im Abi-Jahr 1996. (Abi so spät, weil 2. Bildungsweg, nicht weil ich 10 Mal sitzen geblieben bin!) Es ist nicht gerade leichte Lektüre. Eine Lektüre, bei dem Sekundärliteratur durchaus angebracht ist. Eine Lektüre, bei der man als angehender Abiturient ganz automatisch zuerst die Schnute verzieht, wenn sie genannt wird. Ich habe diese sofort geliebt. Manchmal gehasst, weil ES mich zu einer Auseinandersetzung mit mir veranlasst. Es ist wie in einen Seelen-Spiegel zu schauen. Und was ich da sah, gefiel mir eben manchmal überhaupt nicht. Doch war ich jede Sekunde zutiefst beeindruckt von der Intelligenz dieses Romans, und bin es heute noch. Meine Klassenkammeraden im Leistungskurs schauten immer wie Automobile ohne Motor, wenn ich mit der Lehrerin anfing über DAS BUCH zu diskutieren, ihr zu wiedersprechen, Sichtweisen vertrat, revidierte, plakatierte und ganze Abhandlungen über einzelne Sätze verfasste. Ich sah in ihren Augen wie sie dachten: Sagt mal, hat der Typ nen Knall, über diesen Scheiß müssen wir vielleicht den Prüfungsaufsatz schreiben. Kann der nicht mal die Waffel halten. Sie wussten ja nicht, dass sie die Hauptfigur des Buches vor sich sitzen hatten. Und eine Unterrichtsstunde eine Therapiestunde für mich war. Einige hatten den Kurs gewählt, weil es keine Alternative gab. Ich hab nicht nur DAS BUCH geliebt und den knackigen Hintern der Lehrerin, sondern auch DAS FACH. Nach der Unterrichtsstunde kam die Kursleiterin Frau... (verflixt mir fällt wieder einmal ein Namen nicht ein. Ich kenne jemand, der hat ein Pferdegedächtnis, wie ich diesen Menschen manchmal beneide)...Soundso und lobte mich. Lobte mein Fanatismus, meine tiefe Einarbeitung in die Materie. Auch sie wusste nicht, dass sie denjenigen vor sich hatte, über den wir im Unterricht die ganze Zeit sprachen. Frau X-Y fragte mich, wohl irgendetwas ahnend, warum, ich denn von diesem Buch so begeistert sei. Damals konnte ich keine Antwort darauf geben. Stotterte, war verunsichert. Ich hatte nicht den Mut dazu. Wusste es selbst noch gar nicht, warum. Als ich kühl mit den Achseln zuckte, zog sie enttäuscht ins Lehrerzimmer.
Bücher, ja Bücher waren schon immer meine Leidenschaft. Gaben oft meinen Gesprächspartner Rätsel auf, weil sie nicht nachvollziehen konnten, warum mir dieser oder jener Autor so viel bedeutet. In der 10. Klasse in der Realschule mussten wir einmal über einen Roman unserer Wahl ein Referat schreiben und halten. Ich entschied mich im wahrsten Sinnes des Wortes für den „krassesten“ von allen: die Blechtrommel. Ein schräger, obszöner, genialer, berühmter Wälzer. Die Verfilmung legendär. Die damalige Deutschlehrerin Frau Riedel meinte nur lapidar: Alexander, wenn du dich da mal nicht übernimmst. Ich dachte nur, sack-wütend, blöde Kuh, dir zeig ich’s. Ich musste gut gewesen sein. Kalle, unser Klassenprolet, mit einem Gemüt von einer Mülltonne, gaffte mich während meines Vortrages die ganze Zeit komplett hirnlos an. Das war der Ritterschlag! Auch diese Dame kam nach meinem Gesabbel zu mir, lobte mich, fragte nach meinen Noten in den anderen Fächern. Die gut waren, aber leider nicht in den naturwissenschaftlichen Fächern. Ich blieb zwar immer neugierig und fand das darin vermittelte Wissen auch fett spannend, aber keine Spur von Daniel Düsentrieb und MacGyver, eher von Jerry Lewis. Das Atom wird für mich bis zu meinem Lebensende ein unergründliches Vakuum bleiben. Trotzdem schlug Frau Schniedel, wie sie von uns pubertierenden Jungs immer genannt wurde, mir vor, doch das Gymnasium mal ins Auge zu fassen. Wie Gymnasium? Ich Blödi? Spinnt die Alte jetzt total. Nö, nö, i werd Hodelgaufmann, wiegelte ich ab. Aus Hotelkaufmann wurde später übrigens Versicherungskaufmann – wie Kafka.
Huch, ich werde nun tatsächlich ein wenig kafkaesk und schweife ab.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, also ich sitze da so auf meinem Sofa und blättere mal wieder in MEINEM BUCH, was ich schon Jahre nicht getan habe, obwohl ich DEN ROMAN, nach dem Abi mindestens einmal pro Jahr immer wieder gelesen habe. Der Zauber verfliegt natürlich auch ein wenig, verblasst, nimmt gewöhnliche Formen an, trotzdem man erinnert sich immer wieder sehr schnell an das Göttliche, Wunderbare, Einzigartige. Und man ist von neuem verzaubert. Ich verstehe nicht wie Menschen nicht lesen wollen. Ein so wunderbares Kulturerlebnis. Magie. Ich liebe Elektronik, obwohl ich bei ihrer Bedienung immer kurz vor der Einweisung in die Psychiatrie stehe, aber ich würde mir nie so einen digitalen Reader zulegen, mit 1500 Büchern auf der Festplatte. Das ist als würde man lieber zu WürgerKing und McDoof rennen als ein Kochbuch von Jamie Oliver aufzuschlagen.
Ich lese das Vorwort.
„Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen ist.“
„-: indem die Leidenschaft der Freiheit in ihm erwacht (und sie erwacht in der Wahl, wie sie sich in der Wahl, wie sie sich der Wahl selber voraussetzt), wählt er sich selbst und kämpft um diesen Besitz als um seine Seligkeit, und das ist seine Seligkeit.“
Kiergegaard „ Entweder-Oder“.
Darunter eine Beistift-Notiz von mir: Habe ich eine Wahl? Wo liegt meine Seligkeit?
Geschrieben 1996. 2011 kämpfe ich immer noch um meine Seligkeit. Vielleicht stärker als je zuvor. Und hab‘ sie vielleicht endlich gefunden. Ich krieg keine Luft. Was nicht an der akuten Sauerstoffarmut in meinem Blut liegt. Ich verharre bewegungslos. Halte DAS BUCH wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Alles kommt wieder hoch. Die jahrelange Beschäftigung mit MEINEM BUCH, den darin verborgenen Themen meines Lebens, den täglichen Kampf ums Verstehen. Die Welt verstehen, den anderen, mich. Selbstbildnis, Fremdbilder, Schubladen, Vorurteile, Sehnsucht, Annahme, Selbsliebe, Größenwahn, das Universum steckt zwischen diesen zwei blauen Buchdeckeln.
Ich lese weiter. Lese den berühmten ersten Satz.
„Ich bin nicht Stiller!“
Darüber wieder eine Notiz: Ich bin Stiller.
Damals war das eine mehr oder weniger naive Feststellung bzw. spontane Selbstreflexion.
Heute, 15 Jahre nach diesem Abiturienten-Gekritzel, habe ich die Gewissheit:
Ich wollte nie Schnur sein. Endlich bin ich auf dem Weg, Stiller zu sein.
Realität! Tablettenerinnungspiepser und mein Magen knurrt. Beides werde ich unverzüglich eliminieren.
Der Mittag
2 ½ Minuten. 180 Sekunden, eine Begegnung der 4. Art gehabt. Nebenbei, aber trotzdem wieder Stoff für 1000 Zeilen meines Blogs. Ruhig. Entspannt euch. Versuche, wie immer schnell auf den Punkt zu kommen. Will euch ja nicht verjagen. Die Regel ist, Monsieur Krebs, langweile deine Blogleser nicht, sonst war’s das mit der Heilung!
Also die 180 Sekunden, die nicht mein Leben veränderten, aber mir zeigten, dass ich auf einen guten Weg bin. Und eigentlich doch nicht, weil ich einen Menschen wieder mal in 2 ½ Minuten aburteile, was ich ja ändern wollte. Na entscheidet selbst, ob ich mal wieder auf dem Holzweg bin.
Es krächzte im Treppenhaus. Eine Dame. Roy und MacGyver, die gerade bei mir waren und sich über die Räumungsverkaufsbeilage und einen weiteren Erwerb eines Solariums unterhielten, schreckten auf. Kundschaft. Die Stimme hat sie für einen Transportauftrag gebucht. Irgendein Schrank sollte mal wieder entsorgt, entrümpelt, verbrannt werden. Die Krächtz-Stimme tappste dann plötzlich in meine Bude hinein und fing gleich an, einen auf Privat-Sender-Moderatorin zu machen. Ich wollte, didaktisch-pädagogisch geschult wie ich bin, mit einem Impuls dafür sorgen, dass sich dieser Stoffel auf zwei Beinen vorstellt. „Hallo, eeeeerst maaaaal!!!“ Was mir aber völlig misslang. Tja, ich schieb’s mal auf die schlechte Ausbildung. War dann kurz überrascht, dass Fräulein Duftwolke Rüdiger Hoffmann kannte. Mein ganzes Wohnzimmer stank nach dem süßlichen Drecksparfüm dieser Tussnelda. Da macht man ne Duftlampe mit Lavendel an, dass man nicht kotzen muss, dann sowas. Musste mich zusammen reißen nicht über ihre hippen Latschen zu kübeln.
Sie erspähte die RHEINPFALZ, das war ein Fehler, denn dann ging’s richtig rund. Meine Wohnung verwandelte sich zu einem Proberaum für Versicherungsvertreter der Hamburg Mannheimer. Wusste von Roy, dass sie Vertreterin für unsere regionale Tageszeitung ist. Dachte da schon, oh..oh...das dann aber sogleich in ein Argggggh...Arggggh übergehen sollte. „Oh, ihr habt, ja die Rheinpfalz, wusste ich ja gar nicht, was für nen Abo denn? Von wem? Hey, ich mach dir ein super Angebot, 12 Monate und ein Monat kostenlos. Oder 3 Monate für 25 % billiger. Wie? Probe-Abo auf Lebenszeit? Du warst bei der Versicherung? Auch im Vertrieb? Ich verkaufe auch Versicherungen? Bin bei der Ergo? Lehrer, echt. Das ist ja ein Ding. Haste nicht so viel verkauft, was?“ Blahhh...bläääh...blubbb...sabbel, säbbbel, subbel... Mein Puls war auf 180, Blutdruck explodierte. Meine Wehen setzen schlagartig für einen Moment aus. Ich wollte gerade ansetzen, um sie zu vernichten, da war sie auch schon wieder draußen.
Ich war sauer. Sauer, weil ich kaum zu Wort kam, sauer, weil ich gar keine Chance hatte, ihr eins mit der RHEINPFALZ über die totgeschminkte Rübe zu hauen, sauer, weil ich noch eine Duftlampe aufstellen musste.
Nicht zu glauben, und ich war auch mal so eine Hülle. Hab nur Dollars gesehen und die Leute zugeschwallt und zugetextet. Hab alte Schulkameraden angerufen, die ich schon Jahre nicht gesehen hatte, Kalle, die Mülltonne z.B. Nur um denen einen blöden völlig unnützen und überteuerten Versicherungsvertrag zu verkaufen. War Organisations-Inspektor. Ein grandioser Titel, den keiner braucht. Hab Metzger und Bäcker geschult, wie sie Leute übers Ohr hauen können. War perfekt frisiert und geölt. Nahm an Wettbewerben teil. 100 Lebensversicherungsverträge und du darfst nach Saint Tropez zum Großen Fressen. 500 Hausrat und es gibt ein freies Wochenende im Hofbräuhaus, mit allen Schikanen. Arbeitete mit einem Generalagenten, der nach seiner 1000. Lebensversicherung tot auf dem Tennisplatz umfiel und auf Angebote immer die billigsten Tarife mit Bleistift durchgestrichen hat, damit er nur die teuren an die arme Omi bringt. War mit Hausfrauen zwei Wochen liiert, weil ich wollte, dass sie einen Vertrag bei mir machen. Habe getrickst, geschummelt, zeitweise den großen Schein verdient und gewahrt. War ein riesen großes perfides Arschloch, obwohl ich doch eigentlich so ein lieber Junge war und nachts von Seeadler träumte. Als erste Flucht vor mir selbst, wechselte ich zu einer anderen Versicherung, in den Innendienst. Ab sofort nannte man mich Kundenberater. War Spezialist für Lebensverserungen. War interessant. Hatte ständig mit Abwicklung von Todesfällen zu tun. Kurioses war dabei: Bohrmaschine in der Badewanne, Sturz in den leeren Pool, Kopf im explodierten Fernseher. Schleimige Verkäuferärsche in ein Großraumbüro mit noch mehr Oberflächlichkeiten getauscht. Stach in die Stechuhr und hatte 42 Tage Urlaub im Jahr, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld. Der Job machte Spaß, war aber trotzdem nicht die Erfüllung. Dann kam die 3.Flucht. Zivildienst. Viel zu spät, weil ich es ständig hinausschob, beim Kreiswehrersatzamt aufzumarschieren. Ich kam dann nicht mehr drum herum. Was für ein Segen im Nachhinein. Denn die zweite Flucht wurde zu einer ersten Heimat. Hier fühlte ich mich plötzlich wohl. Sinnvolles tun, mit Gleichgesinnten abhängen. Philosophieren. Träumen. Kräutertee trinken. In den Tag hineinleben. Eine schöne Zeit. Wieder zurück in die Versicherungsfabrik, hielt ich riesigen Glasfenster, die man aus Sicherheitsgründen nicht öffnen konnte und das Klimanlagenklima nicht mehr aus. War aber in Apathie verfallen, konnte mich nicht von selbst aus dem Trott befreien. Da kam ein weiterer Segen. Meine Schwester im Geiste aus Barcelona. Anruf. Impuls Motivation. Kolping-Kolleg. Verändere dein Leben. Probier es aus. Sei mutig. Macht Spaß. Geile Zeit. Orientierungslos und hoffnungslos die Aufnahmeprüfung absolviert. Bestanden. Erschrocken. Über mich selbst. Über die Welt, die ins Wanken geriet. Schlaflos, über eine allumfassende Entscheidung gebrütet. Job aufgeben? Abitur nachholen? Soll ich das tatsächlich machen? Entscheidung getroffen. 3. Flucht. Dieser Anruf hat in gewisser Weise mein Leben verändert, hat mir die Chance eröffnet, endlich der sein dürfen, der ich eigentlich wirklich bin. Dafür bin ich meiner „Spanischen Schwester“ heute immer noch unendlich dankbar. Danke Heike! 2 ½ Minuten und eine sabbelnde, stinkende Duftnudel, die mich dazu bringt, über mein großes Glück nachzudenken. Dir mir wieder bewusst macht, wie verrückt das Leben doch ist. Die mir einen Spiegel vorhält, wie man doch auf der Hut sein muss, nicht in alte Muster zu fallen.
Ich bin nicht Schnur, will endlich Stiller sein, vielleicht stehe ich tatsächlich kurz davor, endlich der zu sein, der ich sein will. Mit einem Mazda X 5 brauste die Zeitungstussi dahin. Hat wohl tatsächlich mehr verkauft als ich. Schwamm drüber. Ich bin glücklicher.
Ich brauche nicht über die Themen meines Blogs nachdenken. Brauche sie nicht mühsam zusammentragen. Die Themen kommen zu mir. Kafka oder die Dampfnudel von vorhin, alles hängt mit allem zusammen.
Freut euch schon auf meinen nächsten Eintrag. Ich hab da noch was. Ein nächster spannender Vergleich. Muss ich mich hier erst mal wieder orientieren und den Erdbeerkuchen von gerade verdauen. Ein Zwetschgenkuchen kam ja heute nicht. :-(
Chefe hat angerufen. Lieb. Schöffen-Mittagspause in Landau. Leider musste ich ihm absagen. Schade, hätte gern ein paar Chefe- und Ex-Chefe-Geschichten gehört. Aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Date mit Mister Cord-Sakko und Rosa Pullunder wird nachgeholt. Ganz bestimmt.
Der Nachmittag
Warten auf die Blutwerte. Ätzend. Will endlich wissen, was geht. Klink? Blut? Guinness im Pub? Beerdigungsinstitut? Egal was. Hauptsache was!
Telefonat und dann Besuch von Baby J. Im 9. Monat schwanger. Kugelrund, Koordinationsprobleme, Hirnlöcher, Bewegungsblockaden, Fahrverbot, Lagerkoller, schlapp, träge, müde, Anämie, Konzentrationsschwäche, angenervt und schwer reizbar. Eindeutig! Die Erkenntnis schlechthin. Mist! Ich bin auch schwanger! Baby J. zieht mit Schlemensch ins Cafe am Markt. Ich bleib eingesperrt. Schmoll!
Sitin mit Jungs. Special-Guest: Bier und Tüte. Ablenkung und weiterhin Warten auf die Blutwerte. Labor angerufen. Keinen Auftrag gefunden. Wie? Mein Blut, überhaupt nicht untersucht. Keine Werte heute? Das kann nicht sein. Fühle mich tot. Sehe keine Lösung für das Problem. Doc Sneider schweigt. Tagesklinik zu. Stationsarzt nix in der Hand. Schwarzer Peter liegt bei mir.
Kochen ist auch Ablenkung. Rote-Beete bestimmt gut für mein Blut. Ich liebe und lebe Rote-Beete. Gericht sieht komisch aus, schmeckt aber lecker. Morgen nix mehr im Kühlschrank. Alles befindet sich im Topf: Rote Beete, Sellerie, Mais, Camembert, Gurken, Bio-Joghurt und Soja. Mein kulinarisches Vergnügen wird von einem Anruf unterbrochen. DER Anruf. Doc Sneider.
Der Blödian hat den schwarzen Balken vergessen auf den Blut-Auftrag zu setzen. Labor hat somit nichts untersucht. Kein Balken, keine Untersuchung. Dass die dann nicht mal zurückrufen. Hab schließlich 20 Rechnungen von denen auf meinem Schreibtisch liegen. Frechheit. Werde nur eine überweisen. Will trotzig sein. Hab ich einen Schnupfen, oder was? Doc. Sneider hat den Auftrag telefonisch nachgereicht und unmittelbar die Werte erhalten. Gut gemacht! Wird auch zur Heilungsparty eingeladen.
Ich kann in den Pub! Prost! Alle Werte gestiegen. Thrombos bei 25. HB bei 7,9. Leukos bei 6600. Alles im grünen Bereich. Brauche kein Spenderblut. Alles gut. Hipp, hipp, hurraa...Ein Stein fällt mir vom Herzen. Prinzessin Uteb telefonisch beruhigt. Auch ihr Blut kann nun wieder fließen.
Freude mit den Kumpels geteilt. Bier und Tüte immer noch da. Gespräch mit Doc Sneider, war wie die Information von der staatlichen Lottozentrale, dass ich derjenige bin, der den Jackpot geknackt hat. Noch einen Tag eingesperrt, hätte ich nicht mehr ertragen. Morgen kann ich wieder alles machen. Den Jungs ein kostenloses Referat über Arztkostenabrechnungen, Lamborghini-Spritzen und unsere Bildungsmisere vorgetragen. Bier und Tüte war sehr interessiert. Ein guter Schüler. Fragende Schüler sind immer gute Schüler. MacGyver war müde vom Bretter-Schrauben, Schlemensch war unterfordert, da er bereits die spontanen Schwallattacken des Lehrers kannte. Die famose Neuigkeit hat mir einen Mega Kick verpasst. Frischzellen-Kur ohne Frischzellen. Fühlte mich plötzlich nicht mehr wie Kassiopeia, die Schilddkröte, sondern wie Gonzales die mexikanische Maus. Wunderbar! Oder ein Gepard mit Namen Gustav Ganz. Sucht’s euch aus.
Der Abend
Da fällt mir ein. Vor lauter lauter. Enno Bunger vergessen. ;-)
Wahre Freundschaft
Warum lebe ich, eigentlich?
Für Arbeit, für Freizeit?
Für Geld oder Liebe?
Und lebt jeder für sich?
Wenn ich dir dann sag:
Du lebst für die Menschen,
Die Loyalen und Treuen,
Die dich brauchen und lieben
Und dich unterstützen!
Ja, zu leben lohnt sich!
Was auch passieren wird,
Egal, wie's mir geht
Mein Haus ist geöffnet,
Egal, wo und wie spät!
Ich werd immer versuchen,
Mein Bestes zu geben,
Für unsere Freundschaft,
Für unser Leben!
Welche Aktionen,
sind wirklich wichtig?
Erfüllen die Menschen?
Und machen sie glücklich?
Weil sie schöner als faul sind?
Als Erfolg oder Geld?
Stärker als Hass?
Als dein Videospielheld?
Ja, was auch passieren wird,
Egal, wie's mir geht
Mein Haus ist geöffnet,
Egal, wo und wie spät!
Ich werd immer versuchen,
Mein Bestes zu geben,
Für unsere Freundschaft,
Für unser Leben!
Ja, was auch passieren wird,
Egal, wie's mir geht
Mein Haus ist geöffnet,
Egal, wo und wie spät!
Ich werd immer versuchen,
Mein Bestes zu geben,
Für unsere Freundschaft,
Für unser Leben!
So, geh‘ jetzt ein Zimmer weiter. Der Tag hat mich echt zerlegt. War richtig aufregend heute. Das Schreiben, so schwer es mir physisch auch mal fallen mag (heute ganz seltsam, hatte ich Krämpfe in den Fingern, konnte sie zeitweise kaum gerade machen), ist eine Offenbarung für mich. Ich lenke mich ab, halte mein angeschlagenes Gehirn munter (auch wenn man das manchmal bezweifeln kann), ist eine zusätzliche Therapie für Körper und Geist, lässt mich wundersame Dinge erleben und durchleben. Es ist wie eine Aufgabe, die man unbedingt erledigen muss, sonst ist alles Nachfolgende zum Scheitern verurteilt. Ich stelle mir vor, wenn ich jetzt Morgen ins Gras beiße, dann hab ich doch noch so Vieles nicht gesagt. Keiner weiß, wer ich wirklich war. (Ob das überhaupt jemand weiß? Wohl kaum!) Dann noch diese Vielzahl von kleinen Begegnungen und Begebenheiten, die dokumentiert werden müssen. Meine komplexe Erkrankung, die damit verbundenen Erlebnissen und Prof. Ho wollen auch erwähnt werden. Das ist eine ganze Menge für einen Tag. Ausruhen kann ich mich wieder mit Prinzessin Uteb. ;-) Dann habt ihr wieder Ruhe vor mir.
Morgen geh ich erst mal den Kühlschrank befüllen. Das wird ein Event. Gang zur Post steht auch an. 8 Mille müssen schließlich wieder abgerechnet werden. Meine Anzüge liegen auch schon 3 Monate bei der Reinigung. Hoffentlich wurden die nicht schon andersweitig verscherbelt. Miss Mici bringt selbstgebackenen Zwetschgkenkuchen mit. Lecker schmecker Frau Bäcker. Mittagessen lass ich ausfallen. Für ein Stück extra.
Dat war’s! Gute Nacht! Gäääähn!!!
Die Nacht
Wann werde ich endlich wieder 8 Stunden durchschlafen können, erholt und frisch aufwachen? Wie eine Wildkatze, die nie richtig schläft und immer auf der Hut ist. Wie ein Pferd, das nur im Stehen ruht. Nach 3, 4 Stunden mache ich die Augen auf. Jemand muss mit einer Panzerfaust auf mich geschossen haben. Bestimmt mein Ex-Freund aus Kirgisien. Ich schüttel mich. Versuche mich an Augengymnastik, um die Blickschärfe auf Normalpersektive zu stellen. Mein Knochen fühlen sich an, als lege ich auf dem Tisch beim Gerichtsmediziner oder auf dem Frühstücksteller von Hannibal Lektor. Die Bezeichnung Kalle, die Mülltonne, war gemein von mir. Vor allem, ich hab gut Reden: Ich bin auch eine Mülltonne. Innen und außen. Kalle, tut mir Leid dieser Vergleich, verzeih mir bitte! Was soll ich tun, ich kann hier nicht ein Pamphlet im Stile David Foster Wallace verfassen. Für eine Kurzgeschichte, oder ein Gedicht bin ich zu leer. Haushalt. Mitten in der Nacht? Weiß nicht. Fernsehen, Musik? Is es auch nicht. Mag die Stille. Lesen? Verursacht schmerzen. Schreibe hier nur, weil ich blind tippen kann. Denken? Denken ist gut, macht mich aber nicht müde, im Gegenteil, bringt mich in einen Konflikt, weil ich doch das Gedachte alles erzählen will. Hab Millionen Gedanken im Kopf. Furchtbar! Wohin damit? Stellt euch vor, ihr denkt in einer Nacht ALLES. Ist das Wahnsinn? Und es sind auch Gedanken, die auch wirklich ALLES sind. Ich frage mich häufig, bin tatsächlich ich, der das denkt. Was ist real? Bin ich real? Oder denke ich schon als Toter? Ich bin froh, in meinem früheren Leben Drogenerfahrungen gemacht zu haben. Weil, wenn das nicht so wäre, könnte ich mit diesem Zustand überhaupt nicht umgehen. Ich weiß, es ist die Krankheit, das Arsenal an Medikamente, das ich täglich in mich hineinstopfe, die mich in diesen Zustand bringen. Ich weiß, dass wird alles vorbei gehen. Wenn ihr heute Moren aufwacht, seid dankbar für das Aufwachen. Blickt euch um, fasst euch an, freut euch, dass ihr ausgeruht seid, und freut euch vor allem, dass ihr keine Mülltonne seid.