Tag 121, Freitag, 16.09.2011 (Tag 10 - letzter Chemozyklus)
Na wie fange ich meinen Tag wohl an? Die 100000-Dollar-Frage. Na? Jau, klar, mit einer Blutabnahme. Heute war mir alles pupsegal. Habs nicht gebacken bekommen, mich für das Anzapfen in Schale zu schmeißen. War zu kaputt.
Bin ich also mit meinem Metallica-T-Shirt in die Praxis aufgelaufen. Bei dem einen oder anderen jungen Metal affinen Huhn erntete ich bewundernde Blicke, beiden Musikantenstadelguckern im Wartezimmer löste ich reihenweise Synapsenausfälle aus. Überlege mir bei dem Befundgespräch mit Frau Dr. M(acht Krebs gleichgültig?) auch das T-Shirt zu tragen. Wirkt wie ein Schutzpanzer. Aber leider bringt mir das Shirt kein Glück, denn Polga hat meine Ader nicht gefunden und verursachte durch permanentes Rumgerühre ein Schwarzes Loch in meine Armbeuge. Warum nehmen die eigentlich nicht mal meinen rechten Arm? Okay, der ist krumm wie ne Banane, aber da fließt doch auch Blut. Dauert wegen der Kurve vielleicht länger, aber ich weiß das kommt auch was Rotes raus. Nein, die nehmen immer meinen linken. Nach einem weiteren Misserfolg, griff Polgachen dann meinem Patschehändchen. Dort floss das Blut ab, wie aus den Niagara-Fällen.
Werte immer noch unten. Keine Verbesserung. Im Gegenteil. Das wird wieder ein gemütliches, einsames Wochenende. Langsam habe ich diese Art von Pflicht-Entspannung echt satt.
Zuhause habe ich einen beeindruckenden Film über Maxdome angeschaut: die Kinder von Paris. Lief bei uns gerade an. Hatte in Frankreich 3 Millionen Kinobesucher. So eine Art Schindlers Liste auf Französisch. Ich denke, ich habe schon viel über das Thema gelesen und gesehen. Es ist unsere Geschichte. Es wird sie immer bleiben. Und wenn man 4 Mal in Auschwitz war hat man viel Geschichte gesehen. Plastisch wie nie zuvor. Vor diesen Bergen von Schuhen, Koffern, Brillen und Portraits zu stehen, macht einen jedes Mal von Neuem fassungslos. Wie konnten Menschen anderen Menschen nur so viel Leid zufügen. Man soll dann als Lehrer Trost spenden, wo man doch selbst Trost bräuchte. Das Thema Nationalsozialismus hat mich schon als Teenager sehr beschäftigt. Ich habe fast jedes Buch gelesen, was darüber geschrieben wurde. Wollte die Sprachlosigkeit meines Vaters mit angelesenem Wissen ausgleichen. Er hat immer darauf beharrt, an der Front hat man davon nichts mitbekommen. Heute würde ich ihn fragen: Hast du bei deinen Heimatschüssen nie was gesehen, hast du 1933 als du 20 warst nichts mitbekommen, hast du keine jüdischen Freunde in Berlin-Köpenick gehabt? Leider kann ich ihm diese Fragen nicht mehr stellen. Er würde heute immer noch schweigen. Nehme ich an.
Dieser Film nun, wieder ein Film über die NS-Zeit, wieder das Thema. Aber anders. Diesmal sind es nicht nur die Deutschen, die als Monster gezeigt werden, sondern auch einfache Franzosen, die die Juden malträtieren und zu Tode quälen, sich zu Komplizen der NS-Schergen machen. Und da es in diesem Film vorwiegend um die Kinder von Paris geht, sind manche der Schreckensbilder kaum zu ertragen. Ein wichtiger Film.
Ja, warum tue ich mir das an, fragt ihr mich. In meinem Zustand. Weiß nicht. Vielleicht ist es eine Möglichkeit das eigene Elend nicht mehr so wichtig zu nehmen. Viele Menschen vor einem sind durch noch eine viel größere, hofnungslosere Hölle gegangen. Dies relativiert das eigene Schicksal.
Die Post hatte heute einige Überraschungen zu bieten. Endlich wurde ein weißer Edding von Amazon geliefert und ich konnte an meinem Krebs-Bild weiterarbeiten. Bissel mit Deckweis muss ich wohl noch drüber gehen.Ich traute meinen Augen nicht. Ein Anruf und am nächsten Tag liegen bei mir schon einige der fehlenden Abrechnungen von der Beihilfe auf dem Tisch. Warum ging das vorher nicht. Die nächsten 3 Stunden waren damit gesichert. Es wurden vier. Ich schimpf jetzt nicht über die Beihilfe, sonst verhaften die mich. Garantiert!
Mein Wasser ging aus. Lady I. erbarmte sich meiner und brachte mir 2 Kisten. Altruistische Menschen sind mir irgendwie sympathisch. Danke Lady I. Würde dich gerne Lady Gerolstein nennen, darf ich? ;-)
Ich bin nicht mehr so gut drauf, wie in den ersten Zyklen. Bin genervt und gereizt. Versuche aber gegen diese Gemütsschwankungen anzukämpfen so gut es geht. Ich kann mich nun fast gar nicht mehr leiden, so aufgeschwemmt und unförmig wie ich daher komme. Schleiche dahin wie eine angeschossene Raubkatze. Aber nicht von einem Revolver getroffen, sondern von einer Hemingway-Schrotflinte. Kann niemand retten, nicht mal mich selbst. Wenn ich eine Weile meine Freunde nicht spreche, dann bin ich schnell deprimiert, obwohl ich ja weiß, dass ich dauerhafte Rundumbetreuung nicht erwarten kann. Im gewöhnlichen Berufsalltag schafft man so vieles nicht, was man sich wünscht. So ist das nun mal. Ich war ja nicht anders. Krebs macht auf Dauer mega-sensibel. Lässt einen plötzlich Dinge hinterfragen, an die man „vorher“ nicht im Traum gedacht hat. Das Zwischenmenschliche wird plötzlich kompliziert, obwohl man sich doch jetzt auf die Leichtigkeit des Lebens konzentrieren müsste. Ich bin ungeduldig. Dabei war Geduld immer meine Stärke. Würde am liebsten sofort mit Sport loslegen. Alles auf einmal. Marathon, Yoga, Mountain-Bike, Fitnessstudio. Wie lange wird es wohl dauern bis zu Mr. Fitness werden kann? Mein zukünftiges Leben wird aus Sport bestehen. Das weiß ich mit Sicherheit. Wehe da macht mir jemand ein Strich durch die Rechnung. Sport und Liebe. Sonst nix. Wenn ich 20 Kilo weniger auf die Waage bringe, dann könnte ich auch mit 43 noch richtig schnucklig aussehen. 74 möchte ich werden. Ein Jahr älter wie mein Dad. Das müsste doch zu schaffen sein.
Mit bisschen Yoga nach Ralf Bauer kann man ja jetzt schon anfangen.
*keuch* Ne, das lass ich lieber mal. *hust* *schnauf*