Tag 60, Sonntag 17.07.2011 (Tag 11, Chemo-Zyklus 3 - Ablasie)
Diesen Tag 60 müsste ich eigentlich mit Sekt begießen. 2 Monate Therapie und ich lebe noch. Und das ziemlich anständig. Das bisschen Fäulnis in der Fresse, lassen wir jetzt mal außen vor. 2 Monate, die mein Leben so auf den Kopf gestellt haben, dass ich die normale Aus- und Ansicht gar nicht mehr genießen will. Von unten lassen sich viel besser Veränderungen angehen. Ich spreche immer davon, dass ich mir Normalität wünsche, aber will ich das überhaupt: normal. Was ist normal? Nomal war doch Apathie, Trott und Brett vor der Rübe. Nein, ich will Aufbruch, Veränderung, Weitblick, Überblick. Immer stärker krabbelt der Gedanke in mir hervor, dass ich was komplett Anderes machen muss. Sowas wie einer, der seinen ganzen Reichtum verschenkt und ins Kloster geht. Ins Kloster gehen würde ich nicht. Den ganzen Tag nur mit mir alleine finde ich ziemlich öde. Dauer-Ablasie sozusagen. Helfen möchte ich. Bewegen. Den Schwachen. Den Ärmsten. Ein Stück von meiner Gabe, was auch immer die ist, weitergeben. Man könnte sagen, dann bleib doch Lehrer in Wörth, da gibt es viele Kinder, die auch deine Hilfe benötigen. Brauchen sie wirklich meine Hilfe? Schule wird schnell zu Trott. So vel kann man als Lehrer auch nicht bewegen. Elternhaus und Jugendamt sind immer noch maßgebende Institutionen, die oft nicht nach dem gesunden Menschenverstand vorgehen. Klar, ich kann den Kids den Konjunktiv beibringen, erzählen welch toller Hecht Goethe war, das Denken trainieren (Gott, ich mit meinem Chomo-Hirn, da lachen ja die Synapsen). Was kommt am Ende raus: Ein Bericht in der Zeitung, dass unsere Schüler nicht ausbildungsreif sind. Klasse! Ich bin ein Teil unseres Systems. Keine Frage. Wer sich ein Iphone zulegt, muss ganz schön die Klappe halten, wenn es darum geht, die Bedürftigkeit anderer zu hinterfragen oder die westliche Dekadenz zu kritisieren. Wenn man sich überlegt wie viel die Familien am Horn von Afrika brauchen, um den nächsten Tag zu überleben und ich mir die Wampe voll haue, als gebe es kein Morgen mehr, dann wankt das ganze Selbtfindungs-Gerüst erheblich. Wir brauchen nicht Lotto spielen, wir, die wir das Glück haben auf die Nordhalbkugel geschmissen worden zu sein, haben jeden Tag 6 Richtige mit Zusatzzahl. Meine zusätzliche Zusatzzahl: verbeamteter Lehrer auf Lebenszeit. Welche Sicherheit in einer unruhigen Zeit. Der Gedanke, dass man dennoch nicht das richtige Leben lebt, habe ich schon lange. Ich war glücklich, Lehrer sein zu dürfen. Wer meine Biografie kennt, weiß, welch ein langer und harter Weg das gewesen ist. Ich hatte eigentlich "meinen Sinn des Lebens" gefunden. Und wer kann schon von sich behaupten, dass er jeden Tag erfüllt und zufrieden von der Arbeit nach Hause fährt. Man kann von dem Stuttgart-21-Rummel, dem Anti-Atomkraft-Geschwafel, den arabischen Revolutionen oder dem griechischen Pleitegeier halten was man möchte. Eins ist zu erkennen, dass sich viele gerade auf dem Weg machen, anders zu denken und vielleicht auch zu leben. Man hat doch das Gefühl, dass es mehr im Untergrund brodelt. Ein Tanz auf dem Vulkan. In so einer chaotischen Zeit, Krebs zu kriegen, das mischt das Blutbild nochmal zusätzlich kräftig auf. Ich sehe es in Marmor eingemeißelt vor mir. "Ich habe nicht Angst vor dem Tod, ich habe Angst, dass ich den Krebs überlebe, und es hat sich nichts, gar nichts in meinem Leben verändert." Ich weiß, ich weiß, man darf sich nicht überfordern, unterfordern aber auch nicht. Wenn die ganzen Helfer in den Kriesenregionen dieser Welt sieht, dann überlegt man doch: Warum machen die das? Warum sind die da, wo ich eigentlich sein möchte? Warum haben die Eier in der Hose und ich nur eins? Westliche Erziehung und Bequemlichkeitsdenken ist auch denen widerfahren. Das Argument zählt nicht. Warum kriegen die ihren Arsch hoch und ich nicht? Ich werde geheilt, mir wird somit ein zweites Leben geschenkt. Ich muss damit was anfangen. Ich kann dieses Glück nicht einfach verpuffen lassen. Das wäre so, als würde mein neues Iphone beim Im-Stehen-Pinkeln ins Klosett plumpsen.
Sonntag, dieser Eintrag passt irgendwie für den Tag. Den Kirchgang könnt ihr euch sparen. ;-)
Ihr wisst, was jetzt kommt.
Außer ihr habt mal wieder meinen Blog nur oberflächlich überflogen. *schimpf, schimpf*
Jau..E? B? Na, dämmerts.
Ist das nicht ein tolles Video, da kommt man doch automatisch gut drauf und grinst wie ein Honigkuchen-Pferd.
Grey's Anatomy, Folge 18, gerade beim Frühstücken geguckt und nicht zum Frühstücken gekommen. Hammer! Eine Folge für alle Liebenden auf dieser Welt!
Was für ein Wetter, gut, dass ich mich in der Aplasie befinde.
Tja, was will man machen, wenn man so den ganzen Tag alleine mit sich ist - vielleicht auf dem "'Blauen Sofa" Platz nehmen?
Der Schlaue Kopf Biedenkopf und die Ernährungsmissionarin Duve reingezogen.
Siehe www.das-blaue-sofa.de. Toller intellektueller Zeitvertreib.
Also heute war das keine Gourmet-Küche und ob ich "anständig" gegessen habe, weiß ich auch nicht so recht. Nach Duve wahrscheinlich noch viel zu viel Tierprodukte.
Rezept:
Nehme einen großen Topf und werfe folgende Zutaten hinein.
Wähle einfach Dinge aus, die du zwecks Verfallsdatum aufbrauchen musst.
Meine Zutaten sind:
- Karoffeln
- Linsen
- Saure Gurken
- Weißkohlsalat
- Schafskäse
- Dill
- Bärlauch
- Gemüsebrühe
- Soja-Sauce
- Salz und Pfeffer
- Creme Fraiche
- Tomatenmark
- Schuss Rotwein
Stelle Topf auf den Herd und bruzzel das das Zeug ca. 45 Minuten durch.
Gebe dem Gericht einen Namen, der zum Ausdruck bringt, wie es im Topf so dahinköchelt: Nenne es demzufolge "Mitsch-Matsch".
Wenn es schmeckt sei froh, wenn es nicht mundet, sei glücklich, dass du Nahrung zu dir nehmen darfst. Da mein Geschmacksnerv einen kompletten Aussetzer hatte, fand ich das Gericht wahrscheinlich super-lecker.
Meine Mundwinkel lösen ich in ihre Bestandteile auf. Diesmal beide Seiten. Letzter Zyklus faulte nur eine Seite vor sich hin. Bekomm die Gosch nur auf 45 Grad geöffnet. Beim Zähneputzen fließt Blut. Wahrscheinlich mein restliches. Bekomm ich aber durch Mundspülungen recht schnell wieder in den Griff. Mundwinkel-Kamille-Bad tat auch ganz gut.
Ansonsten ist mein Zustand stabil.
Letzte Vitalwerte:
- Blutdruck 133/74
- Puls 90
- Themparatur 36,5. Im Laufe des Tages stieg die Temperatur auch
schon auf 37,1.
- Schwindel und Sehschwäche halten sich in Grenzen. Hau mir nur ab und
zu Hirn und Harnröhre an.
Bin gepannt, was die Blutwerte morgen sagen. Hätte einiges auswärts zu erledigen. Schätze Schnarchnase Schlemensch braucht noch einen Tag, um die Nachwehen vom Brauereifest in Bellheim auszukurieren. Mac Gyver muss seine Bude bebauen. Also werde ich mich morgen wieder im Restekochen üben.
Hau mich in die Falle. Mir fallen die Augen zu, ich hoffe sie bleiben auch für die nächsten 8 Stunden niedergeklappt.
Wieder ein Tag überlebt.