Der traurige Picasso

Heute frühstückte Picasso mit mir. Gelbes Band. Kardio. Bleich wie eine frisch gestrichene Wand. Picasso wird nächste Woche 90. Als ich sah, wie langsam er unterwegs war und er für jedes Frühstücksutensil am Buffett Minuten brauchte, weil er zwei volle Teller mit seinen zittrigen Händen nicht balancieren konnte, bot ich ihm meine Hilfe an. Das Zeitfenster für’s Frühstücken beläuft sich nämlich nur auf 30 Minuten. Hätte er alles selbst organisieren müssen, wäre die Zeit um, bevor er sich überhaupt ein Löffel Müsli hätte gönnen können. Er war sichtlich erleichtert über mein Angebot. Nur wusste er nicht, dass auch ich als Servicekraft nichts tauge. Aber ich war eindeutig  schneller unterwegs als er. Trotz dicker Wade und zerbröselter LWS. Dem kleinen dürren bleichen Picasso, der zwar nicht so vor Energie strotzte wie der große Maler, aber für Vier aß, sollte ich drei Brötchen, etwas Gemüse, Wurst -„aber keine Salami“- Käse, Marmelade, Müsli - „aber das schleimige“-  und einen Apfel - „aber bitte einen roten“ - mitbringen.  Er lachte, als ich ihm meinen Respekt zollte und ihn fragte, was das denn für eine Diät sei. 

Die Aufgabe, die er mir stellte, fühlte sich wie eine medizinische Anwendung an. Alle Muskeln waren bis zum Anschlag angespannt. Der Gleichgewichtssinn wurde bis aufs Äußerste herausgefordert. Ich war stolz wie Harry, als ich dem berühmten Künstler unfallfrei sein reichhaltiges Frühstück präsentierte. BEINAHE unfallfrei. Das dritte Brötchen geriet ins Rutschen und plumpste beim Abstellen des Tellers auf die Jogginghose von Picasso. Er kicherte. „Früher hätte ich das Brötchen aufgefangen. Jetzt habe ich Reflexe wie ein Pandabär“, kommentierte er mein Ungeschick. Unter seinem gelben Schlüsselanhänger lag die Badische. Ideal für weitere Konversation. Es stellte sich heraus, dass er in Durlach wohnt und einen Lehrstuhl für Geschichte inne hatte. Picasso hieß Hermann. Er hörte interessiert zu, als ich von Familie, die wunderschöne Palz und Job berichtete. Er erzählte mir, dass er 89 Jahre kerngesund gewesen war und jetzt „diesen blöden Herzschrittmacher“ bekommen hat. Jetzt sei es doch auch mal gut. Er hätte ein schönes langes Leben gehabt. Genug sei genug. Ich merkte, wie plötzlich seine gute Laune ins Traurige kippte. „Und wissen Sie, ich ertrage diese grausigen Kriegsbilder nicht mehr. Alles kommt wieder hoch. Alles. Meine Mutter ist beim Lutftangriff auf Dresden ums Leben gekommen. Sie hat es nicht mehr rechtzeitig in den Keller geschafft. Sie wollte noch ein paar Sachen für uns Kinder holen. Dann war sie weg. Für immer. Einfach weg. Meine Vater hat uns fünf Kinder alleine groß gezogen. Er hat den Tod seiner Frau nie überwunden. Ist daran innerlich zerbrochen. Die Geschehnisse von damals haben sich alle tief in unsere Seelen eingebrannt. Wie eine Tätowierung, die man nie wieder los wird. Und jetzt wiederholt sich alles wieder. Ich ertrag‘s nicht. Mein ganzes Leben hab ich Studenten vom Krieg berichtet und dann muss ich mitansehen, wie Mitten in Europa wieder Zivilisten von einem verrückten Despoten abgeschlachtet werden.“ Seine Unterlippe bebte und seine Augen wurden feucht. Was erwidert man da? Wie soll man Zuversicht äußern, wo man selbst nicht zuversichtlich ist. Ohne diesen biographischen Hintergrund, sind die Berichte und Bilder aus Mariupol ja schon so kaum zu ertragen. Man leidet unendlich mit, wenn ukrainische Mütter direkt aus dem Bildschirm um ihre Kinder und Männer weinen. Wie sehe es da wohl erst mit der eigenen Seele aus, wenn im früheren Leben einem selbst Bomben und Granaten alles zerstört hätten. Eigene geliebte Familienmitglieder im Bombenhagel zerfetzt oder verstümmelt worden wären. Und jetzt sitzt dieser nette gebrochene Greis vor mir und schüttet einem Wildfremden sein Herz aus. Ich traute mich nicht mehr in meine Semmel zu beißen, versuche meine Gedanken zu sortieren, in dem ich Kaffee nachgieße und an meiner Tasse mehrfach unbeholfen nippe. Irgendetwas MUSS ich jetzt doch erwidern können. Irgendwas -: Wissen Sie, Sie dürfen nicht aufgeben, so schwer Ihnen das auch fallen mag. Für uns alle nicht. Nicht im geringsten kann ich Ihren Schmerz nachvollziehen. Mir tun diese schrecklichen Bilder selbst im Herzen weh und ich habe keinen Krieg  miterlebt. Es ist Ihr ganz persönlicher Kampf für das Gute, für den Frieden, uns davon unaufhörlich zu berichten. Ohne Waffen! WIR dürfen niemals aufhören von IHNEN zu lernen. Wenn wir aufgeben, wegschauen, ignorieren, haben alle Kriegstreiber und Aggressoren dieser Welt gewonnen. Picasso nahm seine runde Metallbrille von der Nase und wischte eine Träne mit der Serviette aus dem linken Auge. „Sie haben ja recht, junger Mann! Mir fällt dies leider aber zusehends schwerer. Ich habe kaum Kraft mehr. Nicht in meiner Seele und nicht in den Knochen.“ Wir saßen fast eine Stunde so zusammen. Erzählten uns dies und das. Tauschten uns noch über Fußball und Ludovico Einaudi, dessen Kompositionen wir beide sehr mögen, aus. Ich hätte mir so einen gebildeten lebenserfahrenen weisen Großvater sehr gewünscht. Wir verabschiedeten uns höflich voneinander und dankten uns gegenseitig für das interessante Gespräch. Zum Abschied lächelte er mich vor dem Aufzug ein letztes Mal an: „Ich werde versuchen, noch ein bisschen weiter zu machen“. 

Auf meinem Zimmer war mir nicht mehr danach, die neuesten Kriegsnachrichten zu schauen. Das Gespräch mit Picasso hallte noch lange in mir. Ich MUSSTE es sofort aufschreiben - und dabei ein wenig Ludovico Einaudi hören. 

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