Pfalzkind goes to Osna

Das Pfalzkind fühlt sich wie ein Globetrotter. Mit Riesen-Deuter-Rucksack, Isomatte und einer Jack-Wolfskin-Bauchtasche könnte man meinen, er bricht für ein Jahr nach Neu-Delhi auf. Dabei gehts einfach für ein paar Tage zu seinem Töchterlein. Irgendwie seltsam so ohne seine weltbeste Reisebegleiterin, aber auch ziemlich cool. Tochter-Paps-Tage. Wie passend am Vatertag. Da kommt mir der Gedanke: Sollen wir das ab heute jedes Jahr einmal anpeilen? Mehrere Tage mit dem durchgeknallten Daddy allein, ist das überhaupt auszuhalten? ICH freue mich auf den Test. 


09.48 Uhr. Noch ein Test: der Toleranztest. Testet mal eure Toleranz, in dem ihr den Bus nimmt. Ein einfacher Dorfbus reicht. Ein Grundschüler hört Justin Timberlake auf dem Handy. Bestimmt heißt er auch Justin, der Balg. Warum kann es nicht wenigstens ACDC sein, das er mir ohne Skrupel ins Ohr föhnt. Dann: Eine sehr sehr dicke Frau unterhält sich mit einem sehr sehr dünnen Alkoholiker in einer solchen Lautstärke, dass Justin T. nicht mehr beachtet wird und der ganze Bus das Gespräch über Missbrauch in der Familie mitbekommt. Die dicke Frau hasst ihre Mutter, die „dumme Sau“, weil die zugeschaut hat, als der Papa jeden Abend Gute-Nacht-Geschichten vorlas. Auch als die süße Julia schon 15 war. Der Alkoholiker ist von seinem arbeitslosen Vater jeden Tag grün und blau verdroschen worden, den er selbstverständlich auch hasst. Gemeinsam hassen, heilt ein wenig. So denken sie. Beide gebeutelten Geschöpfe haben sich in der Psychosomatischen Tagesklinik kennengelernt. Da gibt es wahrscheinlich noch einiges aufzuarbeiten, schätze ich. Ach ja, sie sind glücklich und stolz, Pfälzer zu sein. Wenigstens das. Die sehr sehr dicke Frau gendert nicht. 


11.25 Uhr. Nicht nur Busfahren ist ein Camp of Tolerance, ein Regionalzug nach Karlsruhe auch. In Winden steigen 5.-Klässler zu. 7 davon umzingeln mich. Ich übe. Nett gucken, bös gucken, freundliche Stimme, strenge Stimme.  Augen aufreißen, Augen ganz klein machen. Eine Mischung aus Gollum und Bruce Lee.  Scheine tatsächlich nicht so viel verlernt zu haben. Sie machen keinen Mucks. Sind aber auch Mädels. Die Jungs treiben in den hinteren Reihen ihre jungen Lehrerinnen dagegen in einen attestierten Suizid, weil sie versuchen die Sitze aus den Verankerungen zu schrauben. Jesus, wie bin ich bloß darauf gekommen, Lehrer zu werden. Schornsteinfeger ist viel besser. 


Ich dachte ich wäre nicht naiv. Der Bahnhof Karlsruhe hat mich eines Besseren belehrt. Beim Kauf einer Semmel und einem Kaffee, steht ein junger Mann plötzlich press neben mir am Tresen, als wären mir Affenpocken völlig egal. Er zeigt mir ein paar Cent in seiner Hand und deutet auf ein Schokocroissant. Mein Herz springt an. Hunger ist Mist! Vor allem Heißhunger auf ein Schokocroissant. Ich kruschtel 1 Euro aus der Hosentasche, guck ihn an, er verzieht sein Gesicht. Gut , ist ja mittlerweile alles so verdammt teuer geworden, auch die leckeren Schokocroissants. Lege noch 2 Euro drauf. Hab’s nicht kleiner. Nun is es aber auch mal gut mit der Gutmüdigkeit. Der gottesfürchtige Bettler betet für mich und verneigt sich 14 Mal…-und…zieht von dannen. Ohne Schokocroissant! Nix gekauft, der Arsch! Weg! Ich betrachte ihn aus der Entfernung ein wenig genauer. Er sah fein aus, elegant, sportlich, hipp. Ich Depp! Der Typ hat durch seinen Trick wahrscheinlich ein höheres Tageseinkommen als ich! Lehre: Gesponsert werden nur noch Straßenkünstler*innen, die was tun für mein Geld oder es wird an gemeinnützige Einrichtungen überwiesen. Basta! 


15.00 Uhr. Schokokuchen und Freiheitsfonds. Wenn ich Bahn fahre, esse ich immer Schokokuchen. Den gibts schon Jahrzehnte. Leider diesmal nicht mit zerlaufenen Kern, aber trotzdem lecker. Beim Kaffee gabs eine Verwechslung. Ich glaube, das was ich da da trinke, ist das Putzwasser. Rein mit! Chemo is schlimmer! 

Der Freiheitsfonds. Was für eine grandiose Idee. Ein spannender Bericht im Radio. Knastis, die Schwarz gefahren sind und ihre Bußgelder nicht zahlen konnten, werden durch Spenden frei gekauft. Alles nach ausführlicher Prüfung. Die Gefängnisse fragen sogar mittlerweile an und bedanken sich. Sorry Bettler, aber da werde ich hin spenden. Vor allem weil ich vor 30 Jahren fast ein Betroffener hätte sein können. Ich hatte verdammtes Glück, dass ich überhaupt Lehrer werden durfte. Kurz vor der Vereidigung wurde ein Eintrag aus dem Führungszeugnis gelöscht. Ich bin über Jahre Schwarz gefahren. War im Club der Schwarzfahrer, gab Beschreibungen der Kontrolleure weiter. Aus Prinzip und weil ich es mir nicht leisten konnte/ wollte. Ein Staat muss dafür sorgen, dass jeder kostenlos von A nach B kommt. In dieser Hinsicht bin ich rosarot. Nur muss ich dann wohl damit rechnen, dass es dann keinen Schokokuchen mehr gibt. 


Aus dem fahrenden Zug zu schauen und wunderschöne Musik dabei zu hören (das Album „Truth“ von Alex Ffrench), grenzt schon an Meditation. Die Ansagen des Zugführers stören ein klein wenig am Verlassen meines Körpers. Ist es nicht seltsam, dass manche Menschen von Musik so ergriffen sein können, dass sie (fast) weinen. Andere dagegen lässt sie völlig kalt. Äußerlich zumindest. Eine Frage für „Wissen vor acht“. 


15.30 Uhr. Ich sitze hier, fahre zu Anna und denke: Was für ein Jahr! Ehrlich, ich habe zeitweise nicht daran geglaubt, dass das nochmal möglich sein wird. Es gibt immer zwei Linien, die in einem verlaufen, die eine, die einem gut zuredet und die andere die realistisch, vielleicht etwas pessimistisch die Dinge betrachtet. Ich habe eigentlich immer täglich mit allem gerechnet. Tue es immer noch. Das Gefühl der Unsterblichkeit ist endgültig vorbei, auch als Hulk. Wir denken immer, dass wir unendlich Zeit zur Verfügung haben. Ganz besonders meinen wir das als junger Mensch. Haben wir aber nicht. Deswegen sollten wir immer überprüfen, ob wir uns Gutes tun und ob wir anderen dabei helfen können, etwas besser voran zu kommen. 


16.00 Uhr. Station in Essen entfällt. Unbefugte Personen auf den Gleisen. Da möchte man doch wissen, wer das ist und wie die da hinkommen. Gelsenkirchen ist somit der nächste Halt. Just in time! 


Aheeeer! Da kommt man an seinen reservierten Platz zurück, sitzen da zwei Hühner, die ich verscheuchen muss. Was für ein Spaß! Waren sichtlich konsterniert. Haben sich eingerichtet, als wäre es ein Nachtzug. „Wir dachten, da kommt niemand mehr.“ Tja meine Lieben, Vorsicht, dass ist das Leben! Es kann zu jeder Zeit ein Schnur um die Ecke biegen. 


17.31 Uhr. Ankunft. Keine Anna. Doch. Wenig später. Stress. Mit dem Wachwerden und Zurechtmachen. Gut zurecht gemacht! Eins der schönsten Gefühlszustände ist, wenn man sieht, dass jemand sich ehrlich freut, dass man da ist. 


17.45 Uhr. Wenn sich dann auch noch eine Hündin überschwänglich freut, dass man über die Türschwelle tritt, dann läuft doch das Leben in ganz ordentliche Bahnen. 


18.30 Uhr. Eine Deutschfakultät im Schloss. Es gibt schlechtere Arbeitsplätze. Meine kleine Anna wird Lehrerin. Mit Sicherheit eine tolle. Eine, die etwas zu erzählen hat. 


18.45 Uhr. Osnabrück ist hübsch und jung. Viele Studenten, die mit übergroßen Lautsprechern, betrunken und krakeelend durch die Straßen ziehen. Ist es das, was wir wirklich wollten: laut sein und sich betrinken bis der Arzt kommt. Menschen sind seltsam. Das Leben von Studis ist hart. Lernen, Geld verdienen, feiern, Geld verdienen, feiern, lernen. Bis man richtig im Job ist, hat man eine weiche Birne. Augen zu und überleben. Ein Hund holt einen da mächtig auf den Boden der Tatsachen zurück. 


19.00 Uhr. Ragazzi. Hippe Pizzaria, Pizzen, die so mächtig sind, dass ein Darmverschluss gleich mitbestellt wird. Lecker, aber danach tot.


19.05 Uhr. Endlich lerne ich das Phantom kennen. Was für ein feiner netter Kerl. Und lustig. Menschen mit Humor haben immer sofort bei mit einen Stein im Brett. Der einzige Makel: der Junge arbeitet zu viel. Nicht gut. Zu viel arbeiten macht krank. Bin ich froh, dass Anna einen äußerst zuverlässigen „WG-Mitbewohner“ hat. Das ist ja die größte Sorge aller Eltern: Bitte bloß kein Idiot/ keine Idiotin!  Es ist der Supergau, wenn man feststellt, dass die letzte Kerze auf der Torte auch bald erloschen ist und die Tochter nur auf zweieigigen Proleten steht. Diese Sorge war komplett unnötig. 


21.00. Absacker im Warsteiner Treff. Die Kultkneipe in Osna. Den Kult kann man auch einigen Gästen ansehen. Gute friedliche Stimmung. Schorle im Weinglas. Ach, geht auch mal. 



23.00 Bett. Nichts getan und trotzdem müde. Irgendwie ist das schon seit 13 Monaten mein Zustand. Resümee: Sehr schön auf der Welt zu sein. 



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