Tag 104, Dienstag, 30. 08.2011 (Tag 14 - Aplasie -Chemo-Zyklus 5)
Typen, die die Welt unbedingt braucht
Anatoli Georgistan
Frühstück um 11.00 Uhr. Nein, nicht im Cafe am Markt. Dachtet ihr, was? Im Riva. Und wer besucht mich da ganz spontan aus Kirgistan/ Freiburg: Anatoli Georgistan. Lang, lang ist’s her. Was man an den Veränderungen an Gesicht und Frisur erkennen konnte. Der eine kein G.I. mehr, sondern Hippie und der andere kein Hippie mehr, sondern Lollipopp. Drückte mich da Reinhold Messner oder D.J. Özzi? Nein, so roch nur mein Schorschi! Wie ich diesen Duft vermisst habe. Schnuribold war doof, auch ohne Chemo. Mit Krebs ist man einfach sensibel. Das muss man verstehen. Da sieht man ganz viel sich und dann erst die anderen. Man meint aber, immer alles und jeden bewerten zu müssen, weil man ja auf dem Weg der Erleuchtung wandelt. Dann stellt man plötzlich fest, der Pfad liegt ziemlich im Dunkeln und die anderen sind doch gar nicht so übel, wie man immer glaubt zu sehen. Vor allem nicht, wenn sie einen Bart tragen. Wann ist man ein Freund? Wenn er da ist! Ganz stupide, wenn er da ist!
Und wie Anatoli da war. Wie immer.
Ja, der Kampf um Kirgistan steht vor der Türe. Und Anatoli raucht zwischen drin. Evtl. lässt er sich sogar als Präsidentschaftskandidat aufstellen. In diesem wunderbaren Land kann sich nämlich jeder Bürger zum Präsidenten wählen lassen, ob Wodka-Liebhaber oder Scharfschütze. Ist das nicht die Reinform von Demokratie? Omma Emma von nebenan als Bundespräsidentin. Oder Opa Otti mit Hörrohr als Bundestagspräsident. Dat wär doch mal aufregend. Aber hier passier ja nix, außer Westerwelle.
Spannend wars, unsere Geschichten zu erzählen. Auf einige erregende Episoden hätten wir auch ruhig verzichten können. Aber was ist das Leben ohne Erregung? Tot! Und wir sind beileibe noch nicht tot. Wer hier zuerst in die Trompete bläst, ist noch nicht ausgefochten.
Uchitel. Schöner Name. Könnte auch ein Mädchenname sein. Ist aber ein 4000er in Kirgistan. Warum wollen meine Ex-Immer-noch-Kollegen-Kumpels immer mit mir irgendwelche Berge erklimmen? Natürlich sind solche Ziele sehr reizvoll, keine Frage. Ziele motivieren, wenn man an ihnen vielleicht auch vorbeischrammt. Uchitel. Jau! Kann nix schief gehen, Reinhold wäre ja dabei. ;-) Außerdem ist in wenigen Wochen das Körper-Mutations-Erneuerungsprogramm dran. Dann erklimm ich Fräulein Uchitel free solo im Handstand und Reinhold trägt als Sherpa den Rucksack voller Riesling-Schorle und Guinness.
Pfeil K. und Pfeil R.
Ach war das schön, von oben genannten Pfeilen mal so richtig verwöhnt zu werden. Kaffee, Wasser und leckeren mitgebrachten und hausgemachten Kuchen. Leider hab ich nix geschmeckt, ob was lecker war. Aber es sah auf jeden Fall lecker aus.
Abendbrot mit gebratenen Kartoffeln, Joghurt-Creme und Salat, Wein und alkoholfreiem Bier (extra bei Sohnemann geklaut – das nenn ich mal Einsatz!).
Viel geredet. Über Gott und die schlimme Welt. Schlaue Sachen. Philosophisch, politisch, gehaltvoll. Und natürlich gelästert. Muss auch mal sein. Über wen wird hier an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Leider habe ich nicht so viele Informationen erhalten, well Pfeil R. in meiner ehemaligen Noch-Schule akustisch nicht so viel mitbekommt. Mist! Aber übermorgen erhalte ich da ja eine neue Chance.
Pfeil K. war eine bezaubernde Gastgeberin. Pfeil K. steht auch MacGyver in nichts nach. Pfeil K. ist nicht nur Miss Bikini 1945 und eine herausragende Köchin, sondern auch noch eine begnadete Handwerkerin. Wenn MacGyver und Pfeil K. zusammen Haus 46 als Projekt hätten, dann hätte Nußdorf in vier Wochen ein Rathaus anstatt einer alt-bekannten bzw. still gelegten Kneipe mit Namen Weißer Löwe.
Das Gehen fiel mir schwer (auf verschiedenen Ebenen). Aber keine Klage, ich komme wieder, keine Frage!
Wann macht Oma Pfeil Dampfnudeln?
Noch eine kleine Episode.
Da sucht ein Krebspatient die Buchhandlung auf. Ein kleines Präsent für sein Überraschungsbesuch wird er da schon finden. Der Mann ist ein lustiges Kerlchen, fröhlich, mit viel Humor gesegnet, der ruhig auch mal schwarz sein darf. In der Zeit vor seiner Erkrankung war das so. Jetzt ist seine Lustigkeit ein wenig löchrig. Andere Kategorien wie Angst und Sinn übernehmen hin und wieder die Oberhand. Dieser Krebspatient also sucht ein sinniges Büchlein für seinen Freund aus der wilden Steppe. Er schleicht zwischen all der Weltliteratur und Ratgebern umher, denkt an sein zukünftiges Dasein und Ableben und stolpert plötzlich über einen Verkaufstisch. Der Sensenmann hat ihm anscheinend einen Gruß geschickt - kauf mich! Die Tasche des Todes, das Frühstücksset des Todes, der Spriralblock des Todes. Der Krebspatient denkt: Bin ich jetzt tot? Was soll mir das sagen? Alles hat doch einen Sinn, so ist seine Erfahrung. Er überprüft seine Annahme: Er geht in den nächsten Parfürmladen und wenn dort "Der Duft des Todes" in den Regalen steht, dann befindet er sich NICHT mehr im Diesseits. Seine Annahme stellt sich als falsch heraus. Trotzdem, eine zweite Überprüfung für die absolute Sicherheit: Die Confiserie. KEINE "Praline des Todes" ist zu sehen. Der Krebspatient ist glücklich. Er ist dem Sensenmann doch noch von der Sense gesprungen. Kurzfristig zumindest.
Eine Frage: Gibt's in dieser Produktpalette vielleicht eine "Zahnbürste des Todes"?
Die würde ich nehmen!