Freitag, 26.08.2011
100 Tage Therapie
100 Tage Therapie. Eigentlich ein Tag, an dem ich eine große Party feiern müsste. Meine 200 Leukozyten-Kumpels sind leider nicht so in Feierlaune. Statt ein berauschendes Fest zu celebrieren, bin ich betriebsam wie ein Ameisenhaufen und versuche mich mit allem Möglichen abzulenken. Die Ablenkunkungsaktivitäten heißen dann: Thai-Chi (per Youtube-Video), Yoga-Nidra (per Mp3), Sit-Ups und Gymnastik (per Bodenmatte). Thai-Chi und Yoga-Nidra taten mir gut. Sit-Ups und Gymnasitk die reine Katastrophe. Ging gar nix. Komm mir so unbeweglich vor wie eine Straßenlaterne. Bei der Durchsicht meiner diversen Reha-Unterlagen dachte ich: Mensch warum mit dem Sport-und Wellness-Programm erst bis zur Reha warten, kann ich doch auch gleich mit beginnen. Irgendwie macht mich das alles aber nicht zufrieden. Das Wohlfühlen ist nicht von Dauer. Das Hamsterrad-Leben wie ich es vor meiner Erkrankung geführt hatte, möchte ich auf keinen Fall wieder führen, aber so eine bisschen alltägliche Oberflächlichkeit und dadurch zur Nichtaktivität verleitet werden, wäre jetzt gar nicht so schlecht für mich. Einfach nach einem harten Arbeitstag nur noch tot in die Koje fallen, auch mal schön. Ich kenne jemand, der schon 6 Jahre ein Leben ohne Verpflichtungen und äußerliche Rahmenvorgaben führt. Ich krieg schon nach 100 Tagen einen Koller. Immer diese Fragen im Kopf zu haben: Was mache ich jetzt? Oder mache ich überhaupt was? Bringt mich, das, was ich mache, überhaupt weiter? Diese Fragen nerven so langsam. Ich liebe lesen, ich bin ein absoluter Lesemensch, und dann wird einem plötzlich bewusst: Du liest ja schon wieder, man ist deine Existenz tröge. Dieses ungute Gefühl wird schon nicht mehr so tröge, wenn beim Lesen jemand neben dir liegt. Dann fühlt man sich nicht mehr so armselig.
Tja, was war noch?
Einen herausragenden Film in der ARD-Mediathek angesehen (Sonntag: Das Leben der Kinder). Lange keinen derart wahrhaftigen Fernsehfilm gesehen, der Beziehungs-Liebes-und Erziehungsprobleme in dieser authentischen Weise so auf den Punkt bringt. Eine Menschenstudie war das. Jeder(bescheuert, aber intelligent ausgedachte!) Dialog, der dort gesprochen wurde, hörte man selbst schon einmal in einer Beziehung oder war selbst der Produzent von diesen dahin geworfenen Phrasen, die meistens gar nichts mit dem Partner zu tun haben, der einem anscheinend nicht genügt, sondern immer mit seinen eigenen Befindlichkeiten und Defiziten zusammenhängen. „Ich hab dir das doch schon tausend Mal gesagt“ (Sie zu ihm). „Du bist immer so anstrengend“ (Er zu ihr) „Was, du bügelst.“ (Sie zu ihm). „Ich bin müde, lass uns morgen weiter reden.“ (Er zu ihr). „Das Leben mit dir könnte manchmal ein bisschen aufregender sein.“ (Sie zu ihm). „Entspann dich mal.“ (Er zu ihr). Usw. Wer sich wünscht, es besser machen zu wollen, muss diese Perle von Film unbedingt anschauen.
Heute Fernsehtag. Ein weiterer Hammerfilm. Weiß nicht, ob man den im Internet nochmal ansehen kann. Arte: Die Lehrerin. Auch ein unglaublicher Film. Fesselnd! Anna Loos herausragend. Eigentlich hätte ich für diesen Film ein Verbot bekommen sollen, so aufgewühlt hat er mich. Eine Lehrerin im Zweifel, die alles hinschmeißen will, schon die Kündigung geschrieben hat und durch unvorhersehbare Ereignisse die Erkenntnis erlangt, welches Glück ist, diesen Beruf ausüben zu dürfen. Zwei Geschichten und die damit verbundenen Lehrerfiguren haben in mir den Impuls geweckt, Lehrer zu werden: Das fliegende Klassenzimmer und Justus. Dann natürlich „Club der toten Dichter“ und John Keating. Keating, der Lehrer-Gott. Nun ist eine 3. Geschichte dazugekommen.
Zum Abschluss war „Wer wird Millionär“ über das Internet angesagt. Zwei Handwerker und ein Lehrer. Keine schlechte Vorrausetzungen den Jackpot zu knacken. Waren richtig gut. Aber leider, als es dann so um echte Penunzen ging, gingen uns auch die Nerven durch. Das Problem war, dass man auch schnell antworten musste und da spielte ich natürlich außer Konkurrenz mit. Wie ich diese Langsamkeit meines Hirns hasse. Aber die Verluste hielten sich in Grenzen. Morgen holen wir das alles wieder rein. Versprochen B&T ;-)
100 Tage Therapie. Wie die Zeit vergeht. Wann werde ich wieder richtig gesund sein? Nochmal 100 Tage? 1000 Tage? Bei Krebs braucht man wohl ziemlich viel Geduld. Dachte, hätte viel davon. Geduld war immer meine Stärke, auch im Job. Nun merke ich, dass ich von Tag zu Tag immer weniger Geduld habe. Will endlich wieder aufs Fahrrad, will endlich wieder auf die Laufstrecke, will Purzelbäume schlagen, will ein Fels in der Brandung sein, für Tochter, Freundin und Freunde. Will einfach mit Krankheit nichts mehr zu tun haben. Warum braucht man vom Leben immer erst immer einen Tritt in den Hintern bevor man etwas kapiert. Ich will nicht mehr getreten werden, hab’s doch kapiert. Hab mich doch schon geändert, oder etwa nicht? Werde vieles anders machen, alles nicht. Da mache ich mir nichts vor. Mache meine Augen zu und habe einen Plan. Kann ihn noch nicht aussprechen, das bringt Unglück. Der große Plan. Vielleicht ist aber auch gar nicht schlimm gar keinen Plan zu haben. Vielleicht ist es doch besser ignorant vor sich hin zu leben und drauf zu warten bis der große Aufzug kommt. Jeden Tag urteilt man über andere, über die Dinge. Was stand heute als Spruch des Tages in der Zeitung: Alle Streitigkeiten rühren daher, weil man dem anderen seine Ansichten aufzwingen will. Das ist kein Spruch des Tages, sondern eigentlich der Spruch des Jahrtausends. Sowohl in der Beziehung zwischen den Völkern als auch in einer Liebesbeziehung. Aber welcher Weg ist schon der Richtige? Keine Ansichten haben? Fragen oder nicht fragen? Spenden für Afrika oder nicht? Ganztagsschule oder nicht? Heiraten oder nicht? Träume verwirklichen oder nicht? Reden oder Schweigen? Aufstehen oder sitzen bleiben? Immer denken wir, wir wüssten es, was gut für uns und für die anderen ist, dabei scheitern wir täglich an unseren irrationalen Ansprüchen, an unserer weichen Grütze im Hirn. Wir scheitern an unserer eigenen Unzulänglichkeit. Mach das doch so! Warum machst du das nicht so? Du machst nie was. Ich mach das immer. Der Lehrer, der planlos ist, der Polizist, der kifft, der 40-jährige Politiker, der eine 16-jährige vögelt. Nein, ICH hab alles im Griff, MIR könnte sowas nie passieren, machen wir uns vor. Humbug, nix haben wir im Griff – außer eben das Scheitern! Heute gab’s eine Buchbesprechung auf Aspekte. Der Titel lässt nicht vermuten, dass man durch die Lektüre nicht depressiv wird. Anscheinend scheint der Bericht über das Innenleben einer Altöttinger katholischen Familie trotz des destruktiven Inhalts, Mut zu machen. Man hört diesen Titel und denkt sofort: Um Gottes Willen, das tue ich mir nicht an. Will nicht in den Abgrund gezogen werden. Und dann soll dieses Buch, Lesern Kraft für Veränderungen geben. ??? Titel: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Ja so sind wir, wir hören oder sehen etwas, und zack bilden wir uns, unsere Meinung darüber – nein, keine Meinung, sondern agieren rein emotional, ohne offen zu sein für neue Impulse, ohne Respekt vor dem Sein des anderen. Wenn diese 100 Tage Therapie für irgendwas wichtig waren, dann dafür, dass ich wieder sensibel für neue Impulse bin. Dass ich meine eigenen Unzulänglichkeiten knallhart vor Augen geführt bekommen habe und dran gehen möchte, sie endgültig zu beheben oder sie auch endlich zu akzeptieren. Dass ich andere akzeptiere, so wie sie eben sind, mit all ihren Fehlern. Der Krebs als Regulator, als Supervisor, als Reset-Knopf, als Kontrollinstanz, was einem tatsächlich gut tut oder nicht.
Was ist der Sinn des Lebens? Für mich: dem Gegenüber Freude zu bereiten und mir natürlich auch. Und vom Ersteren darf es ruhig ein bisschen mehr sein. Wenn das jeder beherzigen würde, was für eine schöne Welt wäre das, in der wir leben könnten.
03.55 Uhr. Jetzt geht es endlich los. Dachte schon, die berühmte Tag-4-Spritze war diesmal ein Placebopräparat. Findige Pharmazeuten haben einfach nur den Urin von Blattläusen in die Tube gefüllt. Nein bin nicht von Blattläusen verseucht, sondern gebäre tatsächlich sozusagen live am Bildschirm Leukozyten. Verabschiede mich, muss meinen Gebärort etwas bequemer gestalten. *Stöhn*, Halleluja, meine liebe Hebamme, das zieht bis zur Anus diesmal. Bloß kein Dammriss jetzt!
Lieb dich, lieb euch, lieb alle, und die Blattlaus! Yippieeeeee!!!!! Auuuuuutsch...!!!