Suche dir einen ruhigen Platz, schließe die Augen und stelle dir vor, wie du nach 14 Monaten Krankenstand deinen ersten Tag in deinem Betrieb verbringst. Genau so habe ich mich gefühlt. Unreal. In der Vergangenheit herum spazierend. Eine andere, aber noch bekannte Welt. Protagonist in einer mir fremd gewordenen Show. Man MUSS sich darüber freuen, zurück zu sein. Ich muss mich doch freuen. Hergott! Freu dich doch! Ich tue es aber nicht. Ich freue mich, da zu sein. Ja, das tue ich. Mit allen Sinnen. Herrlich, ins Geschäft radeln zu können. Treten und atmen. 73 Kilometer. Ich bin viel mehr ein Beobachter – von allem. Es fällt mir schwer, zu vielen Leuten freundlich zu sein, die in all den 14 Monaten nicht den Kontakt zu mir gesucht haben, niemals oder kaum nachgefragt haben. Ich bin freundlich, keine Frage. Ich bin ein Profi. Aber es fällt mir schwer. Keine Blumen. Nichts. Nicht, dass ich das erwartet hätte. Warum auch? Als wäre man eben nie weg gewesen. Vielleicht ist das sogar gut so. Kommt man gar nicht groß zum Nachdenken. Das Dilemma ist, dass ich immer eben gerade so fucking viel nachdenke. Eigentlich ist nicht Krebs mein Problem, sondern das Nachdenken und Analysieren. Nur - eine unheilbare Krankheit führt blöderweise erheblich zum Grübeln.
Ich bin nicht mehr böse. Keine Panik. Aber mein Herz will bei einigen nicht mehr so richtig anspringen. Vielleicht braucht es Zeit. Womöglich viel zu viel Zeit. Aber: Wer in der Krise nicht bei einem ist, braucht man auch nicht danach. Oder? Man wird sehr wählerisch im Umgang mit Menschen. Das Naive hat sich in Luft aufgelöst. Man wird zum Menschenausmister. Zufallsbekanntschaften bleiben reiner Zufall oder können einem auch näher kommen, Freunde sogar werden, wenn es gut läuft. In der Krise erkennt man sehr schnell, ob einer ein Freund sein könnte. Wie eine grammatische Form sich derart philosophisch zeigen kann - interessant! Leider hat das schon Seneca vor 2000 Jahren vor mir erkannt. Ich bin unvollkommen, dann sollte ich das auch meinem Gegenüber zugestehen können. Eine einfache Weisheit, lieber Herr Seneca. Und doch so schwer in die Tat umzusetzen. Für mich. Als Baggerfahrer würde mir das bestimmt gelingen. Als Lehrer erscheint es mir geradezu unmöglich.
Zuhause. War ich beinahe euphorisch. Immerhin habe ich mit einer halben Schilddrüse, einer Hüftarthrose und einem Ei 73 Kilometer mit dem Fahrrad geschafft. Auch wenn es nur mit dem geilsten E-Bike der Welt war. Mehr Leben geht nicht. Nicole zeigte mir die vielen Geschenke und Lobeshymnen ihrer Abteilungen. Abschied und Willkommen. So kann es auch gehen. Unweigerlich stellte ich mir die Frage, ist Nicole der bessere Mensch? Icke, der Blödmann, nickte heftig. Schwachsinn, wird sie bestimmt sagen. Sie ist eben lieb. Und gerade dafür lieb ich sie. So sehr!
Kommentar schreiben