Tag 116, Sonntag, 11.09.2011 (Tag 5 - lezter Chemo-Zyklus)

 

09/11 – der Tag an dem die Welt den Atem anhielt

 

Die Zeitungen voll, die TV-Kanäle voll, klar dass Schnuri heute nicht an dem Thema vorbei kommt.

Was hast du an diesem Tag gemacht? Die Frage aller Fragen für diesen Tag.

Wenn ich mich nicht täusche, war an diesem Tag die Deutsch-Prüfung meines 1. Staatsexamens. Ich hatte Höllen-Bandscheibenprobleme. In den nächsten Monaten wurden diese Probleme sogar zu einem sehr schmerzhaften Bandscheibenvorfall mit Krankenhausaufenthalt und anschließender Rehabilitationsmaßnahme. Nach intellektuellen Satzkonstruktionen zu Georg Büchners Woyzeck und der Literatur des 19 Jahrhunderts war ich ganz froh mich auf der Couch hirnlos von der TV-Kiste beflimmern zu lassen. Wie so viele Menschen auf dieser Welt sah ich dann wie das aktuelle Fernsehprogramm von dem Ereignis in New York unterbrochen wurde. Wie so viele auf Menschen auf dieser Welt bekam auch ich live und in Farbe präsentiert, wie das zweite Flugzeug seitlich in den zweiten Turm krachte. Und mit einem mal wusste ich: Ach du grüne Neune, das ist Absicht! Ich weiß noch, wie der Reporter, der gerade sein Statement für die Nachrichten lieferte, aufgrund eines Zurufs über die Schultern blickte und genauso geschockt reagierte wie wir Fernsehzuschauer. Für die nächsten Stunden stand das Leben still und die Bilder vom qualmenden World Trade Center zogen einen in den Bann, ob man das nun wollte oder nicht. Man bekam die Augen von diesen brennenden Türmen nicht mehr weg. Selbst meine Rückenschmerzen waren wie weggepustet. Ich musste meine Eindrücke sofort mit Menschen teilen, verschickte SMS wie: Sofort Fernseher anschalten – unfassbar! Rief Schwester Ulrike auf dem Handy an, die gerade mit der kleinen Blondi-Anni unterwegs war. Ich weißt noch, wie ich mich darüber ärgerte, dass meine Hysterie nicht auf Erwiderung stieß. „Hey, Krieg in Amerika – kommt bitte sofort nach Hause!“ „Yo, dauert noch en bissel!“ Während der 1. Turm einstürzte hatte ich Anatoli Georgistan an der Strippe, der mit mir morgens ja auch die Prüfung schrieb und ebenso auf Entspannung aus war. Mann, Anatoli, so lange kreuzen sich schon unsere Wege. Gemeinsam kommentierten wir das Unfassbare, gaben uns Halt, wo es doch kein Halt mehr gab.. Anatoli war zu der Zeit noch sehr im Militärischen verhaftet und analysierte die Sachlage wie ein General aus dem Oval Office. Word Trade Center in Schutt und Asche, Flugzeugabsturz, Flugzeug-Angriff auf das Pentagon, man dachte wirklich kurzzeitig, Amerika wird jetzt platt gemacht und rechnete mit zigtausend Toten. Als irgendwann später die Opferzahlen bekannt wurden, war man im Angesicht der zurückliegenden Zerstörung ziemlich verblüfft, so pervers wie sich das auch anhören mag. Als ich die Türme einstürzen sah, kam mir sofort in den Sinn, wie das für die Angehörigen wohl ist, das jetzt mit ansehen zu müssen. Heute nach 10 Jahren wird ja alles aufgedröselt, jedes letzte Telefonat eines Opfers mit der Familie wird abgespult, jede hoffnungslose Rettungsaktion wird minutiös wiedergegeben, es scheint so, dass man sogar heute nach 10 Jahren noch geschockter ist als damals, weil man natürlich jetzt auch viel mehr über die Umstände des Anschlags weiß. Politisch hat sich nach diesem Tag alles verändert. Aber auch bei den Menschen selbst hat dieser Terroranschlag aller Terroranschläge einiges ins Wanken gebracht – und das auf dem ganzen Erdball. Alle bis dato in Schach gehaltenen Ur-Ängste wurden mit einem Mal aus ihren Gefängnissen entlassen: unter Trümmern lebendig begraben zu sein, Steckenbleiben in einem vollbesetzten Fahrstuhl, zwischen schreienden Verletzten eingeschlossen zu sein und hilflos auszuharren, die unvorstellbare Entscheidung zwischen Ersticken, Verbrennen oder einem Sprung aus dem 100. Stockwerk treffen zu müssen, im Angesicht des Todes von seinen Liebsten sich zu verabschieden. Warum schauen wir uns Kinofilme an, in denen solche Ur-Ängste zum Thema gemacht werden? Weil diese Nervenkitzel etwas Rauschhaftes beinhalten, geradezu ein Glückszustand bei uns hervorrufen das Grauen nicht selbst erleben zu müssen, zu spüren nach dem Abspann immer noch am Leben zu sein. Und nun, ist der Crash der Türme kein Blockbuster von Roland Emmerich, sondern viel schrecklichere Realität. Jedem von uns, der diese Schreckensbilder in sich aufsog wie ein Schwamm, wurde in diesem Moment schlagartig klar, dass wir uns nirgends auf der Welt mehr sicher fühlen können. Nirgends. Tsunamis und Atomkatastrophen haben diese Ur-Ängste später noch verstärkt.

„Die Feuerwehrmänner von Ground Zero“ – eine beeindruckende Dokumentation von zwei französischen Brüdern, die zufälligerweise am 11. September vor Ort waren, weil sie einen Film über die Firefighter von der New York drehen wollten. Wie sie das Unbeschreibliche mit der Kamera festhalten, fast zu Tode kommen und doch immer wieder den Staub von dem Objekt wischen, wie sie die Ängste der Helfer authentisch wiedergeben, wie sie die Glücksmomente einfangen, in denen sich die überlebenden von Kopf bis Fuß verdreckten Feuerwehrleute in die Arme schließen und hemmungslos weinen, wie sie in kleinen Arbeitspausen das Erlebte in gefühlvollen Gesprächen verarbeiten, wie sie trotz Ungewissheit immer wieder zum Ort des Grauens zurückkehren und fast apathisch weiter ihren Job verrichten, wie sie mit ihren Kameraden auf der Feuerwache gemeinsam lernen, was es heißt eine Familie zu haben und eine Familie zu sein, das alles wird man selbst als unbeteiligter Zuschauer nie wieder vergessen. In diesem Film gibt es einen beeindruckenden Satz von einem jungen Mann, der vor dem 11.September erst seit wenigen Wochen die Ausbildung als Firefighter begonnen hatte. Ein tapsiger unbeholfener zwei Meter-Hüne, der von seinen Leuten erst vermisst, dann freudestrahlend wiedergefunden wird und anschließend sogar die Fahne der Wache auf Halbmast hängen darf, gibt einen Auftrag an die kommenden Generationen weiter:

„Wir sollten 09/11 nicht als Symbol des Bösen sehen, sondern als Symbol der Widerstandskraft der Menschen.“

Leider hat der zu dieser Zeit mächtigste und dümmste Mann der Welt, diese schlauen Worte damals ignoriert und mit seinen Rachefeldzug für noch mehr Unglück in der Welt gesorgt.

Man hat jetzt im Nachhinein die Dokumentation um Interviews mit den damals beteiligten Feuerwehrmännern ergänzt. Sie haben natürlich alle so gut es geht nach 09/11 weitergelebt, Kinder bekommen, Karriere gemacht. Doch in ihren Gesichtern und ihren Augen sieht man immer noch die Spuren des erlebten Albtraums. Keiner wird diesen Tag jemals vergessen können.

 

Wir auch nicht!