Tag 28, Mittwoch, 16.06.2011 (Tag 0 / 1 Chemozyklus 2. Runde)

 

 

Chemo, oh Chemo

Du machst mich so froh.

Kein besseren Stoff

als Etoposid und so.

Chemo, oh Chemo,

Du machst mich heiter

Ja, so geht’s hoffentlich

immer weiter.


Chemo, oh Chemo

Liebesglück, Wahrheitsblick

und bloß kein Zoff,

das ist es, was ich mir

von dir

erhoff'.


Chemo, oh Chemo

aber nicht allein,

kannst du’s richten

für mich.

Meine Selbstheilungskräfte,

lieben auch deine Säfte

ohne dich.

Du schärfst mein Verstand,

alles liegt in meiner Hand.

Ich mache dies und das,

und weiß ich was.

Nein, nicht für dich und so.

Chemo, oh Chemo,

du machst mich froh.

 

01.36 Uhr

 

 

Ich weiß, was ihr jetzt denkt, jetzt reimt er durchgeknallte Typ auch noch.

Musste irgendwie sein, heute. Weiß nicht warum. Hab schon lange kein Gedicht mehr geschrieben. Na was meint ihr, sollte ich das Dichten vielleicht doch eher lassen? ;-)

 

Was hab' ich  da gedichtet?: Chemo, oh Chemo, du machst mich froh.

Also das kann ich jetzt gerade nicht sagen. Ich kann nicht schlafen, vor allem nicht weiter. Als ich von meinem riesen Chemo-Tag endlich so gegen 18.00 Uhr zuhause war, musste ich sofort ins Bett. Koma. Bis 23.30 Uhr durchgeratzt.

Mit einem Schädel, der groß war wie ein Medizinball und so schwer wie eine Eisenkugel aus der  Zeit des Alten Fritz, endlich aus dem Schlaf erwacht. Als hätte ich mir gestern bei der Fete einen Jahrhundert-Kater eingefangen, was mit Clausthaler kaum möglich ist. Das Spiel beginnt von vorne. Leichtes Kotzgefühl. Geschmack wie nach dem Kübeln. Einige bunte Sterne sind dazugekommen. Sind ja echt schön anzuschauen, aber wenn sie so gar nicht mehr weg gehen, dann nerven sie eher, vor allem beim Tippen hier. Aber ich will jetzt mal nicht jammern, sondern chronologisch vorgehen.

 

Der Tag

 

Schlemensch hat sich wieder erbarmt, mich nach Heidelberg zu fahren. Und das nach zwei Flaschen köstlichen Holundersekt am Vorabend. Respekt, mein Alter! Master Schlemensch ist nicht nur der beste Haus-Mitbewohner, sondern auch noch der best Taxidriver ever. Da aber die Zeit doch recht knapp war heute Morgen, mussten wir noch einen kleinen Stopp an der Raste machen. Dank den tollkühnen Fahrkünsten des Taxifahrers kam es aber dennoch zu einer 1 a Punktlandung.

 

Nach einer herzzerreißenden Verabschiedung schlich ich die Kliniktreppen zur Tagesklinik hoch, weil ich irgendwie so gar keine Lust hatte auf die bunten Beutel. Hab ja schließlich geahnt, dass das kein Zuckerschlecken wird heute. Oder lag's vielleicht doch an meiner desaströsen Kondition?

 

Wie immer netter persönlicher Empfang an der Pforte. Und wie immer erst mal warten. Hab mir heute ganz besonders die Mitpatienten angeschaut.

War noch nicht in Stimmung irgendwas Produktives zu verrichten. Aber auch dieses Beobachten alleine nahm mich schon ziemlich in Anspruch. Denn, was ich da alles sah, musste unbedingt abgespeichert und - klaro - dokumentiert werden.

 

Patient 1: Der Riese mit dem Aktenkoffer

 

Der Riese mit dem Aktenkoffer war ein älterer Herr, mit einem Strohhut. (Nein, nicht Alwin, liebe Kollegen!) Alwin konnte er gar nicht sein, da er einen Besenstil aus Holz wohl im Rücken hatte. Der Riese hatte dies bestimmt nicht im Sinn, aber durch sein lautes Organ schrie er die Arzthelferinnen an der Pforte so an, dass die erstmal ihren ganzen Papiergram vor Schreck von der Tischplatte fegten. Einzelne Zotteln lugten aus dem viel zu großen Hut hervor. Dies machte den Riesen nicht gerade freundlicher. Sah eher dem "Lezten Patienten" ähnlich. Nun gut, wenn ich noch nicht wach gewesen wäre, dann spätestens als dieser Riese den Wartesaal aufmischte. Er schnappte sich zugleich den nächsgelegenen Stuhl; dies wirkte ungefähr so, als ob er ne Tageszeitung aufgenommen hätte.

Er nahm wie ein Roboter auf Exctasy Platz und saß so aufrecht da, wie ich noch nie einen Menschen aufrecht sitzen gesehen habe. Dabei hielt er seinen Aktenkoffer ganz fest an sich gepresst. Mir schoss gleich durch den Sinn, was da wohl drin ist. Vielleicht seine Zwergenfrau, die er aus überbordener Liebe dort reingehekselt hat? Auf jeden Fall, als wäre das der Skurilität nicht schon genug gewesen, da redete er die ganze Zeit auch noch mit sich selbst und schüttelte seinen Riesen-Schädel: "Verrückt, das ganze, verrückt, alles verrückt." Bow, ich glaub, der hat auch so ein paar Baustellen noch zu beackern.

 

Patientin 2:

Die Kinderbuch lesende Piratin mit dem Wackel- und Zucktick.

 

Patientin zwo war gegen den Besenstil-Riesen eine ganz harmlose Nummer. Und trotzdem erwähnenswert. Sie trug ein sehr sehr sehr schrilles Kopftuch, das wie eine Priatenhaube gebunden war. Käptn Jack Sparrow hätte seine helle Freude gehabt und auf jeden Fall mit einem Fläschchen Rum auf die Gedundheit der Dame angestoßen. Sie las zuerst ein dünnes Heft, das so dünn war, dass ich mir nicht vorstellen konnte, was sie darin wohl Spannendes zwanzig Minuten überhaupt zu lesen hatte. Danach holte sie ein Kinderbuch aus ihrer Blumen verzierten Jutetasche. In diesem Buch las sie auch genauso intensiv wie im Heftchen. Ich konnte nur Enten und Frösche erkennen. Frösche, cool, da war sie mir natürlich sofort sympathisch. Ansonsten war sie auch wie ein Pirat gekleidet, hatte eine löchrige Jeans an,  ein Schlapper-T-shirt und völlig verrammelte Treter. Eine gediegene Wampe quoll auch dezent aus ihrem Hosenbund hervor. Für diese Wampe war sie eindeutig zu klein. Ich musste 45 Minuten warten, bis ich endlich ins Arztzimmer durfte. 45 Minuten saß die Piratenbraut mir gegenüber. 45 Minuten musste ich mitansehen, wie sie mit dem Bein gewackelt hat und ihr Gesicht in hektische Zuckungen geriet, wenn sie wieder mal eine Ente entdeckt hatte.  Nett gelächelt hat sie ja, ein bisschen debil, aber nett. Als ich aufgerufen wurde, bekam ich Panik, weil ich dachte, dass ich bestimmt jetzt auch gleich mit irgendwas rumzucken oder rumwackeln würde.

 

Arzt 1: Der bayerische Inder

 

Der Name des Arztes weist ungefähr 24 Buchstaben auf. Ungefähr, weil ich  mich immer verzähle und weil ich nicht will, dass er merkt, dass ich mich verzähle und somit immer panisch aufhöre zu zählen.

Ein Bayer ist er, weil ich das Gefühl habe, nicht dieser tolle Arzt sitzt  vor mir, sondern der nicht so tolle Franz Beckenbauer. Morgen frage ich Dr. Puh...???, warum er einen bayerischen Dialekt hat. Das interessiert mich. Schon rein beruflich. Ich meine, der checkt mich die nächsten sechs Monate durch, fragt mich, wie mein Stuhlgang aussieht, da kann ich auch fragen, warum er das R so schön rollt, oder? Er ist bestimmt Tamile, die sind doch vor einigen Jahren so zahlreich aufgrund von Bürgerkrieg nach ganz Europa geflüchtet. Bin gern bei ihm. Hat eine absolute beruhigende Wirkung auf mich. Dr. Migeout und er, das wäre ein super Leibärzte-Team!

 

Glaubt mir, ich könnte noch eine paar Personen von heute beschreiben. (Aber die Sterne werden immer bunter!) Alles mordsinteressante Charakteren. Die genervte Schwester Agatha, die in Pädagogik von mir eine glatte 7 erhält, weil sie mir zu frech, Patienten zurecht gewiesen hat. (Nicht mich!) Die süße Schwester Susi, die tatsächlich eine Konkurrenz für mich darstellte, weil sie so verpeilt war, dass sie über meinen Infusionsständer stolperte. Und der nette und kompetente Pflegeschüler, der später Medizin studieren will. Kompetent, weil er so gut alles bei mir machen durfte. Ich hoffe zumindest inständig, dass diese Jüngling heute kompetent war. Oder die ganz in Weiß gekleidete und mit künstlichem Blondhaar versehene Judy Winter, die immer den falschen Knopf bei der Fernbedienung ihrer Liege gedrückt hatte. Das hat genervt, weil sie direkt neben mir lag und ich als Elektriker behilflich sein musste. Manchmal wünschte ich mir, da gibt es noch einen Button, der dafür sorgt, dass das Teil in der Mitte zusammen klappt.

 

Ich möchte nicht wissen, wie andere mich sehen. Der Typ, der seinen ganzen Hausrat mit in die Klinik schleppt, und doch nichts damit anfängt.

Der Typ, der mit seinem Infusionsständer geschätze 200 mal auf's Klo stolpert. Der Typ, der wahrscheinlich schon Metastasen im Hirn hat, weil er sein komplettes Pillenbecherin mit 16 Pillen aif dem Boden plumpsen hat lassen. Nein, ich  möchte nicht unbedingt wissen, was ich über mich an dieser Stelle schreiben würde.

 

Heute war nicht so mein Tag, war irgendwie nur genervt von den ganzen stressigen Rahmenbedingungen in der Tagesklinik. Konnte mich auf nichts wirklich einlassen. Selbst der Fensterblick auf einen wunderschönen Baum konnte mich heute nicht inspirieren. Ich ließ zwar ständig Meditationsübungen und -musik durchlaufen, wurde aber auch immer gestört. Und so laut wollte ich das Meeresrauschen nicht stellen, sonst bekomm ich auch noch einen Gehörsturz zu meinem Elend.

 

Dass Lady I. mich spontan von der Klinik abholen konnte, finde ich ziemlich klasse. Die Abholung war perfekt getimt. Gut war auch, dass wir die Fahrt hinweg nicht besonders kommunizierten, weil ich sonst nicht meine Schläfchen hätte halten können. Schlecht war, dass wir in einen Mega-Stau auf der A6 geraten sind. So haben wir ne Stunde länger gebraucht als vorgesehen.

 

So jetzt ist 3.10 Uhr. Soll ich noch die Bude putzen, Filmchen schauen oder Wäsche zusammen legen? Nein, glaub nicht. Prof. Ho würde mal wieder schimpfen: Hell Schnul, so unvelnünftig, schlimmel schlimmel Bulsche. Nicht mehl schleiben, sondeln schlafen im Schlafzimmel.

 

Dann höl ich mal auf Plof. Ho. Gute Nacht.