Tag 122, 17.09.2011 (Tag 11 - letzer Chemo-Zyklus)
Na der Tag fängt ja gut an. Fast mit der Tagescreme meine Zähne geputzt. So muss Alzheimer sein. Gerade noch gemerkt. Schnuribold, wo bist du bloß mit den Gedanken?
Kühlschrank hat auch schon besser aus der Wäsche geguckt. Einkaufen ist mir zu viel. Das bring ich nicht. Nach dieser grauenhaften Nacht. Außerdem habe ich Schiss, dass bei mir die Geburtswehen mitten im Laden einsetzen. Zerstör dann vielleicht das ganze Inventar, wenn ich mich Schmerz verzerrt auf dem Boden im Kreis herum wälze. Wat für nen Zufall, Roy und Mac machen einen Ausflug ins Barock. Babyglotzen. Djan, heißt der neue Erdenbürger. Na, dann sieht der Kühlschrank doch nicht so ganz traurig aus.
MIt einem Müsli mach ichs mir auf dem „Blauen Sofa“ gemütlich. Eine neue Literatursendung im ZDF. Ach für Deutschlehrer gibt es so herrliche Sendungen. Wenn ich gesund bin, kann ich das alles aus Zeitmangel nicht mehr schauen. Blöd. Von Josef Bierbichler bin ich begeistert. Verblüfft über die Art des Verrisses von Oskar Roehlers „Herkunft“. Der Moderator führt die sprachlichen Ungenauigkeiten des Autors vor. Liest einzelne Stilblüten vor. Wenn man nicht schreiben kann, soll man keinen Roman verfassen. Oh je, das zieht mich runter. Dabei ist Roehler ein anerkannter Regisseur.
Ein interessantes Buch habe ich auf meine Wunschliste notiert. Protagonistin des Romans: eine Biologielehrerin. Kann das wirklich spannend sein?
Auszug aus der Buchvorstellung:
Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe"
Zu recht ist der von Judith Schalansky kunstvoll illustrierte Roman "Der Hals der Giraffe" auf der Long-List für den Deutschen Buchpreis 2011 vertreten. Mit klarer, präziser Sprache zeichnet Schalansky in dem schmalen Band das Porträt der Biologielehrerin Inge Lohmark, und offenbart dem Leser das karge Innenleben einer jener Biologielehrerinnen, die zwar ganz in ihrem Lehrstoff aufgehen, denen aber dafür jegliche pädagogische Ader fehlt.
Während Lohmark den verhassten Schülern von Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen predigt und davon, dass kein Lebewesen für sich alleine existieren kann, verweigert sie selbst jegliche zwischenmenschliche Bindung und flüchtet sich vor der tristen Realität und der Erkenntnis des eigenen Scheiterns in ihren Lehrstoff. Zumindest so lange, bis sie eine zarte Obsession für eine ihrer Schülerinnen entwickelt.
Wie ich diese Begriffe liebe: Sprache, Scheitern, Obsession. Wird gekauft.
Ja, ja die pädagogische Ader. Man hat sie, oder man hat sie nicht.
Beiße auf die offene Beule in meinem Mund. Ins Waschbecken spucke ich einen Schwall Blut. Es will gar nicht aufhören. Bekomme Panik. Schreie in den Spiegel. "Verbluten, Scheiß Tot!" Stopfe mir ein Taschentuch in den Mund und mache diverse Mundspülungen. Als ich feststelle doch nicht zu verbluten, bin ich nicht gerade unglücklich darüber. Meine Bluterinnung ist total im Arsch. Gehört alles zum großen Heilungsspiel.
Die Aktion hat mich so mitgenommen, dass ich erschöpft wie in den ganzen 120 Tagen nicht, mich ins Bett eingrabe. Fühle mich leer und ausgepumpt wie schon seit Langem nicht mehr. Aber ich kann einfach nicht schlafen. Nicht so, dass ich mich erholen könnte. Wie können diese zwei Zustände nur nebeneinander her existieren. Das Aufgekratzt sein ringt mit einer vollständigen Apathie. Das geht doch gar nicht. Doch es geht. Irgendwann ist es dann aber auch gut, und ich schlafe ein. Im Traum springe ich aus einem Wolkenkratzer und fliege mit heftigen Armschwüngen über Manhattan. Freiheit in Reinform! Aber auch Angst, in den Tod zu stürzen. Mitten in eine Fastfood-Restaurant. Tod: das Stichwort! Wache auf, in dem ich spüre, wie Spucke über meine Mundwinkel rinnt und sie verätzten. Im Speichel wird das Zellgift nach außen transportiert. Und es ist so giftig, dass es mir Löcher in den Mund brennt. Was für ein Rotz!
Als ich aufstehe ist mir schlecht. Hopp, nicht das auch noch! Du hast dich bis jetzt so wacker geschlagen, kein einziges Mal gekotzt. Das darf jetzt nicht auch noch auf dich zukommen. Gut, dass niemand da ist, der geküsst werden will. Schnell Zähne geputzt, Kamille-Duftlampe angezündet und Kräuterbonbons gelutscht. Glück gehabt. Wieder davon gekommen.
Wie kriege ich den Tag bloß rum? Jeder Meter ist wie ein Kilometer für mich. Höre mich schnaufen. Will mich nicht schnaufen hören. Man schnauft doch nicht, wenn man vom Sofa aufsteht. Nicht mit 42. Das macht man doch nicht. Das macht doch keiner. Mann, ich hab echt keinen Bock mehr auf den ganzen Krankheitsscheiß!
Was mache ich? Was lenkt mich ab? Normalität. Alltag. Büroarbeit. Die Lösung. Und ich hab viel Arbeit. Neue Rechnungen (Pro. Ho, Prof. Hö, Prof, Hu, Prof. Ha) bzw. Anträge und endlich eine schriftliche Abrechnung von den Beihilfen-Schnarchnasen. Und das soll mich besser drauf bringen? Ja, tut es. Die stupide Routine – Häkchen setzen z.B. – beruhigt. Schreibe noch Mails an eine Auswahl von Rehakliniken, ob sie mich schon mal vormerken können. Surfe noch in die dortigen Wellness-Tempel oder an den Nordseestrand. Mein abgedunkeltes Gemüt klärt sich ein bisschen auf bei den Gedanken an Salzbad, Sauna, Nordinc-Walking, Aquajogging, Tanz – und Maltherapie. Jo, der Reha-Blog wird bestimmt auch so einiges skurriles Geschichtchen hergeben. ;-)
Als ich vom Schreibtisch aufstehe, um aufs Klo zu gehen, bekomme ich einen Schwindelanfall und bin froh, es nicht weit zum Bett zu haben. Ich lasse mich rein plumpsen und falle ins Koma. Werde dort die nächsten Stunden nur noch aufstehen, um die Blase zu leeren und mir eine neue Flasche Sprudel aus der Küche zu erkämpfen.