Reha-Block wird bei Gelegenheit fortgesetzt. Ergänzungen habe ich gerade vorgenommen. Irgendwie konnte ich die letzten Wochen nicht mehr schreiben. Wollte mich wohl nicht mehr mit mir beschäftigen. 1 Jahr reicht! Aber jetzt bin ich endlich soweit, dass ich hier wieder loslegen kann. Also freut euch auf ein paar neue Einträge.
Tja, meine Lieben, ich gehöre wieder der Arbeitswelt an. Am 10.02. war mein erster Arbeitstag. Angedacht war eigentlich der 01.02. Aber die bürokratischen Mühlen unseres Beamtenstaates mahlen sehr langsam. Ich bekam erst einen Termin beim Gesundheitsamt am 09.02. Somit durfte ich nach mündlicher Zusage der Amtsärztin erst am darauffolgenden Tag meine Lehrtätigkeit aufnehmen. Das Procedere ist so, dass man aufgrund einer Untersuchung beurteilt, mit wie viel Stunden ich wieder einsteigen darf. Diese Beurteilung geht dann an die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (genannt ADD) nach Koblenz, die mir dann abschließend die Stundenzahl für eine entsprechende Zeitspanne zuweist. Meist wird eine Staffelung der Stundenzahl in Betracht gezogen. Natürlich war ich gut vorbereitet. Hatte alle meine medizinischen Unterlagen (meinen dicken Leitzordner mit der Aufschrift „Wissen ist Macht!“) dabei. Dachte zwischenzeitlich, dass es vielleicht nicht so geschickt ist, diesen großen schweren Ordner vorzuführen. Vielleicht denken die vom Gesundheitsamt noch: Wer so ein schweres Ding wuchten kann, ist auch wieder voll einsatzfähig. – Hatte auch ein Schreiben von meiner behandelnden Ärztin mit, in der sie zu Wiedereingliederung 6 Unterrichtsstunden in der Woche vorschlägt. Ärzte und Reha-Patienten (davon auch einige Lehrerinnen) warnten mich davor, mich zu übernehmen. Ich sollte mit so wenig Stunden wie möglich anfangen. Im Verlauf der Erkrankung hat sich natürlich auch meine Einstellung als allzeit bereiter Vorzeige-Staatsdiener verändert. Immer nur zu funktionieren, nicht nein zu sagen, und dabei seine Gesundheit außer Acht zu lassen, so durfte es auf keinen Fall weitergehen. Also war ich bestrebt, eine entsprechend geringe Stundenanzahl für mich herauszuschlagen. Gleich bei der Begrüßung mit der Amtsärztin wurde mir klar, dass das ein ganzes Stück harte Arbeit werden sollte. Unfreundlich, ohne nur ein bisschen die Miene zu verziehen, im Stile einer abgebrühten russischen Hammerwerferin bei ihrem letzten Versuch den Sieg zu einzufahren, begrüßte sie mich nicht, sondern murmelte etwas Unverständliches in einem osteuropäischen Dialekt und blickte auf den PVC-Boden. Der Behandlungsraum war kalt, ungemütlich und ohne jeden Wandschmuck. (Dies war also der tägliche Arbeitsbereich von Frau Dr. – kein Wunder!) Ich zog zwar die Augenbrauen hoch, war aber bemüht, mir ansonsten nicht gleich meine Vorurteile anmerken zu lassen. Ich versuchte, ganz neutral und freundlich mit meiner Amts-Olga in Verbindung zu treten. (Habe ja schon mit so einigen Olgas im vergangenen Jahr einschlägige Erfahrungen sammeln können.) Sie holte diverse Fragebögen hervor und legte los. Ich bot ihr auch meine extra für sie herausgesuchten Befunde für die Anamnese an. Brummend (oder eher grummelnd?) nahm sie sie entgegen. Sie hatte die Angewohnheit Buchstaben entweder wegzulassen oder unverständlich auszusprechen. Ihre Syntax bestand einzig allein aus kurzen Hauptsätzen bzw. Schlagwörtern. „Wa geabt? Lympho? Wa krankt? Aha. Chemo? Stahlu? Aha.W...begonn hat? Aha.“ Sie schrieb sich alles auf und alles aus meinen Unterlagen ab. Ihre Schrift, die ich auf den Blättern vernehmen konnte, lies mich stutzen: Wie konnte jemand das bitteschön entziffern? Ein Archäologe? Meine Augenbrauen waren immer noch oben. Langsam machte sich in meiner Magengrube ein äußerst unangenehmes Gefühl breit. Ein Mensch mit einer zurückliegenden schweren Krebserkrankung kommt da zu einer...was auch immer...tatsächlich Ärztin?... eher zu einem Roboter. Ein Satz hätte genügt und meine Übelkeit wäre so schnell verschwunden wie sie auch gekommen war: Herr, Schnur, das muss ja schlimm für sie gewesen sein oder so ähnlich. Irgendwas Mitfühlendes. Mitgefühl bei diesem Wesen, das da vor mir saß? Die sperrte ihre Kinder bestimmt in den Keller, wenn sie es wagen sollten, eine 2 nach Hause zu bringen. Ihrer Fragerei entnahm ich kein System. Sie stocherte, bohrte, aber mir war nicht klar, wie hilfreich das alles für die Beurteilung meines körperlichen Zustandes sein sollte. Ich bekam immer schlechtere Laune, weil ich nicht den Sinn verstand, alles nochmal zu wiederholen, was sowieso schon in meiner Krankenakte stand. Ich fragte sie deshalb, ob sie nicht vielleicht meine Papiere kopieren wolle, wäre doch einfacher, alles aus einem Interview zusammenzustückeln. Sie sagt nur: Gu! Was wohl gut heißen sollte. Ca. 15 Minuten befragte sie mich allein nur zum Ablauf meiner zurückliegenden Therapie. Darauf folgten 5 Minuten, die sich mit meinem aktuellen Gesundheitszustand befassten. Natürlich verschwieg ich ihr, dass ich bereits fast zwei Stunden auf dem Stepper und Laufband absolvieren konnte und beschränkte mich allein auf die Schilderung meiner Polyneuropathie an den Füssen und meiner Fatique. Erzählte ihr von beschwerlichem Gehen am Ende des Tages, am Morgen oder nach langem Ruhen; beschrieb ihr meine Phasen der Erschöpfung, wenn ich meinem Körper noch zu viel abverlangte. Und von gelegentlichen Schlafstörungen. Natürlich jammerte ich nicht ganz die Ohren voll, sondern versuchte die richtige Dosis zu erwischen. Aber alles schien egal. Egal, welche Befindlichkeiten ich schilderte, egal welche Leistungsfähigkeit ich umschrieb, egal welche Bedenken ich äußerte. Die Vorgehensweise schien von vornherein festzustehen. „6 Stund, nei, geh nich, zu weni, wir ni gemach. Na Ferie 50 Proz.“ Oh! Nun waren nicht nur meine Augenbrauen oben, sondern auch meine Mundwinkel unten. „Äh, gnädige Frau Dr., wollen sie mich gar nicht untersuchen?“ „Is nich notwendi bei ihn. Beurteil ka i au so. Na, Blutdru viellei.“ Aha. Innerlich grinste ich, weil ich vermutete, dass der bestimmt aufgrund dieser skurrilen Olga-die-Polka-Show mindestens die 200-Marke überschreiten würde. War tatsächlich nahe dran. Der Puls zumindest. Mein liebe Katharina die Große! Kurz überlegte ich, Ruhe zu bewahren, und den unterwürfigen Untertan zu mimen. Aber diese Überlegung lief ca. eine Zehntel-Sekunde ab. Ich musste reagieren. Und denke mal, nicht adäquat. Ging einfach nicht anders. War ein Zwang. Sorry Krebs, aber manchmal kannst du mich einfach kreuzweise. Da bin ich eben wieder der alte und blase zur Attacke: Also gnädige Frau (wollte schon Olga sagen, verkniff es mir aber dann Gott sei Dank), diese Untersuchung, die ja mit Verlaub überhaupt keine ist, finde ich schon ein wenig merkwürdig. Die Einschätzung meiner behandelnden Ärztin, die mich ein Jahr durch die Hölle begleitet hat, ist eine Wiedereingliederung von 6 Stunden bis zum Ende des Halbjahres. Ich bring ihnen alle Unterlagen freiwillig mit, die sie im Vorfeld gar nicht angefordert haben. Und dann wollen sie allen Ernstes ein aussagekräftiges Urteil über meine Arbeitsfähigkeit abgeben. Das so lautet: im nächsten Monat 50 % des vollen Deputats. Ich hätte ihnen die Unterlagen auch einfach mit der Post schicken können, das würde auf das gleiche hinauslaufen. Wissen Sie, gnädige Frau, falls ich mich, trotz ihrer äußerst kompetenten Einschätzung mit der auferlegten Stundenzahl überfordert sehe, werde ich meine Ärztin konsultieren. Die mich dann „ebenso unbesehen“, krankschreibt. Wem ist da dann geholfen? Der Schule und meinen Kollegen bestimmt nicht.“ Das musste sein. Wenn ich das nicht gesagt hätte, wäre ich mit Garantie implodiert. Ich war mir im Klaren, dass meine Ausführungen bei Olga auf taube Ohren stoßen werden. Und tatsächlich, was antwortet sie darauf: „Ich mach nu Einschätzu, ADD entscheide.“ Keine Regung, nichts. Ich glaube Olga war vom Gesundheitsministerium ein Prototyp für den ersten Amtsärztin-Cyborg. Beim Verlassen dieses Versuchslabors, habe ich sie noch gebeten, mir eine Kopie ihrer „Einschätzu“ zukommen zu lassen. Was sie ablehnte. „Akteneinsi“ würde sie aber gewähren. Wie gnädig Olga Schabrakowa. Wie gnädig.
Ich verließ das Gebäude. War nicht wütend. Eher mordsmäßig irritiert und verwundert. Ich weiß ja, was ich zu tun habe, damit es mir gut geht. Ich weiß, dass ich immer noch eine besondere Position innerhalb unserer Gesellschaft besitze und mich auf keinen Fall beklagen darf. Und daran wird mich auch kein russischer Cyborg hindern. Ich war nur erschrocken, dass man so bürokratisch mit Menschen umgehen kann. So gefühlskalt. So roboterhaft. Hier in dem kleinen Gesundheitsheitsamt wurde ein Stück Weltliteratur plötzlich begreifbar: "Archipel Gulag" und "Die Wohlgesinnten".
Ich hatte der Schule schon im Vorfeld meines offiziellen Arbeitstages einige Besuche abgestattet. Wollte nicht ins kalte Wasser springen. Versuchte mich damit ein wenig an die Atmosphäre zu gewöhnen. Habe der Schulleitung, die mich während meiner Erkrankung sehr unterstützt hat, Kuchen vorbeigebracht und viele nette Gespräche mit Kollegen und Schülern geführt. Körperkontakt war da oft unvermeidlich. Ich, als mittlerweile Bakterienphobiker, wurde gerherzelt und gekusselt, was das Zeug hält. Aber da muss man durch. Es ist schön, die aufrichtige Freude über meine Genesung wahrzunehmen. Es ist aber auch erschreckend, viele zu sehen, die immer noch den gleichen Stress haben, mit dem man selbst einmal fertig werden musste. Mit Menschen, die mir eine allzu übertriebene Freundlichkeit entgegenbringen, kann ich nicht mehr gut umgehen. Ich kann da nicht mehr schauspielern. Ich wende mich angewiedert ab. Ob Verständnis und Mitgefühl ehrlich gemeint sind, fühlt man sofort. Durch Krebs bekommt man in der Hinsicht das zweite Gesicht. Eine nette Nebenwirkung. Die manchmal aber auch zur Last werden kann. Ich weiß, was ich jetzt schreibe, klingt ziemlich durchgeknallt, aber so empfinde ich es: Das Gefühl, den Krebs „scheinbar“ besiegt zu haben, durch dieses Höllen-Tal der Chemotherapie gewatet zu sein, lässt einen als Auserwählten, Erleuchteten durch das Schulhaus wandern. Man fühlt sich unangreifbar. Es ist nicht schlecht das Gefühl, aber ich glaube, auf langer Sicht, sollte ich mich von diesem Trip verabschieden. Ich möchte ungern als unantastbares Arschloch wahrgenommen werden.
Mein erster Schultag war dfann Aufregung pur. Fast ein Jahr war es her, dass ich vor einer Schulklasse stand. Jeder Satz, den ich sagen wollte, hatte ich mir in den letzten Tagen 1000 Mal durch den Kopf gehen lassen. Auf jede Reaktion der Schüler war ich gedanklich vorbereitet. Ich habe gewusst, dass ich unmöglich einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Nicht, weil das die Schüler einforderten, sondern, weil das nicht meinem Naturell entsprochen hätte. Selbst der Gang in den 3. Stock des Schulgebäudes war etwas Besonderes für mich. Nicht mit dem Fahrstuhl, sondern zu Fuß. Jeder Schritt nach oben flüsterte mir zu, dass ich wieder gesund bin. Machte mich stolz und demütig. Ich war nicht ein bisschen aus der Puste oder erschöpft. 45 Stufen, die mir zeigten, wie schnell sich das Leben verändern kann. Ich hatte Angst, befand mich aber gleichzeitig wie in einem Drogenrausch. Ich fühlte mich wie unter einer Käseglocke, als ich in den Klassensaal trat. Eine Käseglocke, ausgestopft mit Watte, und ich mitten drin. Die Klasse, die ich gleich unterrichten musste, kannte mich und ich kannte sie. Ich hatte sie bereits in der 5. Und 6. Klasse, einige von Ihnen auch kurz vor meiner Erkrankung in der Klassenstufe 8 im Erweiterungskurs des Faches Deutsch. Kinder aufwachsen und sich entwickeln zu sehen, ist das Aufregendste was man sich vorstellen kann. Nun saßen plötzlich Teenager vor mir, die ich schon als 5-Klässler kannte. Manche hatten sich überhaupt nicht verändert, sowohl optisch als auch in Bezug auf Verhalten. Andere hatten sich von einer Raupe zu einem Schmetterling verwandelt und wieder andere, da vollzog sich die Evolution in die entgegengesetzte Richtung. Als ich zum ersten Mal wieder die Stimme gegen eine Horde Heranwachsender richtete, drang mir das so ins Bewusstsein, dass ich Mühe hatte, mich verständlich zu äußern. Obwohl ich versuchte, souverän, humorvoll und gelassen zu wirken: „Oh, hab ich doch einiges verpasst, mittlerweile begrüßt man den Lehrer hier nicht mehr im Stehen.“, hörte ich wie meine Stimme brüchig klang. Trotzdem grinste ich dabei. Der Impuls war erfolgreich und die Schüler standen auf. Wie kann solch eine Situation ein Glücksgefühl auslösen? Die Angst, etwas, was man so lange mit Hingabe betrieben hat, nicht mehr zu können, nimmt so einen Raum ein, dass sie einen Tage lang nicht schlafen lässt. Und plötzlich nimmt man dann wahr, dass man es doch noch kann. Etwas Erhabeneres gibt es nicht. Nun standen alle Schüler vor mir. Ich wäre fast umgekippt, so raubte mir dieser Anblick den Atem. In Sekundenbruchteile gingen mir Bilder der letzten Monate durch den Kopf: die Mitteilung der Erstdiagnose bei meinem Urologen, das Retuximap, das mich jedes Mal an die die Grenze des Erträglichen brachte, Aufenthalte und Operationen in kalten Klinikzimmern, die demütigenden Untersuchen in CT und MRT, Infusionsständer, die Stunden lang am Tag meine Begleiter ware, die eklig schmeckenden unzähligen Medikamente, bei denen ich Würganfälle bekam, wenn ich sie nur sah, das viele Cortison, dass mich zu einem Monster werden ließ, der Verlust der Körperhaare, die mir meine Identität raubte, die Phasen der Aplasie, in denen ich mich wie 90-jähriger Greis fühlte, meine Freunde, die mich regelmäßig in die Klinik fuhren, und die mich zu keiner Zeit im Stich ließen. Die vielen Spaziergänge und Unternehmungen mit Prinzessin Uteb aus dem Reich der Roten Beete, die mir Kraft gaben und Trost spendeten. Und Anna, für die ich jedes Leid ertragen musste, ertragen wollte. Ich hätte nicht überlebt, ohne diese vielen lieben Menschen an meiner Seite. All dies ging mir hier und jetzt bei dieser wunderbaren 9c durch den Kopf. Sie nahmen Platz und ich versuchte ihnen die Bedeutung dieser Stunde zu vermitteln. Versuchte ihnen zu erklären, dass sie ein Teil von dieser bedeutenden Unterrichtsstunde sind. Dass ich glücklich bin meinen Lehrerberuf wieder ausüben zu dürfen und sie vor mir sitzen zu haben. Es war Mucksmäuschen still im Raum. Um mich zu beruhigen, weil mich die Emotionen fast überwältigten, schaute ich aus dem Fenster, hörte aus ganz weiter Entfernung Applaus. Und dann war ich wieder der alte...der neue alte... Herr Schnur...
Jetzt habe ich Zeit. Wonach ich mich immer gesehnt habe. Zeit zur freien Verfügung. Zeit, um die Seele baumeln, sich treiben zu lassen. Wie in einer kleinen Nussschale, auf dem weiten Meer. Und das Beste dabei: Ich habe Zeit und bin voller Energie. Kann (fast) alles tun, was mir in den Sinn kommt. Ein besserer Zustand gibt es eigentlich nicht. Ich kann den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn ich mag, ich könnte Stunden lange Waldspaziergänge machen, könnte Freunde besuchen, hier frühstücken gehen, dort ein Kaffee trinken, mein Horizont erweitern, Party feiern. Alles steht mir offen. Und dennoch: Ich bin nicht zufrieden. Alles, was ich tue, ist im Prinzip Ablenkung von meinem Innersten. Ich möchte nicht in mich hinein schauen. Möchte nicht die Dinge aufarbeiten, die mir immer misslingen. Außerdem habe ich im letzten Jahr schon genug Zeit mit mir verbracht. Ich könnte theoretisch nie allein sein. Bin es faktisch sicherlich auch nicht. Trotzdem spüre ich eine Last auf meiner Brust. Nicht den ganzen Tag, nur dann, wenn das Alleinsein in mein Bewusstsein dringt. Dann möchte ich Menschen, die mir wichtig sind, sofort um mich haben. Die Zeit stellt dann eine Bedrohung für mich dar. Vielleicht schreibe ich gerade dann wohl die meisten meiner Sachen. Ich will nur 6 Stunden die Woche arbeiten, aber eigentlich ist das gar nicht mein Wunsch. Im Gegenteil, es ist eine große Herausforderung, mich daran zu gewöhnen, nur montags und freitags meine Unterrichtsstunden absolvieren zu müssen. Aber ich weiß natürlich, dass es richtig ist, nicht mehr zu arbeiten. Alle sagen das. Ich muss etwas finden, dass mich erfüllt. Etwas, das MICH tatsächlich ausfüllt. Bis jetzt war es immer das DU, niemals das ICH. Das DU war mir immer wichtiger. Aber es ist nicht immer verfügbar. Niemand hat so viel Zeit. Und wenn doch, dann kümmert man sich wohl eher um das ICH als um das DU. Ganz zu Recht natürlich. Mit jemand zusammen auf einem Holz-Parkour balancieren als ICH und DU, ICH sein zu dürfen, aber auch das DU zu genießen, das ist Glück. Wann fühlt man sich geborgen? Nur durch das DU an seiner Seite? Oder geht dies auch alleine? Bin ich alleine, fehlt mir das DU. Habe ich es, gebe ich zu viel von meinem ICH auf. Ist dieses Dilemma überhaupt aufzulösen? Ich möchte nicht mehr nachdenken müssen, etwas nicht zu besitzen, sondern mich freuen, wenn ich es habe. Ich habe das Leben zurück. Ist das nicht genug? Das Leben als ICH. Das DU kommt schon von ganz alleine, denn es braucht ja auch mal Abstand von seinem ICH.
Yippiiiie, jetzt bin ich richtig „wiedereingliedert“: meine ersten Korrekturen. Ach, wie ich das vermisst habe. Und ich darf gleich mich völlig ausleben: 25 Praktikumsmappen. 3 hab ich geschafft, dann war ich fix und foxi. Bin nix mehr gewohnt. Die vielen Fehler lassen mich noch nicht kalt genug. Fahrrad fahren war da viel besser. Das Wetter war heute ein Traum. Kalt. Musste richtig in die Pedalen treten, um nicht zu erfrieren. Die Wiedereingliederung könnte ewig gehen. Sich treiben zu lassen, und einfach nur machen können, was einem in den Sinn kommt, und dabei natürlich wieder körperlich auf der Höhe zu sein, das ist ein unbeschreibliches Glück. Das muss ich mir immer bewusst machen. Manchmal verfalle ich wieder in alte Muster, da sehe ich alles wieder als „normal“ an. Aber nach dem zurückliegenden Jahr ist nix mehr normal. Im Prinzip bin ich nochmal auf die Welt gekommen und kann jetzt alles von Neuem erleben – ein neuer Blick auf die Dinge entfalten. Was höre ich da gerade in den Nachrichten: Der Vorfrühling ist im Anmarsch. Es wird noch milder...das wird ja immer besser. Dann habe ich ja noch weniger Lust auf Korrekturen.;-)
Letztes Jahr war ich schlaflos, weil ich mit Medikamenten vollgepumpt war. Diese Nacht erinnerte mich wieder daran: schlaflos, aber diesmal ohne Cortison und Co. Nicht zu Ruhe kommen, sind das die ersten Anzeichen einer psychischen Erkrankung, einer psychischen Störung? Ich lese gerade so viel darüber, vielleicht sollte ich das eher lassen. Verdammt, ich könnte jetzt alles so genießen, und kann es nicht. Man kennt doch das Gefühl, glücklich zu sein, wenn einfach Rund um alles stimmt. Wenn man sich fallen lassen kann, und fest daran glaubt, in jeder Sekunde des Lebens, aufgefangen zu werden. Wenn man die Außenwelt nicht als Bedrohung wahrnimmt, sondern als Ergänzung zu einem selbst. Ich habe Panik, dass ich mich nie wieder so fühlen werde. Dass ständig dieser Schleier um mich rum existiert, den ich nicht wegzureißen im Stande bin. Ich habe damals Frau Dr. M. gar nicht gefragt, wie lange das Tief nach der Therapie dauern kann. Bin von Wochen ausgegangen. Aber mittlerweile sind es Monate, in denen ich einfach nicht mehr ausgeglichen bin. Ich bin auf dem Weg, mich selbst auszuloten, mich selbst kennenzulernen, zu beobachten, zu erleben. Was mich dabei erschreckt, dass ich Zwänge unterliege, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Umtriebig zu sein, ohne wirklich Freude dabei zu empfinden. Dinge tue, die ich gar nicht tun will. Ich will mich frei von allen äußeren Einflüssen machen, und bin doch von allem abhängig. Vor allem dem DU. An jeder Ecke lauern Enttäuschungen, entweder von Freunden oder von Menschen, die man aufrichtig liebt. Ich kann sie nicht sein lassen, wie sie eben sind. Ich kann nicht sein lassen, wie ich bin. Ich bin nicht allein, empfinde das Alleinsein aber. Bekomme Wärme, spüre aber eine innere Kälte. Die Krebserkrankung scheint tief in mir etwas ausgelöst zu haben, was ich nicht mehr stoppen kann. Jeden Tag habe ich Angst, dass er zurückkommt, wenn ich nicht endlich „meine seelischen Baustellen“ in den Griff bekomme. Irre Gedanken gehen mir dann nachts durch den Kopf. Es gibt da nichts, was nicht von mir gedacht wird. Alles! Und am Ende will ich doch immer ein Nest. Ein Nest, das ich schon seit meiner frühen Kindheit bedroht sehe, um das ich jeden Tag kämpfen musste und am Ende immer als Verlierer da stand. Ein Nest, in dem ich aufgehoben bin, mich akzeptiert und geliebt fühle. Ein Nest ohne Verlustängste!
Kloster? Familienaufstellung? Verhaltenstherapie? Weiterbildung? Romancier? Ausland? Himalaya? Forrest Gump? Heiratsantrag?
Ich sage ja: irre Gedanken!
Irgendwie passen die 3 Bilder zu meinem Eintrag heute. Wurden vor zwei Tage am Kostenfelsen bei Rinntal aufgenommen. Lauft den Hüttenweg: sehr empfehlenswert.
Wieder Mann, Mann!
Vor ein paar Monaten war ich kein Mann mehr. Ich war ein ES, aber kein Mann. Die Krebstherapie hat mich verwandelt. Vielleicht aber auch schon der Krebs. Die Therapie war eine ungewollte Geschlechtsumwandlung. Sehe ich Bilder von dieser Zeit an, kann ich es kaum glauben, wie ich mich verändert habe. Der Verlust der Identität ist eine immense psychische Belastung. Wer ist man? Wer wird man irgendwann wieder sein? Keine Körperhaare, Libido gegen den Nullpunkt, keine Morgenlatte, keine Möglichkeit zu einem Wettkampf, nichts, mit dem Mann sich brüsten könnte, keine Herausforderungen – da bleibt nichts mehr von dir übrig. Du existierst, aber bist ein Wesen wie von einem anderen Stern. Von dem Stern ES. Du magst dich nicht, nein schlimmer, du hasst dich. Und bist überzeugt davon, dass dich andere so auch nicht lieben können. Du verschwindest wie ein Eisblock in einer Sommerpfütze. Nicht der Tod ist das Schreckliche, sondern dieses langsame Verschwinden der Identität. In meinem Lymphom-Blog habe ich oft erwähnt, wie ich damit zu kämpfen hatte, keinen Bart mehr zu besitzen. Kein Kratzen mehr. Wirklich glatt wie ein Kinderpopo, nicht nur werbeillusorisch. Morgens aufzuwachen und sich nicht als Mann zu spüren. Meine Kopfhaare, die mich immer ausgezeichnet haben, seit ich zurückdenken kann: ausgelöcht, vernichtet. Und nun, ALLES wieder da. Nicht nur am Leben, sondern als MANN am Leben. Die Identität ist zurückgekehrt. Auch wenn ich psychisch immer noch nicht auf der Höhe bin, aber dieser morgendliche Blick in den Spiegel tut wieder rundum gut, egal wie schlecht man aussieht. Vor allem nach den Faschingstagen. Du weißt dann: Mann, es gab Zeiten da hast du aber mal so richtig kacke ausgesehen. Dagegen siehst du jetzt aus wie ein Model. In diesem Sinne mache ich mich jetzt auf ins Gesundheitszentrum Vitalis, um mich wieder zu brüsten, mich mit anderen cavemen zu messen und meine Identität noch ein wenig mehr zu formen. Huck!