Tag 145 – Tag 151

Sonntag, 09.10 bis Samstag, 15.10.

 

Cardona / Barcelona – die Reha vor der Reha

 

 

Die Hacienda der Familia Flores in Cardona ist das Paradies für mich. Natur pur, wohin man auch schaut. Fühle mich immer als vollwertiges Familienmitglied. Mit dem einen Unterschied, das ich nach Strich und Faden verwöhnt werde, was mir manchmal regelrecht peinlich ist. Leider konnte ich das Leben dort kulinarisch nicht so genießen wie sonst. Und das ist wahrlich eine Schande, weil „Mama Flores“ jeden Tag die herrlichsten Sachen kocht. Mein entzündetes Zahnfleisch lies es kaum zu, Nahrung aufzunehmen. Das leckerste in der Zeit war vielleicht eine Kürbiscremesuppe (super-duper-lecker!!!), eine Hühnersuppe ohne Huhn und das Ausschlürfen einer Kaki-Frucht. In der Woche habe ich viel geschlafen, 18, 20 Stunden manchmal, das macht die Landluft, die Ruhe und das extra für mich bereitgestellte Gästezimmer mit wunderbarer Aussicht. Wenn ich mich draußen aufhielt, dann meist an meinem Lieblingsplatz unter einem Lindenblütenbaum, selbstverständlich mit einer Tasse Lindenblütentee, der aus den Blüten meines Lieblingsbaumes hergestellt wurde. Dort passt eben alles zusammen. Alles, was man sich vorstellen kann, wird dort in einem großen Garten – der von Jahr zu Jahr größer zu werden scheint – angebaut. Auch meine zum Geburtstag von Heike zugesandten Kohlrabisamen. Wunderschön, dann die vielen Kohlrabi zu sehen, die aus diesem kleinen Päckchen entstanden sind. Und stellt euch vor, die Spanier kennen überhaupt keinen Kohlrabi. Papa Flores, 70, ein Baum von Mann, der aussieht wie 50 und fit ist wie 40, macht sich jeden Tag noch im wahrsten Sinne des Wortes den Buckel krumm, damit seine Familie überhaupt wie im Paradies leben kann. Der Garten ist sein Reich. Und wie es so ist, auch in Spanien macht die Jugend einen großen Bogen um beschwerliche Gartenarbeit. Um die Hacienda sind die Bäume und Sträucher voll mit Obst. Man latscht so in der Gegend rum, und kann sich dabei den Bauch mit Äpfel, Birnen, Pfirsichen, Feigen...voll schlagen. Manchmal sieht man auf der Zufahrtsstraße die Haut einer Schlange. Keine kleine Schlange, wohlgemerkt. Einen Fuchs sichteten wir auch, der anscheinend auch schon das eine oder andere vom Hof geklaut hat. So wie die Eichhörnchen, die wahrscheinlich den Walnussvorrat der Familie erheblich dezimierten. Das größte Problem von Papa Flores: Habt ihr die Walnüsse gegessen? (Zu Heike und mir.) Wir verneinten. Auch wenn wir es gewesen wären, hätten wir wahrscheinlich verneint, weil Papa sehr sehr sehr böse gucken kann. Und man sich nicht vorstellen mag, was er sich für eine Strafe bei einem Vergehen für einen ausdenkt. Verdammt, die Saubiester (nicht wir, sondern die Eichhörnchen) haben doch glatt die Walnüsse stibiezt. Am nächsten Morgen wurde sich natürlich auf die Lauer gelegt und die restlichen Walnüsse in Sicherheit gebracht. Ja, die Uhren ticken anders in Cardona. Sie ticken leiser, haben einen inspirierenden Klang. Wie klingen die Uhren bei uns? Welche Probleme haben wir? Eine Menge. Und eine Menge davon sind so unnötig wie Zahnfleischbluten, denn wir sehen Probleme, wo doch eigentlich gar keine sind. Eichhörnchen, die Walnüsse klauen, das sind die wahren Probleme unserer Zeit. Zwei Generationen wohnen dort unter einem Dach. Noch dieses Jahr waren es drei. Aber leider verstarb die gute Omi Flores. Ihren Mann, eine der beeindruckensten Persönlichkeiten, die ich in meinem Leben kennen lernen durfte, verstarb schon vor ein paar Jahren. Opa Flores, wanderte zu Fuß von Madrid nach Barcelona, um sich Arbeit zu suchen und schrieb sogar ein Buch über seine Erlebnisse. Er nannte mich „Der verrückte Deutsche!“ Eine Ehre, von diesem Mann so genannt zu werden. Als ich bei meinem ersten Aufenthalt in Cardona eine Dankesrede für die gewährte Gastfreundschaft gehalten habe, war dieser alte starke Mann so gerührt, das ihm die Tränen liefen. Nie werde ich diese Szene vergessen.

Als ich mich ein wenig besser fühlte und ich mir einen größeren Ausflug zutraute, ging es in das Bergland um Cardona herum, nahe den Pyrenäen. Ein Schwager von Heikes Frau Rosa holte uns mit seinem Land Rover ab. Das war ein Erlebnis, kann ich euch sagen, mit so einem Ding über Stock und Stein zu brettern. Der kommt tatsächlich überall hoch und runter. Wenn ich so eine Fahrt während meiner Chemo-Phase gemacht hätte, dann wäre ich gestorben. Das wilde Gebrumme von Evel Knevel Schlemensch war dagegen wie das Fahren mit einem Bobby Car. In den Bergen hat Schwagerlein ein Ferienhäuschen mit grandiosem Blick ins Tal. Traumhaft. Dort hatten vor einigen Jahren noch seine Großeltern gewohnt. Habe gleich mal gefragt, ob es möglich ist dort Urlaub zu machen. Eine kleine süße Finca mit Kamin lädt gerade dazu ein. Klar, kein Problem. Das behalten wir mal im Hinterkopf.

Ein Spanier der Axel heißt: Axel Flores, der Taucher. Ist das nicht herrlich. Er und seine Zwillingsschwester wichen mir nicht von der Seite, wenn ich denn mal nicht gerade im Bett oder unterm Lindenblütenbaum vor mich hin schnarchte. Beide süßen Knöpfe mussten dann deutsches Kulturgut über sich ergehen lassen, die Armen: Hoppe, hoppe, Reiter... Und Axel durfte ich sogar die Bremer Stadtmusikanten auf Spanisch vorlesen. Schätze mal das war ein Ritterschlag für den Onkel aus der Pfalz. Egal wie dreckig es einem auch geht, Kinder holen dich aus dem Sumpf, in den du hinein getreten bist. So oder so. Da hast du gar keine Chance. Zahnfleischzwicken hin oder her.

Mittwochabends fuhren Rosa, Heike und ich wieder nach Barcelona. Rosa musste arbeiten. So hatte ich einen ganzen Tag in Barcelona und durfte noch einen Blick auf das Meer erhaschen. Eine richtige Herausforderung wurden die vielen Stufen zu Heikes Wohnung. Meine Fitness ist leider noch nicht die beste und ich musste fast in jedem Stockwerk pausieren. Mit anzusehen wie Heike mit zwei Gallonen Wasser die Treppen hoch raste, während ich vor dem Herztod stand, war äußerst deprimierend, soll mich aber motivieren, beim nächsten Besuch, das auch wieder so zu schaffen. Baby, und dann zieh ich dich sowas von ab!

Barcelona hat sich verändert. Es ist lauter geworden, Jogger, Fahrradfahrer und Touristen sind in Scharen unterwegs. Das war vor ein paar Jahren noch nicht so. Jetzt fliegen ja auch fast täglich irgendwelche Schulklassen nach Barcelona. Kinder kennen den Pfälzer Wald nicht, aber müssen Barcelona gesehen haben. So is es eben. Wundern darf man sich da schon lange nicht mehr. Die Kriminalitätsrate ist in Barca europaweit eine der höchsten. Es gilt die Tasche ganz fest am Körper zu halten und den Geldbeutel niemals in die hintere Hosentasche zu stecken. Dann hat man ihn in nämlich in wenigen Minuten hundertprozentig los. Ich spreche da aus Erfahrung. Trotz allem bleibt Barcelona eine der Städte, die im Gedächtnis bleiben, wenn man mal da war. Ich möchte dennoch nicht in dieser Stadt leben und beneide Heike nur um das schöne Wetter (während meines Aufenthalts waren es durchweg 30 Grad) und den kurzen Fußweg zum Meer. Und um die einstündige Autofahrt nach Cardona natürlich.

Am letzten Abend gingen wir gemeinsam essen. Es gibt in Barcelona eine Aktion, mit der man in einigen Restaurants zu zweit bis zu 30 % von der Rechnung sparen kann. Diesmal hat Heike ein kleines Fischrestaurant, das außen wie auch innen nicht gerade einladend aussah, ausgesucht. Ich meine, eine tropfende Klimaanlage und Tischdecken mit Brandlöchern machten nicht gerade Lust auf Speis und Trank. Doch wir wurden positiv überrascht. Die Bedienung war sehr zuvorkommend und das Essen war toll. Das Beste dabei, es war einigermaßen weich und für mich deswegen überhaupt essbar. Tomatensuppe, Fischtortilla und Fischgericht konnte ich mit meinen Gaumen pressen, zerkleinern und dann vergnüglich in mein Innerstes befördern. Die Mädels klärten mich noch über diverse Tischsitten auf, die mir bis dato irgendwie nicht so bedeutsam vorkamen. Aber nun weiß ich, wie wichtig und entscheidend gute Manieren am Tisch und auch sonst wo sein können. Man ist eben wie man isst. Während der Essenspausen lutsche ich immer Eiswürfel. Im Nachhinein kam mir, dass das vielleicht gar nicht so gut war. In dem gefrorenen Wasser können ja auch ziemlich viele Keime beheimatet sein. Na ja, gut getan hat es trotzdem.

Die Gespräche, die ich mit Heike während meines „ersten Rehaaufenthalts geführt habe, waren sehr wichtig für mich. Praktisch stellte sie meine Psycho-Onkologin dar, die es ja auch in meiner zukünftigen Rehaklinik an der Nordsee geben wird. Ich durfte meine ganzen Hirngespinste und Bedenken an mein Schwesterchen herantragen und sie gab mir Impulse für ein weiteres Vorgehen und meine zukünftigen Pläne. Während eines dieser zahlreichen aufschlussreichen und auch anstrengenden Dispute entschloss ich mich, wieder mein Lehrerberuf aufzunehmen und ein Buch über meine Erfahrungen und Erlebnisse zu verfassen. Der Mensch braucht Projekte und Ziele. Ich brauche das. Lehrer sein, das ist meine Berufung. Ich habe nicht diesen beschwerlichen Ausbildungsweg hingelegt, um dann am Ende alles hinzuwerfen. Und ich meine, es gibt so viele schlechte Lehrer, es wäre doch egoistisch von mir, wenn die Schüler auf einen der wenigen guten verzichten müssten. ;-) Das Buch, das vielleicht nie veröffentlicht wird, was aber auch nicht mein vorrangiges Ziel ist, soll alles nochmal in eine übersichtliche und in eine besser lesbare Struktur bringen. Und vor allem noch einige Aspekte mehr beinhalten, auf die ich in meinem Blog gar nicht eingegangen bin. Diese zurückliegenden 6 Monate waren eine der prägendsten meines Lebens und somit haben sie es auch verdient zwischen zwei Buchdeckeln gepresst zu werden. Vielleicht hat ja doch der eine oder andere Enkel irgendwann Interesse, den verrückten Großpapa ein wenig besser kennen zu lernen. Also Anna, halt dich mal ran!

Liebe Heike, ich danke dir von ganzem Herzen für deinen Beistand, für deine Telefonate, für deine täglichen Mails, für dein Zuhören, für deine Geduld und für das hin und wieder notwendige Kopfwaschen. Nie war ich wirklich alleine, auch wenn ich mich doch das eine oder andere Mal sehr einsam gefühlt habe. Manchmal sehe ich es nicht, welch ein Glück ich eigentlich habe. Es gibt wohl nicht viele Männer, die so eine gute Freundin an ihrer Seite wissen. Meistens möchten die Männer doch mit ihren Freundinnen auch ins Bett, was dann natürlich alles wieder übermäßig verkompliziert. Zwischen uns ist das Geschlechtliche Gott sei Dank geklärt und wir sind der lebende Beweis dafür, dass Harry und Sally nicht Recht hatten.

In einem kleinen Reklam-Büchlein zum Thema „Liebe“, das ich auch in Barcelona dabei hatte, steht unter anderem eine Liste, die einem klar machen soll, ob man einen Menschen tatsächlich liebt. Dort ist z.B. zu lesen: – man muss nicht der gleichen Meinung sein, aber wie ich finde ist es allemal wert sich darüber Gedanken zu machen – „Ist er/sie die Person, die Sie am liebsten an Ihrem Sterbebett hätten (Ja: Wenn nicht, lieben Sie ihn/ sie vielleicht ein bißchen, aber nicht als wirklich engen und gleichgestellten Vertrauten.)"

Du bist eine der wenigen Personen, von denen ich mir wünschte, dass sie an meinem Sterbebett stehen.

Eine der schlimmsten Abende und Nächte, die ich in den vergangenen Monaten hinter mich bringen musste, war dann die letzte Nacht in einem Hotel am Flughafen in Girona. Wahrscheinlich lag es am viel zu kleinen Hotelzimmer, an dieser eintönigen Flughafenumgebung und an meinen schmerzenden Mund, warum ich so schlecht drauf kam. Ich glaube, man könnte das glatt als Depression durchgehen lassen. Heike flog an diesem Nachmittag zu zwei Freundinnen nach Italien und mein Flug ging schon um 6 Uhr. Ich hätte sehr früh in Barcelona los fahren müssen, um meinen Flieger zu erreichen. Also entschied ich mich die letzte Nacht in Girona am Flughafen zu verbringen. Was eindeutig ein Fehler war.

Plötzlich erfassten mich nur schlechte Gedanken. Ich sah die letzten Monaten nicht mehr als Prüfung und als die größte Herausforderung meines Lebens, sondern nur noch als einziges grauenhafte Erfahrung. Ich fühlte mich wie ein kleiner Fisch in einem riesengroßen Swimming-Pool, der von zu Wand zu Wand schwimmt und hofft, dass ihn jemand vor dem Einsamkeitstod rettet. Ich konnte nicht schlafen, ich konnte mich nicht beschäftigen. Das einzige, was ich konnte, war, die eine oder andere SMS abzusondern, die mir eher noch mehr Kummer bereitete, als das sie mir gut tat. Ich konnte kein gutes Haar an meinem Leben mehr lassen. Alles, was ich bis jetzt auf die Beine gestellt habe, war nichts mehr wert. Ich war nichts mehr wert. Ich schaute in den Spiegel und fand mich hässlich und abstoßend. Ich wunderte mich selbst über so viel Selbsthass. Selbsthass, das kannte ich bis dato überhaupt nicht. Nach dieser Nacht kann ich nun Menschen viel besser verstehen, die sich in einer solchen vermeintlichen ausweglosen Situation etwas antun. Man hört von diesen Menschen, aber kann es nicht nachvollziehen, dass sie so etwas tun, dass sie das vor allem ihrer Familie antun können. Nun weiß ich, es geht rasend schnell, sich ganz tief am Boden zu sehen. Was mich zurückhielt, etwas furchtbar Dummes zu begehen, weiß ich nicht. Anna vielleicht. Keine Ahnung. Als ich schließlich am nächsten Morgen im Flieger saß und über den Wolken einen der wunderschönsten Sonnenaufgänge meines Lebens fotografieren durfte, wusste ich wieder, welche Kostbarkeiten das Leben für mich mit Sicherheit noch in Aussicht stellen wird. Und ich war unendlich froh, diesem Horror-Hotelzimmer entkommen zu sein.

30 Grad in Barcelona, 5 Grad in Deutschland. Das muss man auch erst mal wegstecken. Meine Wohnung war eine Tiefkühltruhe. Gefühlsmäßig war ich zwar aus dem Gröbsten draußen, aber trotzdem war meine schlechte Laune nicht verflogen. Die mein Freund und Hausherr Master Schlemensch leider volle Breitseite abbekam. Sorry, mein Master! Aber ich konnte nicht. War leer. Hatte für Kommunikation und Small-Talk keine Kraft. Seit ich hier im Weißen Löwen wohne, gab es das noch nie: Obwohl wir beide im Haus waren, sind wir uns zwei geschlagene Wochen nicht über den Weg gelaufen. Im Normalfall sehen wir uns jeden Tag und freuen uns auch darüber. Ich habe mich eingeigelt und Schlemensch hat das respektiert. Es ist wie, als ob man in einem Winterschlaf verharren würde. Irgendwann krabbelt man wieder aus seiner Höhle, lässt den Mief nach draußen entweichen und die Lebensfreude kehrt zurück. Bei mir dauert das noch. Buch schreiben, wieder Lehrer sein, waren zwei Ziele, die ich angehen möchte. Ein Ziel kommt noch hinzu. Ich brauche eine andere Umgebung. Ich muss aufs Land ziehen. Weg vom Lärm der Hauptstraße. Garten und Wald in der Nähe. Ruhe. Wie wohl habe ich mich in Eußerhthal gefühlt. Diese depressive Stimmung im Haus, die nach meiner Auffassung viel zu oft hier herrscht, die zieht mich noch mehr runter. Ich benötige Dinge in meiner näheren Umgebung, die mir Kraft spenden, und sie nicht von mir absaugen. Ich kann mir Zeit lassen, habe nicht so den Druck. Deswegen bin ich mir auch sicher, etwas das meinen Vorstellungen entspricht zu finden. Vielleicht ändert sich auch in den nächsten Wochen meine Sicht wieder – gehe ja schließlich erst mal für mindestens vier Wochen an die Nordsee – und ich fühle mich im Weißen Löwen doch irgendwann wieder Zuhause. Wovon ich aber nicht ausgehe.