Der einzige Stress

Da hab ich mich gerade so langsam an die viele Freizeit gewöhnt, macht mir die Klinik tatsächlich in der letzten Woche noch richtig Stress. Vier Anwendungen an einem Tag, der reine Wahnsinn.  Physio, Fußreflexzonen und Massage. Tut alles gut. Nicole hat Daheim ganz schön viel zu tun, um das dann alles zu kompensieren. Ergometertraining in der Gruppe könnte man sich sparen. Draußen zu radeln ist schöner und effektiver. Jetzt hab ich eine feste Mitesserin. Eine übriggebliebene „Grilldame“ leistet mir nun regelmäßig Gesellschaft. Man mag es nicht glauben, aber man kann die Face-to-Face-Kommunikation nahezu verlernen, wenn man sie nicht regelmäßig einübt. Zumindest fällt es schwer, immer schnell adäquat genug zu reagieren. Maske und Glasscheibe sind jetzt auch nicht unbedingt hilfreich für eine Adressaten bezogene Gesprächsführung. Woas hoast gsoagt? Kaffee! Tee? Na Tee hoab i net! Net Tee! Hä? Budder? Aber Budder hoaschd do selber! 

Sogar in die Augen schauen, ist keine Routine mehr. Augen sind mit Maske so zentral geworden. Man hat immer das Gefühl, den anderen anzustarren und sich als Psychopath zu outen. 

Es ist für mich immer wohltuend, wenn ich auf Menschen treffe, die genauso zerstreut sind wie ich. Mir scheint es, als würde ich permanent irgendetwas irgendwo liegen lassen oder unterwegs verlieren. Franzi geht es auch so. Wir schieben es auf die Chemo. Das macht’s einfach und beruhigt. Es ist wohl der einzige Stress, den ich zurzeit habe: Dinge suchen. Suchen, suchen, suchen.  Und natürlich auch verlieren. Ein Lösung wäre: dinglos zu leben. Aber das ist auch keine Option. Dafür liebe ich auch das Unbedeutende viel zu sehr. Weniger ist mehr? Mehr ist mehr! Den Suchstress verarbeitete ich mit einem kleinen Frühlingsspaziergang. Wenigstens da braucht man nicht viel. Herrlich die Düfte, die Farben, das Gezwitscher. Ab morgen ist alles vorbei. Ein Tief rückt an. Sogar Schnee soll es die Tage geben. Verrückt! Was für ein Pech für die Patienten*innen, die jetzt anreisen. 7 Kilometer bin ich gelaufen.  500 Meter vorm Ziel, packte mich ein Höllenkrampf in der Wade. Kurzfristig ging gar nix mehr. Das hatte ich noch nie. Ich hatte zwar schon eine Vielzahl von Krämpfen in meinem Leben, eher im Bereich der Adduktoren verortet, und meist nachts. Aber die Wade? Ich dachte, wenigstens meine Wade wird 100. Die 500 Meter bis zur Klinik waren die pure Hölle. Ich war kurz vor einem Notruf. 

Arzt guckte an meinem Bett gleich drauf: Magnesium, schonen, dehnen. Das war’s.  Was einen immer alles erwischen kann. Man ist sich eben nie sicher. 


Lisa Lausemaus turnte heute Morgen ausnahmsweise nicht auf mir rum, sondern knetete meine Wade wie den Teig von einem Bauernbrot (oder doch eher Hackbraten?). Wenn sie ihre Finger genau in den Punkt steckte, wo das üble Krampfmonster sich befand, jaulte ich wie ein Kojote in der Prärie. Furchtbar! Schrecklich! Horror! Doch es wird langsam besser - glaube ich. Dr. Wirrkopf klärte vorhin per Ultraschall eine Thrombose ab. Scheint alles diesbezüglich in Ordnung soweit. Wohl einfach falsche Schuhe, zu wenig Flüssigkeitsaufnahme, die LWS-Schonhaltung oder alles zusammen. 

Mein trotteliger Chefarzt ist ein Fall für die Neurologie. Ja gut, ich habe einen Hang zur Übertreibung, ich gebe es zu. Aber ehrlich, der Typ macht mich jedesmal ganz kirre. Er sagt ständig immer dasselbe. Als ob irgendwer außerhalb in einer Steuerzentrale auf einen Knopf drückt. Vielleicht ist er ja gar kein Mensch. Ich müsste das aufnehmen; es ist wirklich schräg. Da mich meine Wade zwickte, mich Lausemaus schon um 07.30 Uhr quälte und ich noch keinen guten Kaffee hatte, sprühte ich jetzt nicht gerade vor Nettigkeit und Geduld. Ich bin gespannt auf die Rechnung. Master of Repeat rechnet bestimmt jeden verdammten Vokal ab. 

An die Ergebnisse meiner Blutprobe musste ich ihn 

natürlich erinnern. Das Wichteste lässt er einfach mal so unter den Tisch fallen: Meine Entzündungswerte sind endlich unten. Das erste Mal seit 8 Wochen. Schön zu hören. Am Ende fasst er dann alles, was er schon mehrmals wiederholt hat, nochmals detailliert zusammen. Wenn ich ihn unterbreche, weil ich ihm sonst sein Brieföffner zwischen die unverlöteten Kabeln jagen würde, sagt er immer: Warten sie, zuerst handeln wir den Punkt noch ab. DEN PUNKT habe ich aber da schon mindestens dreimal erklärt bekommen. Das Gespräch hat mich so erschöpft, das ich auf meinem Zimmer ein kleines Nickerchen machen musste. Ich stehe gerade in der 1. Unterrichtsstunde nach meiner Auszeit, wiederhole mich ständig, die Schüler schlafen alle nacheinander ein, Kevin rutscht vom Stuhl, Chantal rutscht von Kevin, da klingelt das Telefon. Stationsschwester möchte mir vom Chefarzt mitteilen, dass ich das Magnesium einmal pro Tag nehmen soll, wichtig, NICHT nach Bedarf. Ich: Echt jetzt? Sie: Jahaa?! Ich: Das hat Chefe mir gerade schon mindestens 5x ausführlich erläutert. Schwester Imingard lacht nur.  Der wirre Weißkittel hat komplett was an der Waffel. Da ist nicht nur EIN Kabel nicht richtig verlötet. Das sagte Schwester St. Irmingard natürlich nicht. 

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