Tag 114, Freitag, 09.09.2011 (Tag 3 - letzter Chemo-Zyklus)
...und täglich grüßt das Murmeltier. Mit dem einen Unterschied, die Rückfahrt war die Schnellste bis jetzt. Rekord! In 45 Minuten von Heidelberg nach Landau. „Gib mir ne richtige Karre und ich schaff dirs in 30 Minuten!“ Na, wer hat das gesagt?
Mein Driver mit den großen Händen reagierte richtig angefressen, als ich ihm offenbarte, dass ich ihm meinen neuen Passat nicht geben würde. Konnte daraufhin von Glück sagen, nicht auf der Raste ausgesetzt zu werden.
Oh Jesus, bin ich froh, wenn ich nicht mehr nach Heidelberg muss. *Heiligsblächle...schwitz*
Sitzung heute war nicht so prickelnd. Akku von meinem Handy gab den Geist auf. Klassikradio funktionierte nicht. Schoko-Küchlein, die es immer frei Haus gibt, waren aus. Kein Fensterplatz. Schreiben konnte ich auch nicht, weil meine Hand zitterte wie der gleichnamige Aal. Und meine Lieblingskrankenschwester war gar nicht lieb, weil sie mir zum Schluss die volle Ladung Durchspülspritze mitten in die Iris sprühte. Gott sei Dank wars keine Zytostatika, sondern nur Wasser mit bisschen Heparin. Wie einem so ne kleine Spritze klatsch-nass machen kann. Dem Mädel war das natürlich mega peinlich. Ich hab mich zwar erschreckt, fands aber danach lustig, weil ich gleich an meinen Blog dachte, als es passierte. Lockerte die etwas angespannte Situation auf, in dem ich androhte, das nächste Mal mit einer Maschinen-Gewehr-mäßigen Wasserpistole zu kommen und auf Rache zu sinnen. Aus einem Oh-ist-mir-das-peinlich-Gesicht wurde plötzlich ein Auf-diesen-Spaß-freue-ich-mich-aber-jetzt-schon-Gesicht.
Beim Rausgehen, rief dann eine andere Weißkittelträgerin: Herr Schnur, sie kriegen doch noch Blut heute. Wie? Blut? Ich? Nö? Lance-Armstrong-Werte! Thrombos und Leukozyten veranstalten ne Riesenparty in mir. Kann nicht sein! Oder doch?!? Oh je! Panik! Will kein Blut. Will weg! Mitpatientin, die mich schon seit Beginn der Therapie blicktechnisch begleitet, flüsterte zu mir hoch: Hau bloß ab, Alter! Hat wohl auch schon einiges mitgemacht, die Gute! Auflösung: Blut galt nicht mir, sondern einem Herrn Uzigülimurk. Weißkittel ist in der Spalte verrutscht.
Bin überhaupt mal gespannt, ob ich diese Runde Blut brauche. Irgendwie ist mir das nicht ganz geheuer mit dem Blut. Ihr haltet mich vielleicht für einen Pienzer (Übersetzungen: Weichei, Weichspüler, Mamakindle, Hosenscheißerle...etc.), aber rotes dickflüssige Zeug, das nicht meins ist, verursacht bei mir ziemlich schräge Visualisierungen. Is ja nicht immer der gleiche Typ, der mir das Blut spendet. Hab also schon von zwei Kreaturen (Mensch oder Tier?) Blutkonserven in mir rumschwimmen. Wenn ihr jetzt mal bei euch den Button für eure kreative Vorstellungskraft drückt, dann könnt ihr euch da ganz schöne verrückte Dinge zusammenspinnen. Was macht das mit einem: so viel unterschiedliches blubberndes Blut? Vielleicht hat sich die eine Blutkonserve von der anderen gerade scheiden lassen und brüllen sich von der einen Hauptschlagader zu anderen Hauptschlagader wüste Beschimpfungen an den Tropf, streiten über Betreuungszeiten und Unterhaltszahlungen. Vielleicht ist es aber auch das Blut von einem Versicherungsvertreter und einer Rheinpfalz-Abo-Verkäuferin, die es gar nicht so gern sehen, dass ich ihre Berufsstände so in die Pfanne haue, sich aus kompletter Langeweile jetzt gegen mich verbünden und ein Attentat auf meine Helferzellen planen. Ach du meine Güte, wenn mir womöglich der Neffe von Prof. Ho (Der kleine Hi) seine Thrombos gespendet hat, dann kann ich gleich einpacken. Schlimmstes Horrorszenario: Schnuribold krebsfrei, aber leidet gleichzeitig unter Touret und einem seltsamen asiatischen Sprachfehler: Liebel Hell Schulleiter, – Ha...ha...ckfle...e...e..sse!!! – ich will nach Aflika velsetzt welden – O...O...O...chsenschwanz..l...l...l...utschel!! Mein Ex-Schulleiter hätte mich dann wahrscheinlich sofort nach Kallsluhe anstatt nach Aflika versetzt.
Die Erlebnisse der letzten zwei Tage zwischen A 65, A 61, A 6 und A 656 haben mich so erschöpft, dass ich natürlich nicht mehr viel von der realen Welt mitbekommen wollte. Meine Traumwelt war angesagt. Eine Welt ohne 47/11 und 09/11. Eine Welt, in der Frauen und Männer sich verstehen, obwohl es noch Schuhläden und Fußball-Bundesliga gibt. Eine Welt ohne Harndrang und Mundgeruch, aber mit Riesling und Knoblauch. Eine Welt, in der Westerwelle lebenslang für seinen Stuss in den Big-Brother-Container eingesperrt wird, und man Alice Schwarzer nicht mehr als Fürsprecherin für etwas braucht. Eine Welt, in der Wasser trinken kann, wer Wasser trinken möchte, immer und überall. Aber eine Welt ohne Coca-Cola und Big Mac. Eine Welt mit viel Liebe und Leidenschaft und ohne Krebs und Aids. Eine Welt, in der jeder zuerst an das Glück des anderen denkt, bevor er seinem eigenen Glück hinterherjagt. Eine Welt, in der man nicht mehr glücklich sein muss, weil man zufrieden ist.
Wenn ich mich in diese Welt hineinträume, wünsche ich mir manchmal nicht mehr aufzuwachen, weil ich die allzu bittere Realität trotz der vielen schönen Dinge kaum mehr ertragen kann. Aber keine Panik – nur manchmal ist das so!