Tag 117, Montag, 12-09.2011 (Tag 6 - letzter Chemo-Zyklus)

 

Seltsamerweise sind meine Blutwerte heute besser als ich mich fühle. Das war eigentlich noch nie. Hb ist natürlich weit unter dem Normbereich, aber 8,6 geht noch. Hatte ja auch schon 7,2. Leukozyten sind mit 2200 auch nicht bedenklich, Thrombozyten und Harnsäure sogar fast optimal. Die Erkenntnis, dass meine Werte eigentlich ganz okay sind, gibt mir nicht wirklich einen Schub. Dafür fühle ich mich einfach zu elend. Nix wirklich Schlimmes, aber trotzdem komm ich nicht aus den Puschen und überall entdecke ich neue Ungereimtheiten an meinem Körper. Die Angst kommt immer mehr auf, dass die durch die Chemo verursachten Nebenwirkungen mich noch lange beschäftigen werden. Wenn einen nicht der Krebs killt, killt einen die Chemo...klingt schräg, aber der Gedanke lässt einen nicht los. Werde ich überhaupt so aktiv wieder sein, wie ich mir das wünsche? Lance Armstrong hat seine heroischen Siege auch erst nach seiner schweren Krebserkrankung eingefahren. Werde ich womöglich Berlin-Marathon-Sieger? Das wär’s!

 

Ist man doof und nicht privat versichert, erhöht sich das Risiko erheblich, eine komplizierte Krankheit, wie sie über mich gekommen ist, nicht zu überleben.

Seit Beginn habe ich mir angewöhnt, die (meisten) Schritte auf dem Weg meiner Heilung zu überprüfen. So gut dies mein löchriges Hirn zulässt. Und man hat da eine Menge zu überprüfen. Vor allem, was die Medikamenteneinnahme angeht. Bekomme immer vor meinem Zyklus einen Medikamentenplan, auf dem genau beschrieben ist, was ich bis wann einnehmen muss. Die Zeitangaben sind sehr unterschiedlich. Die Dosis natürlich auch. In der Tagesklinik hatte ich es bis jetzt mit drei Ärzten zu tun. Alle Baujahr um die 1980. Zwei junge Hühner und einen Hahn. Die Ärztinnen, die dir in der Uniklinik über den Weg laufen, ähneln sich alle sehr. Jung, hübsch, Brille, zierlich, zart, kleinbrüstig, Streber-Aura. Geradezu gespenstisch. Im Keller der Klinik wird bestimmt eine Ärztinnen-Klonfabrik geführt, wo die reihenweise vom Band gehen. Da sieht im Ernst jede so aus. So Mädels, um die man in Schule stets einen Bogen machte und sich das 1-a-geführte Schulheft aber von denen auslieh. Nun gut, sie wirken kompetent, gewissenhaft und aufgeräumt, sind sie das aber wirklich? Heute musste ich feststellen, dass die Ärztin vom letzen Mittwoch Müll fabriziert hat. (Lag vielleicht an meinem hübschen Kumpel, der dabei war). Sie hat in meinem Medikamentenplan eine falsche Zeitangabe eingetragen. Und ich sage nicht ohne Grund eingetragen, weil die Ärzte tatsächlich in meinem Beisein immer den Patientenbrief verfassen. Nach ihrer Vorgabe hätte ich erst am kommenden Mittwoch mit einem Antibiotikum beginnen sollen. Was nicht stimmt. Muss heute damit anfangen. Hab verglichen und geknobelt. Aber natürlich bleibt man unsicher, weil man sich selbst nicht über den Weg traut, vor allem nicht mit einem Chemo-Hirn. Absicherungs-Anruf getätigt und Bingo – war ein Fehler der „aufgeräumten“ Ärztin. Kommt vor, klaro! Will man mal nicht so sein. Aber ein komisches Gefühl beschleicht mich da schon. War schon ein bisschen stolz auf mich, dass mir das aufgefallen ist. Aber was ist mir alles nicht aufgefallen? Na ja, in ein paar Monaten / Jahren, werdet ihr das feststellen können.

 

Selbstliebe war in der Vergangenheit nicht das Kreuz, dass ich zu tragen hatte. Fand mich meistens ganz knuffig. Gut, nach ein paar Bierchen und Schnäpsen zu viel, auf so legendären Wanderausflügen mit durchgeknallten Kollegen, auf einer Matratze im Flur zu mir kommend, da hatte ich am nächsten Morgen schon erhebliche Probleme, mich selbst zu lieben. Verständlich!

In den letzten Tagen finde ich mich nun so knuffig wie ein Borkenkäfer, dass ich kaum mehr in den Spiegel blicken mag. Du nimmst Cremes, Wässerchen, Tröpfchen hier, Tröpchen da, und nichts tut sich. Du siehst immer noch genauso Scheiße aus, wie vorher. Riechst vielleicht ein bisschen gesünder. Am liebsten würde ich in einen Winterschlaf verfallen und danach als Prinz aufwachen. Der Typ, der mich ständig imitiert, ist ein Ratten schlechtes Imitat. So als ob einer, der in keinster Weise Michael Jackson ähnlich sieht (vielleicht eher wie Meat Loaf), und trotzdem an Fasching als entfärbte Lochnase geht. Ich schleiche nicht nur wie eine Raupe, sondern bin auch eine. Dass aus mir in den Monaten ein Schmetterling werden soll, wird von mir im Moment nicht gerade überzeugend verinnerlicht. Aber was jammer ich, ich lebe! Ist das nicht die Hauptsache...in so einem Fall!

 

Könnt ihr euch in die Situation hineinversetzen, über 4 Monaten jeden Morgen aufzuwachen und das Wichtigste ist es, eine Entscheidung darüber treffen zu müssen, was ihr jetzt an diesem Tag so machen wollt: von Socken stopfen bis Bananenkuchen backen, halt alles was nicht so viel Energie kostet. Eigentlich ein schönes Leben, oder? Für manche das Paradies, für manche seit 6 Jahren sogar der Alltag. Wie oft habe ich mir im Hamsterrad so eine Auszeit gewünscht. Eins sein mit einem guten Buch, meiner Couch und der Kuscheldecke. Jetzt kann ich mich diesem Vergnügen vor Freude quietschend hingeben...und wat is...eine Krake namens Unzufriedenheit treibt ihr Unwesen. Das ist doch verrückt. Ist man im Alltags-Irrsinn gefangen, verdammt man diesen; hat man aber plötzlich alle Zeit der Welt zur Verfügung, vermisst man es, diese Zeit durch hektische Betriebsamkeit auszufüllen. Der Mensch ist bekloppt. Nix Yin und Yan, sondern mehr Gin als Harn.

 

Passend zu meinen oben angeführten Überlegungen, meine Kalendersprüche für den heutigen Tag:

 

„Das ist mit dem ausgefüllten Leben ist eine ziemlich schlechte Idee. Man kann es nämlich nie mit allem füllen, was einem vorschwebt. Außerdem füll man notgedrungen auch Fehler und Irrtümer mit hinein. Was aber zählt, ist, bestimmte Momente gut auszufüllen. Oder, wenn Sie so wollen, gewisse Augenblicke voll auszuleben.“

 

Tja, Monsieur Lelord, weiser Spruch. Und was ist, wenn einem das Füllmaterial nicht mehr behagt?

 

„Unkraut wächst in zwei Monaten, eine Rose braucht dafür ein ganzes Jahr“ (Rumi).

 

Wer oder was ist bitte Rumi? Oh!?! Kein Kinderspiel! Sondern ein berühmter persischer Dichter aus dem 13. Jahrhundert, dessen Lehre darauf basierte, dass er die Liebe als Hauptkraft des Universums ansah. (Wie hätte ich bloß das vor 15 Jahren so schnell raus bekommen?)

Auf jeden Fall...hey, Rumi, mein Lieber, dein 700 Jahre aller Unkraut-Rosen-Spruch hängt bei mir jetzt über meinen Badezimmerspiegel!