Tag 131 - Tag 144, Montag, 26.09.2011 - 08.10.2011
Lang, lang is es her, mein letzter Eintrag hier. Schon seltsam, jetzt da ich wahrscheinlich meine Krebserkrankung überwunden und die Chemotherapie hinter mich gebracht habe, ist mir die Kraft für weitere Blogeinträge abhanden gekommen. Meine Ärztin hat mir aber schon im Abschlussgespräch prophezeit, dass da noch ein Loch kommen werde. Und so ist es auch eingetreten. Dieses Loch, in das ich hineingefallen bin, ist ziemlich tief. Aus ihm hinauszukrabbeln bedarf einer größeren Kraftanstrengung als ich noch während des Gesprächs mit Frau Dr. M. glauben mochte.
Aber nach der Reihe.
Zuerst noch ein paar Worte zu Uschis Geburtstagsessen am 26.09. Es hat mich einige Überwindung gekostet, dort hin zu gehen. Für einen Krebskranken, der sich innen und außen stark verändert hat, ist alles nicht mehr so selbstverständlich. Man schaut in den Spiegel und denkt, willst du wirklich so unter die Menschen. Menschen, die dich eigentlich ganz anders kennen. Jede Begegnung wird zur persönlichen Herausforderung. Es war gut, dass ich meine Bedenken bei Seite geschoben habe. Der Zuspruch der Kollegen und die gelebte „Normalität“ helfen Stück für Stück auf dem Weg zur wieder erkämpften Würde. Es tat gut, von „Schul-Mama“ Uschi herzlich in den Arm genommen zu werden. Es tat gut, die aufmunternde Blicke vom „Ex-Chefe“ abzukriegen. Es tat gut, einfach mal nicht den ganzen Abend im Mittelpunkt zu stehen. Ich weiß immer noch nicht, wie das alles werden soll: mein erster Schultag. Aber vielleicht wird er ja ganz harmlos und gewöhnlich. Manchmal träume ich von diesem Tag. Und immer ist es so, dass ich nicht in das Schulgebäude gehen kann. Ich bleibe draußen auf den Steinen sitzen. Sitze nur da mit meinem Koffer voller Schulbücher und warte. Bis ich von Schülern und Kollegen umzingelt werde. Sie stellen für mich eine nicht zu überwindende Bedrohung dar. Ich schlage um mich und ergreife schließlich die Flucht. Ich hoffe, die Realität wird am 01. Februar eine andere sein.
Tja in dieser Woche habe ich den Entschluss gefasst nach Spanien zu meiner Freundin / „Schwester“ Heike zu fliegen. Die Reha vor der Reha sozusagen. Mit meiner behandelnden Ärztin hatte ich das abgesprochen. Kein Problem. Ihr war es sogar Recht, dass ich gleich im Anschluss unseres Abschlussgespräches (06.10.) fliege. Da konnte man danach evtl. Bestrahlungstermine noch schieben, wenn sie notwendig werden würden.
Die Tage, die jetzt ins Land gingen, waren nur von dem einen Gedanken erfüllt, bloß keine Bestrahlung mehr zu benötigen. Ich habe mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und ich muss sagen, dies hat mir nicht gerade meine Angst davor genommen, sondern hat sie eher noch verstärkt. So viel kann da kaputt gehen. Dachte immer, jetzt hast du doch schon so viel geschafft, du hast zwar ein paar Federn gelassen, aber nicht alle. Ich hatte das ungute Gefühl in mir, wenn ich jetzt bestrahlt werde, dann lass ich auch noch die restlichen Federn liegen. Ich stellt mir die Szenerie vor, welche Entscheidung ich in dem Augenblick treffen würde, wenn die Frau Dr. M(üssen wir vielleicht doch noch bestrahlen) sagen würde, dass eine Strahlentherapie leider unumgänglich sei. Ich kam dann oft zu dem Entschluss, eine Strahlentherapie abzulehnen.
Eine Hürde musste ich bis dahin aber noch nehmen. Den PET / CT-Termin. Der war am 30.09. um 08.00 Uhr. Wenn ihr euch noch erinnern könnt, war dies das Gerät, in das ich nach meinem 4. Zyklus fast hinein uriniert hätte. Ich freute mich schon, wieder Prof. Barfuß gegenüber zu treten. Natürlich war ich einigermaßen sicher, dass da auf dem Bildschirm nichts rot blinkt. Trotzdem ist ein gewisser Nervenkitzel nicht ganz von der Hand zu weißen. Was, wenn nun doch die Tumordinger zurückgekommen sind? Was, wenn die ganze Tortur der letzten Monate umsonst war? Wie würde ich damit umgehen? Wie würde ich so einen herben Rückschlag verkraften? Diesmal hatte ich meine Blase im Griff. Ein wohl überlegter WC-Gang vorher, war natürlich auch sehr hilfreich. Man wird unausweichlich zu einem Medizin-Profi innerhalb einer so langen Krankengeschichte. Das einzige, was unangenehm war, dass ich unglaublich fror. So muss es sein, wenn man im Kühlraum liegt. Nur ist man dann tot. Alle meine Gliedmaßen waren eiskalt. Wahrscheinlich die Aufregung.
Nur wenige Minuten nach dem ganzen Procedere, fing mich auch schon Prof. PET ab. Diesmal verschwand er mit mir in einem Kabuff. Sah aus wie in einem Kontrollcenter der NASA. Und wieder machte er es spannend. Und wieder kam ich mir vor wie ein Medizinstudent. Er erklärte mir erst die ganzen Schichtbilder und zeigte mir alle meine Organe. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Hatte nur eine Frage im Kopf: Alles gut? Als ob ich eine CD mit Sprung in meinem Hirn hatte: Alles gut?...Alles gut?...Alles gut? Wenn der Prof. mich nach seinem Vortrag irgendwas zu den Bildern gefragt hätte und ich von ihm benotet worden wäre, dann wäre ich aber ziemlich aufgeschmissen gewesen. „Dieses Seminar können Sie dann nächstes Semester wieder besuchen, Herr Schnur!“ Nur den letzten Halbsatz hörte ich glasklar: ...keine Tumortätigkeit. Nichts blinkt. Alles gut!...Alles gut!...Alles gut! Yippie...Halt! Wie sieht’s mit den vergrößerten Lymphknoten aus, Prof? Das ist ja auch wichtig. Frau M. hatte ja gemeint, dass sie die Strahlentherapie von der Größe der Lymphknoten abhängig machen will. Lymphknoten, Milz, noch vergrößert. Ob das noch akzeptabel ist, müsse meine Ärztin entscheiden. Na Klasse, darf ich also noch weiter zittern. Bevor ich meinen liebsten Professor verlasse, frage ich ihn noch: Was meinen Sie, mit diesem PET-Ergebnis, brauch ich da noch eine Strahlentherapie? Er schweigt, denkt kurz nach und schüttelt dann den Kopf. Ich hoffe, dass er sich damit nicht zu weit aus dem Fenster lehnt und bin ihm für diesen Funken Hoffnung unendlich dankbar.
In den darauf folgenden Tagen wurde ich krank. Wie es sich später raus stellte, hatte ich mir eine Grippe eingefangen, aber ohne Fieber. Ich fühlte mich schlapp und müde, lag den ganzen Tag apathisch im Bett oder auf dem Sofa. Hatte starke Gliederschmerzen und war zu nichts fähig. Klar, mein Immunsystem war und ist immer noch geschwächt. Nach dieser hoch dosierten Chemotherapie erholt sich das auch nicht über Nacht. Meine Weißen Blutplättchen sind immer noch im Keller. Die katalanische Reha war wieder einmal in weite Ferne gerückt. Außerdem kam noch hinzu, dass sich wunde Stellen im Mund entwickelten und mir diese das erste Mal heftige Schwierigkeiten bereiteten. Während der Chemotherapie hatte ich akribisch auf Mundpflege geachtet und meine Probleme hielten sich dementsprechend auch in Grenzen. Diesmal tat es wirklich weh und beeinträchtigte meine Nahrungsaufnahme erheblich.
Der 06. Oktober 2011. Wieder so ein Tag der Tage. Am Vorabend schlug Prinzessin Uteb schon ihre Zelte bei mir auf. Es ist unerlässlich, wie ich finde, an so einem wichtigen Tag, eine moralische Unterstützung an seiner Seite zu wissen. Dadurch konnte ich gut schlafen und durch ihre Anwesenheit wuchs meine Zuversicht, dass alles gut werden würde. Es war nicht immer einfach, in den vergangenen Monaten mit mir umzugehen. Eine Krebsdiagnose wirkt, als ob gleichzeitig ein Tsunami und ein Erdbeben über einen hinweg fegt. Danach ist nichts mehr wie es war. Alles wird neu sortiert. Die ganze Inneneinrichtung, die man sich über Jahre mühsam zusammen geschustert hatte, wurde auf einmal weg geschwemmt. Man ist nackt, ohne Schutz, hilflos. Ich weiß, der Vergleich ist krass und ich möchte mir auf keinen Fall anmaßen, mich am Ende tatsächlich in diese zutiefst bedauernswerte Geschöpfe hineinversetzen zu können. Trotzdem kommt mir dieser Vergleich immer wieder in den Sinn: Ein Krebskranker, der mit der Diagnose und den darauf folgenden therapeutischen Maßnahmen fertig werden muss, fühlt sich oft wie die Juden, die sich im KZ nackt ausziehen mussten, denen man die Kopfhaare abrasierte, denen man Hab und Gut raubte, die man zusammentrieb und von einem Tag auf den anderen ihre Menschenwürde nahm. Als Krebskranker wünscht man sich jeden Tag wieder der Mensch zu sein, der man vorher war. Aber man ist es nicht mehr. Man wird es nie wieder sein.
Ritter Schnuribold saß nun vor seiner Leibärztin, die Prinzessin an seiner Seite und erwartete gespannt, die entscheidende Analyse. So viele gleichartige Gespräche hatte ich jetzt schon hinter mir. Was habe ich vorhin geschrieben: Man wird zu einem Medizin-Profi? In mancher Hinsicht stimmt das vielleicht, aber nicht wenn es darum geht, dass man entscheidende Ergebnisse von Ärzten präsentiert bekommt. Dann ist nichts mehr von Profi zu spüren, sondern man fühlt sich wie ein hoffnungsloser Amateur oder wie ein Schuljunge, der von seiner Lehrerin ausgeschimpft wird. Es kostet viel Kraft, in solchen Situationen souverän und bestimmend zu wirken. Man muss das aber sein, sonst ziehen einen die Ärzte wie Versicherungsvertreter über den Tisch. Auch sie verfolgen nur ein Ziel: so schnell wie möglich zum Abschluss zu kommen. Ich hatte Glück. Ich wurde von niemandem über den Tisch gezogen. Ich musste auch keine weit reichenden Entscheidungen treffen. Die wichtigste aller Entscheidungen stand bereits fest. Keine weitere Therapie mehr notwendig! Alle geschwollenen Lymphknoten haben die Größe, die laut Statistik und Studien keine Strahlentherapie erforderlich machen. Während des Gesprächs klingelte zweimal das Handy der Ärztin, was mich zur Weißglut brachte. Ist es denn so schwer, dem Patienten den nötigen Respekt zu zollen? Ist es denn so schwer, nicht einmal für 15 Minuten unabkömmlich zu sein? Frau Dr. M. konnte froh sein, dass sie gute Nachrichten für mich hatte, sonst hätte ich ihr Handy womöglich aus dem Fenster geschmissen. Dr. M(uss jetzt mit einem Patienten sprechen, kann jetzt nicht) offenbarte mir, dass noch eine schwere Zeit auf mich zukommen würde, dass die meisten Patienten nach der Therapie psychische Probleme bekommen, weil sie nun langsam in ihr altes Leben zurückfinden müssten. Sie zeichnete ein Bild, das mir gar nicht gefiel. Leider gab sie mir aber auch keine Strategien auf den Weg, wie ich mit der auf mich zukommenden schweren Zeit fertig werden sollte. Außer: Führen sie ein ganz normales Leben. Handeln sie so, wie ihnen ihr gesunder Menschenverstand vorgibt. Dies bezog sich vor allem auf meine Fragen nach Sport und Ernährung. Mir ist immer noch nicht klar, in wie weit ich mein Immunsystem anregen und herausfordern darf oder nicht. Gesunder Menschenverstand? Ja, wenn das so einfach wäre. Wenn nichts mehr blinkt oder wenn irgendwas wieder die Größe eingenommen hat, die akzeptabel erscheint, ist für Mediziner die Therapie abgeschlossen und mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen wird der Patient ins normale Leben entlassen. Der Rest ist dann das Problem des Patienten. Wahrscheinlich geht es auch gar nicht anders, wahrscheinlich bin ich ein hoffnungsloser Idealist und grenzenlos naiv. Ich frage mich trotzdem: Warum handelt die Ärztin so kühl, warum gibt die Ärztin mir nicht ein wärmendes Wort auf den Weg oder eine Telefonnummer, wohin ich mich in der Not hin wenden könnte. Warum wurde nicht im Vorfeld schon ein Skript erstellt, die dem Patienten einen gewissen Leitfaden an die Hand gibt, wie er sich nach der Therapie verhalten soll? Auch wenn mir das auch so klar sein müsste und auch ist, aber es würde mir doch eine gewisse zusätzliche Sicherheit geben. Wie ein Spicker bei einer Klausur. Man hat gelernt, weiß jede Frage zu beantworten, doch wenn alle Stricke reißen, hat man eben noch einen Spicker in der Hinterhand oder im Schlampermäppchen. Mit einem Lymphom wird man auf Jahre hinaus noch mit bestimmten Folgeerscheinungen seiner Erkrankung zu tun haben. Nein, auch wenn das eine naive Sicht auf klinische Vorgänge ist, mir war das eindeutig zu wenig. Aber ich möchte auch nicht undankbar erscheinen. Ich würde jederzeit wieder in die Heidelberger Universitätsklinik gehen. Dort sitzt geballte Erfahrung. Und trotz stressigem Klinikalltag ist mir viel Menschlichkeit begegnet. Man darf aber auf keinen Fall als Patient die Selbstverantwortung an der Klinikpforte abgeben. Man muss stets hellwach sein, fragen, kontrollieren, entscheiden. Man hat in gewisser Weise selbst in der Hand, wo der Weg hinführt. Man ist sich oft nicht im Klaren darüber, wie viel Macht man auch hat, Entscheidungen für das eigene Wohl herbeizuführen. Man sollte immer höflich und sachlich bleiben, arrogante und überempfindliche Patienten werden es immer schwer haben, das medizinische Personal für sich zu vereinnahmen. Eine Prise Humor kann auch nie schaden. Man muss sich immer bewusst machen, dass es sowohl unter dem Pflegepersonal als auch unter den Ärzten dumme, manipulierbare, egozentrische, ungebildete Menschen gibt, die Fehler begehen und sie – und das ist das Schlimmste – niemals zugeben. Die Aufgabe, die der Patient hat, ist es die guten raus zu picken und für ihn nutzbar zu machen. Sprich: Sie zapfen mir kein Blut mehr ab, zu ihnen hab ich kein Vertrauen. Oder: Ich bin froh, dass sie mich operieren, bei ihnen fühle ich mich sicher. Seine tägliche Aufgabe ist es, jede medizinische Vorgehensweise konzentriert zu verfolgen, zu kontrollieren und wenn nötig, eine Abänderung zu verlangen. Es ist nicht immer leicht, diese Strategie stets erfolgreich zu verfolgen, oft stößt man an Grenzen, die vor allem durch den aktuellen Gesundheitszustand vorgegeben werden. Dann hat man aber noch Familie und Freunde, die beratend eingreifen können, die einen stützen und von neuem motivieren, weiter zu machen, nicht aufzugeben. Sich nicht ergeben, niemals aufgeben, das ist die Devise! Nur so hat man überhaupt eine Chance zu überleben.