In der Schulzeit war Rilke keine einflussreiche Größe für mich. Irgendein Dichter halt. Ganz nett, aber verdammt tot! Dass ich auf der Rilke-Realschule Pennäler
war, hat die innere Distanz zum Namensgeber eher noch vergrößert, als dass es sie abgebaut hätte. Erst als fühlender liebender Mensch und Student der Germanistik wurde aus der ursprünglichen
Distanz eine ehrfürchtige Verbundenheit. Glücklich oder unglücklich verliebt zu sein - in diesen Momenten gibt es nichts Heilvolleres als Rilke-Zeilen zu inhalieren. Durch Rilke kann man
Empfinden lernen und das Leben von der hellen, Licht spendeten Seite her betrachten. Wer Rilke liest und versteht, sagt ja zum Leben und nein zur Tristesse. Nun, als 56-jähriger lebenserfahrener
Lehrer, bin ich heute stolz, und es ist für mich ganz persönlich einfach nur passend, Schüler der Rilke-Realschule in Stuttgart-Rot gewesen zu sein. Dass ich mit diesen Gedanken hausieren
gehe, jetzt, nach so vielen Jahren, kommt, wie vielleicht schon vermutet oder erahnt, nicht von ungefähr.
Am Wochenende hatte ich ein Treffen mit meiner Abschlussklasse von 1985. Nach 39 Jahren habe ich die meisten von ihnen das erste Mal wiedergesehen - und das erste Mal überhaupt ziemlich feste in die Arme geschlossen. Eine spannende und aufregende Geschichte. Sehr emotional! Mein Hobby Menschenstudien zu betreiben, bekam gleich mehrere Eimer Futter zum Verzehr dargeboten - von der ersten Analyse der frisch eingerichteten WhatsApp-Gruppe bis zur abschließenden Überprüfung der entstandenen Vorurteile im realen Leben, alles dabei, was so „Mensch sein“ ausmacht. Es ist verrückt! Sehr verrückt sogar! Es scheint gerade so, dass es einen roten Faden in meinem Leben gibt, nämlich der, dass mir Dinge passieren, die nicht so vielen Menschen passieren. In dieser Häufung zumindest nicht. Vater tot mit 17, Mutter tot mit 21, Halbschwestern, die 84 und 88 sind, wohnhaft in Berlin-Kreuzberg und Mecklenburg-Vorpommern, kaum bzw. keinen Kontakt mit den 2 verbliebenen leiblichen Geschwistern, ein Bruder in Hamburg (Funkstille) und eine Schwester in Stuttgart (sporadische WhatsApp). Stotterer inkl. LRS-Schwäche in der Grundschule, durchschnittlicher Schüler, der tatsächlich ein Lehramtsstudium erfolgreich meistert. Definitiv zeugungsfähiger Kerl, der bei seiner wunderbaren Tochter die Nabelschnur in einer gewollten Hausgeburt in Freiburg durchrennen durfte. Krebs 2011, Rezidiv 2021, völlige Entstellung am Kopf und im Gesicht durch eine fucking Gürtelrose. Die damalige Nacht der Verwandlung zu einem Monster Januar 2023 hat sich für alle Zeiten in mein Gedächtnis eingebrannt.
Es ist dann nicht nur mein unfassbares Glück, doch Vater einer wunderschönen Tochter geworden zu sein, sondern auch dass ich mein Lieblingsmenschen und meine Abenteuer-Partnerin vor 12 Jahren gefunden habe. Und das im Internet! Zeit spielt keine Rolle, man braucht nur Geduld!
Auch ein wunder-bares Erlebnis, das ich niemals vergessen werde, das gemeinsame Schnorcheln mit Haien und
Seelöwen vor Galapagos. Niemals habe ich mich lebendiger gefühlt! Wer hätte diesen Ausgang 1985, 2011, 2021 und 2023 vorhersehen können. Und nun dieses Klassentreffen nach 39 Jahren. Ich habe
doch Recht, oder? Völlig verrückt! So sind viele Leben, aber doch nicht ein einziges! Das Schicksal ist in regelmäßigen Abständen zwar ein mieser Verräter, meint es am Ende dann aber doch äußerst
gut mit mir.
Aus heiterem Himmel ist da so eine E-Mail vor ein paar Wochen in meinem Postfach reingerauscht. Man hat mich über das Internet gefunden. Wenn Verwechslung, dann
sorry und ignorieren. Keine Verwechslung, liebe Susi! Da hat mich doch glatt das Mädchen nach 39 Jahren angeschrieben, mit der ich im gleichen Hochhaus im Rotweg aufgewachsen bin, in die ich
einst unsterblich verliebt war, für die ich jeden Morgen noch einen extra Sprüher Parfüm aufgetragen habe. Klassentreffen am 19.07. Verrückt!
Und dann stehen sie plötzlich wieder (fast) alle vor mir: Susi, Meike, Claudi, Ede, Weili, Reini, Ede, Sandra, die Franks, Petra, Sylvi, Uta, Uwe - und wir
alle werden für ein paar Stunden wieder die pickligen Teenager von einst, nur nicht mehr ganz so unbeschwert und unbedarft. Alle strahlen und genießen diesen besonderen Moment der
wiederentdeckten Klassengmeinschaft. Als ob es die vielen Jahre dazwischen gar nicht gegeben hätte. Für einen Augenblick denke ich: Meine Güte, was für ein verdammter Idiot war ich bloß, mich in
einer Nacht- und Nebelaktion vom Acker zu machen, mein altes Leben einfach mal kurzerhand über Bord geworfen zu haben. Aber: Dann hätte ich nicht Anna, nicht Nicole und ich würde nicht in diesem
wunderschönen beschaulichen Böchingen leben. Jetzt könnte man sagen, dann hätte ich auch gute Menschen an meiner Seite - aber mit Sicherheit keine besseren! Alles gut, so wie es war und ist! Um
der zu sein, der ich heute bin (und ich bin überwiegend zufrieden mit mir), um den Himmel über meinem Kopf jeden Tag von Neuem genießen zu können, musste ich mich eben durch diverse kurvigen
Lebensphasen manövrieren. Regen UND Sonne im Einklang - nur dadurch entsteht Leben! Schönes Leben! Wichtig ist es, jeden Tag das Beste aus den Vorgaben herauszuholen, die Hände für neue Blüten
offen zu halten, auch wenn der Wind einen fast vollständig wegbläst.
Du mußt das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und laß dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken läßt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.