Reha Teil 4 - Tag 4. Die Erkältung hält mich in ihren Fängen und vom Schreiben ab. Kaum habe ich ein paar Zeilen getippt, bin ich erschöpft. Der Akku ist immer nur zu einem Drittel geladen. Es ist unglaublich, wie ein Mensch seit Wochen so viel Rotz entwickeln kann. Ich würde das ganze Gerotze so gerne sammeln und am Ende wiegen oder das Volumen vermessen. Ich käme damit bestimmt ins Guinessbuch der Rekorde. Mein Bollerhusten zermürbt mich, macht mich fix und alle. Ein unkontrolliertes menschliches Erdbeben. Meine Güte, wie fühlt sich bloß ein schlimmer Corona-Verlauf an? Meine Lungen kollabieren schon, wenn ich in den Keller muss. Auf dem Rücken liegend röchelt es in mir wie in einer Heizungsanlage. Am Sonntag war ich noch so fit, dass ich eine schöne Schneetour mit Nicole unternehmen konnte. Von Bergen zum Kloster Maria Eck. 400 Höhenmeter auf 9 Kilometer. Der letzte Schnee wohl für diese Saison. Der Chiemgau ist wunderschön. Ich kann nur jedem empfehlen, dort Urlaub zu machen. Egal zur welcher Jahreszeit. Ich bin jetzt der Klinik gar nicht mehr böse. Der Mangel an Anwendungen hat mich dazu gebracht, die wunderbare Landschaft zu Fuß und mit dem Fahrrad zu erkunden und zu genießen. Zeitweise habe ich mich in meine Pfälzer-Jakobs-Weg-Woche zurückversetzt gefühlt. Kein Mensch auf weiter Flur. Im Einklang mit sich und der Welt. Da draußen ist nichts mehr wichtig. Es zählt nur noch das Drinnen. Ob ich jetzt in einem besseren Zustand wäre, hätte ich die notwendige Anzahl von Anwendungen erhalten, kann ich nicht beurteilen.
Es ist schön wieder Zuhause zu sein. Die gewohnte Umgebung hat großen Wert, auch wenn man das Reisen liebt. Ich vermisse tatsächlich ein paar Dinge: das leckere Wasser im Wasserspender der Klinik zum Beispiel. Wasser ist eben nicht gleich Wasser. Lisa Lausemaus vermisse ich. Ihr Kichern bei meinem Stöhnen. Eine begnadete Physiotherapeutin - und das schon mit Anfang 20. Es fehlen mir die Gespräche mit bunten gebeutelten Menschen, die dem Verräter Schicksal jeden Tag in die Fresse hauen. Menschen, die sich ein perfektes Leben vorgaukeln, langweilen mich da eher. Das ultra-bequeme Pflegebett wäre im Schlafzimmer auch nicht so verkehrt. Ein Schaumstoff, der sich meinen verknorpelten Bandscheiben anpasst, der Wahnsinn! Gibt es Pflegebetten eigentlich auch in doppelter Ausführung?
Mir geht es bis auf die Erkältung und ein paar anderen Baustellen ganz ordentlich. An Schule ist auf jeden Fall noch nicht zu denken. Die Frage ist, ob ich jemals nochmal 100 Prozent erreichen werde. Muss ich mich nicht vielleicht mit 80 Prozent Leistungsfähigkeit arrangieren? So steht es ja auch in meinem Behindertenausweis. Berücksichtigt man meine Krankengeschichte sind 80 Prozent doch ganz passabel. Manche denken, sie sind gesund und weisen noch viel weniger Prozente als ich auf. Das Meiste ist da doch wie immer Kopfsache.
Es warten in den nächsten Tagen weitere Therapie- und Kontrolltermine auf mich: Logopädie, Hämatologie, Orthopädie, Physio. Sogar ein OP-Termin: Ich werde endlich meinen Port los. Freiheit! Dann Reha dohoim sozusagen. Unbeschäftigt vielbeschäftigt.
Anna hat jetzt ihr letztes Praktikum absolviert. Ein weiterer Schritt in den Lehrerberuf. Ich kann so vieles nachvollziehen, was sie umtreibt. Auch ich habe mir anfangs viele Gedanken gemacht. Wie man sieht, hört das Grübeln über das Leben nie auf. Die Zweifel, ob man das Richtige anstrebt. Ob es nicht noch andere gewinnbringendere Optionen gibt. Ein Gewinn für die Leidenschaft. Bei Anna wären das Tiere, nicht Menschen. Aber wie viel Prozent der Arbeitnehmer*innen leben beruflich ihre Leidenschaft aus? Wie viel sind überhaupt leidenschaftliche Wesen? Man lebt meistens den Kompromiss, die Nüchternheit, nicht das Abenteuer, nicht das Ungewisse.
Ich freue mich auf die Arbeit mit den Schülern. Da gehöre ich hin. Das gibt mir Befriedigung. Beruflich. Aber alles um den reinen Unterricht herum ist doch eher lästig und reduziert die Leidenschaft bis auf ein Minimum. Man muss das große Ganze sehen: Privat UND Beruf. In beiden Feldern möchte man wenn möglich Zufriedenheit erlangen. Muss aber eins von beiden nicht immer vernachlässigt werden? Mir ist es ein Rätsel, wie beides harmonisch nebeneinander herlaufen soll. Dafür ist die Ressource Zeit viel zu knapp.
Im Privaten läuft es bei mir. Lieben und geliebt werden, mehr ist nicht möglich. Schreiben und Reisen/Wandern mit Nicole zusammen, das werden weiterhin meine beiden Leidenschaften sein. Das Unterrichten natürlich nicht zu vergessen. Bei Anna werden es immer die Tiere bleiben. Am liebsten Tiere, die eine Geschichte besitzen, die gezeichnet sind, deren Seelen einen Riss erlitten haben. Anna die Tierflüsterin. Manchmal kann ich sogar auch das verstehen: dass man sich eher um das Wohl der Tiere sorgt, als um das Wohl der Menschen.
Mir liegt das Wohl der Schüler*innen noch zu sehr am Herzen, auch wenn menschliches Verhalten immer mehr auf mein Unverständnis stößt.
Ich kann meinen Beruf nicht an den Nagel hängen. Außerdem wäre es das Größte, mich mit Anna über das Lehrerdasein auszutauschen. Ihr Weg motiviert mich, weiter zu machen. Und vielleicht erarbeiten wir uns so gemeinsam ein leidenschaftliches Leben, mit dem wir irgendwann beide zufrieden sein können.
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