Tag 40, Montag, 27.06.2011

(Tag 13, Aplasie - Chemo-Zyklus, 2. Runde)

 

3.02 Uhr. Ich weiß nicht, ob mich die Wehen oder das Brummen aus Roy Traegers Disco-Wumme wach gemacht haben. Roy Tragers Wumme ruht nun, aber meine Wehen knallen umso heftiger. Yeaah, Babbys kommt raus, zieht in die weite weite weite Schnuriwelt. Bin ein Rodeo, der sich wacker auf seinem Plastikpferd hält, noch kein Abwurf, erst wenn er sich eine Paracetamol zwichen die Zähne packt, heißt es, dass er auf seinem Hintern gelandet ist. Ich will noch nicht betäubt sein. Yeah, immer weiter weiter. Schwung hier, Schwung da, Arm raus, links, rechts, kreisen, Yiiiipie...Hüftknochen, rechts, links, kreisen....Autsch...verschoben...bissel arg gekreist, Geronimooooo....100. 200, 200, scheiße verzählt, 300, 400, 500, 600, 700, 800, 900, 1000,...ich seh sie alle...Ja, Babbys kommt zu eurem Daddy.

Nein, ich will noch kein Burbon, kein Rinosleder, ich bin doch nicht im Westerwelle-Land, ich bin im Wilden Westen, ich bin ein Kuhjunge, ein verdammt ultra-harter Kuhjunge, kein Schmerz besiegt mich..noch nicht...1100, 1200, 1300, ...ooooh..., aaahhhh...uhhhhh...ihhhh....

 

 

 

 

 

 

Ihr wollt wissen, wie sich der Schmerz anfühlt?

Stellt euch so ein Plastik-Schnellhefter vor, mit einem Pappstreifen, der zur Beschriftung fungiert. Dieser schmale Pappstreifen stellt nun eure Wirbelsäule dar. Ich bin meistens zu blöd, diesen Strefen ohne Knick wieder in seine Vorrichtung zu schieben. Das konnte ich schon als Schüler nicht. Visualisert nun so einen Typen wie mich  - was an dieser Übung wohl das Leichteste ist -, der ständig planlos und immer hektischer werdend an den Kanten eurer Wirbelsäule rumzuppt. Stück für Stück. Entscheidet selbst, wen wollt ihr töten, euch oder diesen zupfenden Trottel?

 

 

Cowboy Schnuri liegt noch nicht im Staub, aber seine Knollennase riecht schon an den Partikeln. Halleluja...es war der heißeste Ritt seines Lebens und wird in die Geschichte des Nußdorfer Rodeos eingehen. For ever!

 


 

 

05.27 Uhr. Die Wehen sind mittlerweile erträglich. 500 mg Paracetamol wirken Wunder. Mein Hirn gibt leider keine Ruhe. Bach und Yoga Nidra haben da auch nicht geholfen. Also doch wieder ein paar Gedanken von mir. ;-)

 

So viele Ideen.


Hab so viele Ideen, Geschichten, Gedankensplitter im Kopf. Mit der Anzahl meiner gerade geborenen Leukozyten vergleichbar. Wie treffe ich da nur die richtige Auswahl. Moral versus Authentizität versus Heilungsanspruch. Meine Leser sind aktive und inaktive Rektoren, chinesische Professoren, begnadete Hausmeister, regional und international bekannte Künstler, Pflege-, Herz- und Liebesspezialisten, kirgisische Pfälzer und pfälzische Kirgisen, Hüftkranke und Taube, spannische Lesben und schwäbische Schwule, Klippert-Jünger und andere religiöse Fanatiker, Ex-Junkies und Rotweintrinker, Nahe und Ferne. Was kann ich ihnen zumuten? Wo liegt die Schmerzgrenze? Für mich kaum abzuschätzen, ich habe keine. Wo fängt die Verletzung an? Wo hört der egoistische Heilungsprozess auf? Jeder hat seine eigene individuelle Schmerzgrenze. Will ich mich selbst in einem negativen Licht sehen, auch wenn dieses Licht nur eingebildet ist oder von mir missverstanden wird? Der viele Zuspruch hat mich immer wieder darin bestärkt weiterzumachen; Kritik, Ignoranz und Ablehnung haben mich immer in Zweifel gestürzt. Der Unterschied zwischen einem professionellen Schreiberling und einem Hobby-Poeten besteht darin, dass er nicht nur in Extremzuständen seine Geschichten aufschreibt, sondern sich auch in seelischer Ausgeglichenheit der Welt mittteilt. Ich habe (meist) in extremen Umständen geschrieben. Liebe, Hass, Existenzangst, Selbstfindung. Viele Gedichte und einige Kurzgeschichten sind da entstanden. Das war immer auch ein Stück Therapie. Und jetzt ist das Schreiben nicht nur Therapie, sondern auch Obsession. Es ist so, als könnte dadurch meine Seele unsterblich werden. Als wäre ich Rimbaud, Benn, Kafka und Bukowski in einer Person. Künstlerisch natürlich ein Regenwurm, aber als Mäuse würgende Boa Constrictor seelenverwandt. Werde ich aufhören zu schreiben, wenn ich geheilt bin? Ich schreibe wiederholt Gedichte, werden sie wieder für Jahre in der Schublade verschwinden? Ein Gedanke, der nicht akzeptabel ist: Ich will nicht geheilt werden, weil ich dadurch meine Obsession verliere. Aber da wird sich schon eine vernünftige und lebbare Lösung finden. Oder, was meint ihr?

 

 

Der Finger in die Wunde

 

Ich war immer einer, der bei anderen all zu voreilig den berühmten Finger in die Wunde gelegt hat. Und habe mich dann gewundert, wenn man mich als Zyniker, arrogant und anstrengend wahrnahm. Ich, der bei einer Folge von Landarzt Rotz und Wasser heult, der sich durchs Geben eher als durchs Nehmen definiert. Ein arrogantes Arschloch. Schrecklich. Dieses alles sagen, dieses pathologische Fehlen von Peinlichkeitsempfinden, verbunden mit dem Risiko den anderen irreparabel zu verletzen, das will ich nicht mehr. Das hat natürlich auch einen erheblichen Teil vom Schnur ausgemacht. Für diesen Zug bin ich nicht nur gehasst worden. Aber es ist nicht der richtige Weg, kein pädagogischer Weg, es ist die Holzhammer-Methode, und die führt zu nix. Man muss so geschickt mit dem Gegenüber umgehen, dass er selbst erkennt, was er verändern möchte und ob er überhaupt etwas verändern möchte. Und wenn er seltsam und unverständlich bleibt, dann ist das eben so. Wir sind doch alle defizitäre Kreaturen. Keiner ist besser als der andere. Ich will, dass jetzt alle sagen, hey, da kommt der nette Kerl, und nicht, da kommt wieder der anstrengende Finger-in-die-Wunde-Leger, dem nichts peinlich ist. Jetzt werden so manche sagen, was für ein langweiliger Charakter. Lieber ein langweiliger netter Kerl als ein spannendes cooles Ekelpaket. Keine Sorge, so ein bisschen Schnur kriegt ihr trotzdem immer wieder ab. Heilung ja, aber eine Mathamorphose würde auch alle Beteiligte überfordern. 

 

 

 

Okay, zweimal der alte Schnur. So schnell geht das nicht mit der Metamorphose. Eine Geschichte und ein Experiment.

 

 

Das Leben ein Plastiktitte ist auch nicht so wirklich angenehm

 

 

Da kriech ich zuerst zur Blutabnahme und dann zum Briefkasten, hole die vielen Liebesbriefe von Kliniken, Anwälten, OFDs, ZBVs, LVAs, LKAs und mecklenburgerischen Halbschwestern, lege, so wie ich es immer mache, ein paar von diesen Liebesbriefen – Freundschaft heißt auch teilen – auf die Theke des „Löwen“ und dabei stolpern plötzlich meine Augen über eine wabernde Plastiktitte. Ihr habt richtig gelesen: PLASTIKTITTE. Verwirrt schaue ich umher. Bin ich vielleicht in meinem Paracetamol-Wahn (die 4. hätte ich vermutlich doch nicht nehmen sollen) im Landauer Sex-Shop gelandet. Nein, Schwarze Fliegen, Dildos, Muschis und nackte Omis in schmutzigen Stellungen hängen hier nicht rum. Sondern nur die armselige Gummi-Titte. Ich stutze, denn ich höre sie berlinerisch flüstern: Icke bin Titti, und wer bisn du? Ich trete näher. Ich denke. Ich grüble. Denke mehr. Grüble mehr. Ich bin ein verbeamteter Lehrer, ein Staatsdiener, lebe in einer festen glücklichen Beziehung, bin 42, setzte mich (meistens) beim Pinkeln auf die Schüssel, nicht daneben, putze regelmäßig meine Füße und gehe keinen sexuellen Perversionen außerhalb des eigenen Schlafzimmers nach. Die Frage liegt auf der Hand: Darf ich diese steife Plastiknippel zwirbeln? Die arme Titte! Wie viele Männer haben sie wohl am gestrigen Abend sabbernd malträtiert? Wie viele Männer waren nicht mehr Herr ihrer Sinne und kneteten die bedauernswerte Titte so lange bis ihr Tränen aus der Latex-Haut quollen? Wie viele Frauen erklären sich bereit, in Haus Nr. 46 den ultimativen Plastiktitten-Echtheitsvergleich durchzuführen? Ich brauche nicht zu testen, kein Vergleich! Die Plastiktitte ist definitiv kein Risiko für die Frauenwelt. Ich werfe der Titte Wackel-Dackel-Kopf-schüttelnd einen letzten Gruß zu, wünsche ihr beim Hinausgehen einen knetfreien schönen Tag und krieche stolz die Treppe hoch.

 


 


Das spontane Experiment


Ich gehe mit voller Quarantäne-Montur ins „Nußdorfer Lädle“. Mein Mundschutz sorgt für lauter Fragen im Kopf der verwirrten Kunden und Theken-Verkäuferinnen. Ich mache einen auf Vettel, will hier schnell wieder raus, um mich nicht mit Demenz anzustecken. Noch weiß ich nicht, dass ein Experiment stattfindet. Stehe an der Kasse, schmeiß meine Verpackungen und einen Schein auf das Band, wollte schon „stimmt so“ murmeln. Da fragt die Kassiererin todesmutig: Oh, was haben Sie denn? Millisekunden an meine Worte von heute Nacht gedacht. Begriffe wie Wandlung, Zurückhaltung und Schmerzgrenze rasen durch meine Hirnhälften. Ich: Krebs!

Experiment misslungen.

Schlimmer: Ich grinse.

Erkenntnis: Metamorphosen sind doch nicht so schnell zu haben.

 

 


 

 

Hilfeeee...die Bellheimer Lord-Gang veranstaltet im Haus 46 eine Loveparade. Hab irgendwann mal geschrieben, dass ich auf keinen Fall wieder für ein paar Tage in die Klinik will. Diese Entscheidung überdenke ich nochmal. Keine sensible Pflegekräfte hier, alles übersensible Handwerker und Hausmeister.

 

 

16.10 Uhr. Das mit der Klinik hat sich schneller ergeben als gedacht.

 

Diesmal sind die Thrombozyten das Problem. Sie sind bei 16 und damit viel  zu niedrig. Wenn ich über das Staubsaugerkabel stolpere und mir eine Schnittverletzung durch das Saugrohr zufüge, verblute ich auf der Stelle.

Wäre eine Riesenschweinerei, das kann ich den Jungs (siehe oben) in ihrem jetztigen Zustand nicht zumuten.

Schlemensch fährt mich morgen um 09.00 Uhr. Dann trink ich ein bisschen Blut. Au ja, das gibt bestimmt wieder nette Storrys. Schätze eine Geschichte hat dann Titel schon gebucht: Dracula! ;-)

 

Eine gute Nachricht noch zum Schluss, Leukos sind bei 2200. Na, hat sich der gewaltige Rodeo heute Nacht doch tatsächlich gelohnt.