Tag 152 - Tag 181

 

Sonntag, 16.10. bis Montag 14.11.

 

 

Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund


Kennt ihr das Gedicht von Francois Villon „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“? Von Klaus Kinski genial interpretiert. Warum muss ich bloß immer an dieses Gedicht denken, wenn ich schlucke und mir dabei mir fast der Hals explodiert. Wild nach meinem Erdbeermund, das ich nicht lache. In den Wochen, die ich jetzt versuche Revue passieren zu lassen, war ich vor allem damit beschäftigt meine Mundprobleme in den Griff zu bekommen. Sie haben sich ja schon vor Spanien angekündigt und wurden nun von Tag zu Tag schlimmer. So schlimm, dass ich die Zahnklinik in Heidelberg aufsuchen musste. Diese Computerstimme aus dem dortigen Parkscheinautomat zu hören – „Vielen Dank für Ihren Besuch, Auf Wiedersehen!“, verursacht bei mir mittlerweile abgrundtiefe Aggressionen. Hätte ich einen Vorschlaghammer im Gepäck würde ich diesem Parkscheinautomaten-Freak sowas von auf die Mütze geben.

Leider konnte mir der süße Zahnklemptner von der Uniklinik auch nicht so richtig helfen. Zwar wurde die Zahnfleischentzündung durch diverse Zahnreinigungen eingedämmt, aber mein Ulkus, der sich durch mein schwaches Immunsystem entwickelt hat, weil es eben die im Mund angereicherten Bakterien nicht in Schach halten kann, konnte Mr. Dentist nicht behandeln. Frustration, Verzweiflung, Selbsthass – alle negativen Emotionen, die ihr euch so vorstellen könnt, machte ich da in aller Kürze durch. Diese dreimalige Mundpflege Tag ein Tag aus, war eine Art Selbstfolter. Hurraaa...ich darf mich mal wieder selbst quälen. Bei jeder Mundpflege dachte ich wiederrum an den „Marathon-Man“. Kennt ihr nicht? Oh, Mann! Kultfilm mit Dustin Hoffman (harmloser Bürger) und Sir Laurence Oliver (NS-Zahnarzt). Sir Oliver spielt einen Nazi-Zahnarzt, der wichtige Informationen aus Dustin herauslocken will, in dem am offenen Zahnnerv rumbohrt und dabei immer fragt: „Sind sie außer Gefahr? Sind sie außer Gefahr?“ Wenn ich mein entzündetes Zahnfleisch oder die offenen Stellen im Mund mit der Zahnbürste bearbeite, denke ich: Wann bin ich außer Gefahr? Wann bin ich außer Gefahr?

Die Entzündung wurde eingedämmt. Aber mein Ulkus moderte so vor sich hin und verursachte zeitweise fiese Schmerzen. 8 Kilo habe ich in der Zeit abgenommen. Konnte regelrecht zusehen wie mir das Fett wegschmilzt. Von Heiß-Hunger keine Spur mehr. Einzige Nahrungsmittel: Joghurt, Suppen aller Art und dottlige Nudeln mit Tomatensauce. Selbst Trinken war eine Herausforderung. Ob kalt oder warm, alles tat weh.

Jeden Tag veränderte ich mich optisch ein klein wenig mehr. Zuerst fing es mit einem Fläumchen um die Augen und Mund an. Mittlerweile habe ich wieder einen richtigen Bart, Augenbrauen und auch ein paar Haare auf dem Kopf. Ganz objektiv: Ich sehe ganz schnucklig wieder aus! Während der Chemo-Therapie kann man sich das gar nicht vorstellen, nochmal wie ein richtiger Mensch aus dem Spiegel zu blicken. Man denkt, für immer so ein aufgeschwemmtes Monster zu bleiben. Das nagt ganz schön. Leute, die wegen einem Pickel im Gesicht Amok laufen, empfehle ich erst mal 100 mg Cortison über Monate zu schlucken.

Füße? Was ist das? Ich spüre sie nicht. Ekliges Gefühl. Vor allem meine großen Zehen. Tot. Braucht man zwar nicht so, aber irgendwie fehlen sie mir dann doch. Sind ja schließlich meine Zehen. Morgens ist es am schlimmsten. Da kann ich kaum laufen und denke gleich hinzufallen, so unsicher bin ich auf den Beinen. Im Laufe des Tages wird’s dann besser.

Aber ich kann wieder in den Spiegel gucken, ohne einen Würg-Anfall zu bekommen, das ist doch auch schon mal was.

Kondition kehrt auch so langsam wieder zurück. Treppen, die man vorher hoch gekrochen ist, sie nur schaffte, wenn man Pausen einlegte, kann man jetzt fast wieder mühelos bewältigen. Blutwerte sind immer noch nicht optimal, aber man spürt regelrecht wie das Sauerstoffkontingent nach und nach wieder aufgefüllt wird. Wenn man ein Stockwerk mal wieder hinter sich gebracht hat und dabei kurz in die Vergangenheit blickt, dann kann man das alles kaum glauben, was einem da passiert ist.

Ja, jeder wünscht sich, dass es einen Menschen gibt, der so fiebrig-wild auf einen reagiert wie es Francois Villon beschreibt. Die Zuversicht ist da, dass dies tatsächlich irgendwann wieder eintreten könnte.

 

Sehenswertes und nicht so Sehenswertes