Tag 114, Donnerstag, 08.09. (Tag 2 - letzter Chemozyklus)
Roy Traeger war heute wieder mal mein Fahrer. Ach Gott, wenn ich diesen alten liebevollen Kautz nicht hätte, dann könnte ich die ganze Heidelberg-Schoße knicken. Wenn alle Stricke reißen, dann holt Roy die Eisen für mich aus dem Feuer. Die Fahrten mit ihm sind immer ein Erlebnis und ich kann mir nie sicher sein, ob ich vielleicht noch zusätzlich die Heidelberger Chirurgie in Anspruch nehmen muss. Gott sei Dank bin ich immer ein wenig von der Chemo stoned, sonst würden mich die 180 km/ h in Baustellennähe völlig fertig machen. Bin immer erstaunt, was mein Tacho imstande ist, anzuzeigen. Wenn ein Stau zu sehen ist, bin ich tatsächlich froh, weil es für mich eine kurze Verschnaufpause bedeutet und sich mein Adrenalin für einen kurzen Moment im Normbereich bewegt. Die vielen Rennspiele auf der Konsole haben die Synapsen meines lieben Chauffeurs etwas durcheinander gezwirbelt. So scheint es mir, dass er glaubt, als Wolfgang Graf Berge von Trips auf dem Nürburgring zu sein, anstatt auf der A6. Wenn ich dann doch hin und wieder weg nicke, katapultiert mich eine Vollbremsung schlagartig in die Realität. Roy ist wohl der einzige Fahrer bei dem ich auf Anhieb den Gurt anlege. Heile kommen wir aber dann doch immer an. Unser Schutzengel ist unterwegs nicht verloren gegangen. Zur Belohnung bekommt Roy nicht das Goldene Lenkrad überreicht, sondern die RHEINPFALZ und ein bisschen Frühstückskohle für die Klinik-Cafete. Da ich ja mittlerweile von den „Hasen“ im Stall immer durchgewinkt werde, braucht Roy auch nicht lange frühstücken. Liegen, schrauben, gluckern und schon ist Ritter Schnuribold wieder flott für die Rückfahrt.
Bettruhe. Absolute Bettruhe. Mehr geht nicht mehr. Bekomme es gerade noch geregelt, meine Schuhe, meine Socken und mein Hut los zu werden. *kipp*... *tot*...*mausetot*
Um 14.30 Uhr kurz wach für Blasenentleerung, geringfügige Nahrungsaufnahme und ein kleines SMSchen. Und wieder ab in das Reich der der Kobolde und Amazonen.
Es ist als ob das Chemo-Ungeheuer das letzte Gift aus mir raus lutschen will und dabei vergisst, dass es aber eine gehörige Portion Lebensflüssigkeit auch gleich mit raus schlürft. Mit mir könnte man einen Horrorfilm drehen, so schrecklich wie ich aussehe und so hölzern wie ich mich bewege. Wie Boris Karloff als Fankenstein. Ich wäre eine Idealbesetzung für den Streifen. Wenn ich in den Spiegel gucke, bekomm selbst ich nen Schreck. Vor allem morgens kurz nach dem Aufwachen. Da sehe ich besonders fies aus. Augen so tief in den Höhlen und mit Ringen versehen, als ob ich aus einem Comic entsprungen wäre (ein Panzerknacker z.B., der gerade wieder von Dagobert eins auf die Omme bekommen hat). Was mache ich nur, wenn ich mich nicht mehr in einen Prinzen zurückverwandeln kann und für immer eine stinkende klebrige Kröte bleibe? Was mache ich dann? Dann geht mir die schöne Prinzessin durch die Lappen, die Schüler sitzen für immer und ewig mit dem Rücken zum Pult, die Brötleverkäuferin bekommt einen nicht enden wollenden Schreikrampf, mein Schulleiter kotzt mir über meinen IGS-Wiedereingliederungs-Vertrag, der Postbote wirft meine Post beim stellvertretenden Dorfvorsteher ein und mein Fernseher bleibt aus Angst aus, weil ich mich in ihm spiegele. Toll! Wenn’s so weit kommt, dann wähle ich dann doch lieber die Gunter-Sachs-Variante.