Tag 59, Samstag, 16.07.2011 (Tag 10, Chemo-Zyklus 3)
Wahnsinn, 6 Stunden durchgeschlafen. Kein Tiefschlaf zwar, aber immerhin.
Mein Mund verabschiedet sich wieder. Den Schleimhäuten ist es zu langweilig bei mir. Bin gespannt, wann die Telekom mein Iphone freischaltet. Dann geht's ab, dann bin ich unterwegs immer up to date. Kann ich mir von unterwegs Heilkräuter und Rote-Beete-Saft bestellen. Gott, dieses heilige Gerät in den Händen eines "Destroyers". Das wird auch eine elementare Herausforderung für mich werden. Technikaffin zu sein, aber jedes elektronische Gerät nach einer kurzen freudigen Phase des Neuerwerbs dann doch gleich wieder zu schrotten, ist gelinde gesagt ein bisschen unbefriedigend Im Prinzip ist es eine Frage der Zeit bis es meine Toilette flutscht. Aber ich geb mir Mühe. Ein Ledereinband hat es schon mal.
Nochmal zu Enno Bunger zurückzukommen.
Ihre im letzten Jahr veröffentlichte Platte habe ich gestern ca. 10 mal komplett durchgehört. Musik hat mich selten so mitgenommen und inspiriert. Liegt natürlich auch an meinem stark sentimentalen Weichspüler-Gemüt zur Zeit. Metalillica-Fans würden den 3 intellektuellen Milchbubis von Enno Bunger wahrscheinlich den Metal-Stinke-Finger zeigen ("sick and destroy", yey...). Ist das Schizophren? Ein Leuchten in den Augen zu bekommen, wenn James Hetfield zur Gitarre greift und gleichzeitig bei den Melodien und Songtexten von Enno Bunger dahinzutriften, wie ein Fan von Andre Rieu in einem seiner Wiener Walzerkonzerten. Ich habe selten so stimmige deutsche Liedtexte gehört. Einfach strukturiert, ohne großen Pathos, Worte, die du und ich wählen könnten, und es doch so schwer ist, sie zu finden. Melodien dann drüber zu legen, die einen dann noch gefangen nehmen, und nicht in den Tänendrüsen-Kitsch a la Xavier Naidoo verfallen. Welch eine Kunst! Herausragend! Wir Menschen lassen es zu, das Kinder zu Tausenden gerade - in diesen Sekunden - in Afrika verdursten. Sind nicht fähig, diese Weltkatastrophe zu beseitigen und schaffen doch immer wieder unfassbar Unerreichtes, jeden Tag tausend Wunder in Kunst, Physik, Medizin und Technik entstehen zu lassen. Haben so viel Gutes in uns. Das ist nicht zu begreifen. Wenn man diese Lieder hört, möchte man sofort seine Sachen packen und dieses Gute in die Welt tragen. Ennos Bungers Songs sind voller Hoffnung und Wahrhaftigkeiten. Sind für Zuhörer gedacht, die denken und fühlen können. Die Zeit finden, sich auf das Wesentliche des Lebens endlich zu besinnen. Die noch keinen Mut haben, eine Verwandlung vorzunehmen, aber Veränderung zulassen wollen. Enno Bunger sind nicht nur für krebskranke Sozialkundelehrer interessant, so hoffe ich doch. Ich habe mir nun überlegt, dass ich jeden Tag ein Lied von "neuen Lieblingsband" hier niderschreiben werde. Somit quasi eine kleine Enno-Bunger-Andacht zelebriere. Vielleicht schnappt ihr euch einen Kaffee und schenkt den Worten drei Minuten eure Aufmerksamkeit. Die in sich ruhenden Metallica-Fans unter euch, dürfen natürlich ein Bierchen schlürfen dabei den Bass etwas höher drehen. Nun, viel Besinnung mit ...Ennnnnoooo Buuuuungeeeer!
Herzschlag
Ein neuer Tag öffnet mir meine Augen
Alles strahlt in goldenem Licht
Ich bin verwirrt und ich kann es kaum glauben
Ich glaube endlich wieder an mich
Ein weiter Weg liegt noch vor meinen Augen
Es ist nicht wichtig wohin er führt
Ich werde aufhören an mir zu zweifeln
Nicht länger warten. Der Weg ist das Ziel.
Und mit jedem einzelnen Herzschlag fühl ich mich wie neu geboren
Ich hör nur auf das was mein Herz sagt
Und habe alle Angst verloren
Ich sehe Bilder vergangener Zeiten
Alte Bilder, bedrückend und schwer
Doch ab hier beginnt ein neues Kapitel
Und alle Seiten sind leer.
Und mit jedem einzelnen Herzschlag fühl ich mich wie neu geboren
Ich hör nur auf das was mein Herz sagt
Und habe alle Angst verloren
Und mit jedem einzelnen Herzschlag fühl ich mich wie neu geboren
Ich hör nur auf das was mein Herz sagt
Und habe alle Angst verloren
Ich habe alle Angst verloren
Und fühle mich wie neu geboren
Der Tag.
Hmmm...was hab ich gemacht heute?
Auf jeden Fall bin ich nicht vor die Türe gegangen.
Isolation ist Isolation! Man weiß ja nie welche Keimlinge da einem begegnen.
Mein Gesundheitszustand ist stabil. Die üblichen Wehwehchen in der Ablasie: wunde Mundwinkel, geschwollenes Zahnfleisch, laufende Nase, dicke Beine und Birne, Atemnot, Schwindel, Schlappheit. Aktueller Themperatur 36,5., Blutdruck 134/76, Puls 93.
Langweilig war mir nicht: Mit dem neuen Iphone geht das gar nicht. Allein der Adressabgleich hat zwei Stunden gedauert. Coole Apps finden und runterladen, braucht natürlich auch seine Zeit:-)
Kochen, essen, Haushalt, Buchhaltung, Telekom-Hotline, Yoga Nidra, Meditation...das verballert auch genügend Lebenszeit. Ein Quatscherchen mit Onkel Schlemensch über Liebe, Lust, Leid, Leben und Leute hat mir kurzfristig das Gefühl gegeben, ein Mensch mit Stimme und Stammhirn zu sein. Zentrale Erkenntnis aus dem Gespräch mit meinem Haus-Psycho-Analytiker: Wäre richtig Scheiße, jetzt den Löffel abzugeben, wo ich doch so auf den Pfad der Selbstfindung wandle. Da geht einem nach 42 Jahren ein Licht auf, um dann doch gleich wieder auszugehen. Richtig doof wäre das. Als ob man sich aus dem brennenden Auto retten würde, um sich dann sich dann von einem Truck überfahren zu lassen. Prinzessin Uteb hat mich im Laufe des Tages digital über Wetter, Grünkohl und Zwetschgenkuchen aufgeklärt, so schwirrte immer auch ein bisschen Liebe in der Bude umher. Enno Bunger lief natürlich auch das eine oder andere Mal. An einem Gedichtchen gefeilt, tja, ein Gottfried Benn oder Rainer-Maria Rilke werde ich wohl nicht mehr in diesem Leben. Lyrische Herausforderung: Was reimt sich auf Kloschüssel? Aber von meinen Wehwechen abgelenkt hat es mich auf jeden Fall.
Zivi Schlemi kaufte mir dann noch ein paar Kühlschrankutensilien ein. In der Ablasie muss der Kühli unbedingt voll sein, sonst werden die 280 Leukos richtig sauer und streiken womöglich noch.
Jetzt mach ich die Kiste aus. Muss auch mal zur Ruhe kommen. Wie ich mein Glück kenne, explodiert bald der Lüfter.
Ein bisschen in Wilhelm Genazino lesen. Ein wunderbarer Schriftsteller, der ideal zu Enno Bunger passt. ;-)
Ein kleine literarische Kostprobe gefällig.
"...Vor ungefähr 15 Jahren stellte ich mir einmal vor, daß links und rechts meines Sterbebettes je eine halbnackte Frau sitzen sollte. Ihre Stühle sollten so nah an mein Sterbelager herangerückt sein, daß es mir leichtfiele, mit den Händen die entblößten Brüste der Frauen zu berühren. Ich glaubte damals, mit dieser körperlichen Besänftigung würde mir die Zustimmung des Sterbens besser bekommen. Fast jeden Tag habe ich mir überlegt, welche von den mir bekannten Frauen ich vorsorglich fragen sollte, ob sie, wenn es soweit ist, zu diesem Sterbedienst bereit wären. Ich erinnere mich, daß ich es damals am besten fand, zunächst Margot und Elisabeth zu fragen. Beide Frauen war, wie soll ich sagen, schon zu Lebzeiten möglich, mich auf vollkommen untätige Wiese zu besänftigen, und zwar dadurch, daß ich sie anschaute und gelegentlich berührte. Ich stehe an einer Straßenbahn-Haltestelle und warte auf die Linie 11, mit der ich (vermutlich) dann doch nicht nach Hause fahren werde. Rings um mich warten junge und ältere Frauen und ein paar Männer. Die Frauen tragen Blusen, die im Wind flattern, beziehungsweise wedeln. Mir fällt auf, daß die Frauen heute nicht mehr wie früher den Blusenausschnitt vorne tragen, unterhalb des Halses, sondern seitlich unterhalb den Achseln. Seitlich angeschaute Brüste wirken auf mich viel mütterlicher als direkt von vorne angeschaute. Vermutlich ist es so, daß ich mich bei seitlich angeschauten Brüsten immer weiter aus meinem Leben entferne und eines Tages ganz verschwinden. Ich überlege, warum ich eigentlich von der Idee der Sterbenbusenbegleitung, nein, der Busensterbebegleitung, nein, des Busenberührungssterbens wieder abgekommen bin. Je länger mir die Erinnerung durch den Kopf zieht, desto stärker sympathisiere ich wieder mit ihr. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals Susanne gefragt habe oder nicht. Ich sammle jetzt doch Gründe dafür, warum es für mich sinnvoller ist, auf der Straßenbahn zu verzichten. Ich bin so stark in die vergangenen und kommenden Fragen meines Lebens verstrickt, dass es ganz töricht erscheint, mich mit diesen Fragen in die Enge einer Straßenbahn zu begeben. In der Straßenahn kann ich nichts tun außer Straßenbahn fahren. Nein, ich muss aufpassen, daß ich nicht mit einem Rentner zusammenstoße oder über einer sitzenden Frau zusammensinke. Da kommt die Linie 11, die Straßenbahn-Türen öffne sich, die Frauen greifen nach ihren Einkaufstaschen. Ich sehe dabei zu, wie all diese Menschen, die für Eroberungen ganz unbegabt sind, in die Straßenbahn stürzen und jetzt doch einen Sitzplatz erobern wollen. Ich bleibe draußen stehen, die Straßenbahn fährt wieder an, ich werde die vier oder fünf Stationen zu Fuß zurücklegen...“
(aus: Ein Regenschirm für einen Tag von Wilhelm Genazino)
Wunderbar, oder? Zurecht Büchner-Preisträger 2004. Und ich hab den gar nicht gekannt. Tzzzz...
Meine ureigene Sterbephantasie (die ich schon als Jugendlicher hatte) ist, dass der Mensch, der mich am meisten liebt, mich nackt ganz fest umschlungen hält. Und mich streichelt bis die Engel kommen. Auch ich habe die naive Vorstellung, dass dadurch das Sterben irgendwie erträglicher wird. Aber das ist wie mit der Geburt in der Badewanne. Auf dem Papier hört sich alles so schnucklig an, und am Ende findet man es dann doch nur ätzend.
So, jetzt lass ich euch in Ruhe mit meinem Geschwafel.
Vielleicht habt ihr aus dem heutigen Tag mehr rausgeholt als ich.
Würde es euch von Herzen wünschen.