Die Blauen, die Gelben, die Roten und die ?

Reha Teil 3 - Tag 22. Der Sonntag verlief unspektakulär. Fast. Es muss ja nicht immer der große geplante Ausflug sein. Treiben lassen, ausruhen, sortieren. Und natürlich bewegen. Wie die englische Fußballnationalmannschaft möchte ich die längste „Jahrhundertserie“ hinlegen. Nur bei mir sind es nicht die Siege, sondern die Aktivitätsringe auf meiner Apple-Watch. 19 Tage hintereinander sind jetzt alle 3 Ringe geschlossen worden. Das soll noch eine Weile so bleiben. Also den ganzen Tag im Pflegebett is nich. Vollständig geschlossene Ringe bedeutet jeden Tag Pluspunkte gegen den körperlichen Verfall. Ich hab mir seit 3 Tagen eine Ernährungs- und Bewegungsstrategie zurecht gelegt, so dass ich das Frühstück ausfallen lasse und erst um 12.00 Uhr etwas esse. In dieser Zeit wird sich trotzdem nach Herzenslust betätigt. Mich wundert es, dass bei ca. 350 Patienten*innen die zwei frei zugänglichen Ergometer nie besetzt sind. Da ich ja kaum Anwendungen habe, ist das rechte Standrad vor dem Schwimmbad sozusagen mein zweites Zuhause geworden. Ich bin schon bei 150 Watt und muss befürchten, dass das Ding aus der Verankerung reißt, durch die Glasfront kracht und im Klinikpool landet. Es macht unfassbaren Spaß, bei New Model Army oder Linkin Park den Tacho hochzujagen und mich selbst zu battlen.  Zur Abkühlung fahre ich mich immer im kleinen gemütlichen Garten des Innenhofs runter, glotze in den Fischteich oder fletze mich auf einen der Loungesessel. Dafür muss man die Terrassentür, die ans Foyer grenzt, öffnen. Im Foyer sind kleine Aufenthaltsbereiche mit jeweils einem Tisch und einem Ledersessel. In so einem Bereich saß nun eine kleiner Mann mit Weizenwampe, schwarzem Audi-T-shirt und schwarzem Basecap. Er sah konzentriert-grimmig vor einem 17-Zoll-Laptop. Die Terrassentür und seine Weizenwampe waren Luftlinie etwa drei Meter voneinander entfernt. Mit dem Öffnen der Türe hatte ich, raffiniert wie ich bin, zwei Fliegen auf einmal im Sinn: mich kühlen und das Foyer etwas lüften. Ich schloss die Türe nicht, sondern ließ sie ungefragt offen. Nicht bis zum Anschlag, eher zur Hälfte. Ich wollte mich gar nicht lange im Innenhof aufhalten, weil es mich nach meinem ersten morgendlichen Kaffee gelüstete. Ich war schon wieder auf dem Weg ins Foyer zurück, stand der Weizenmann direkt vor meiner Knubbelnase und haute, mich im bayerischen Kauderwelsch bepöpelnd, die Türe erbost zu. Er war sichtlich sauer, dass er durch meine Aktion bei 12 Grad am Morgen frieren musste. Als ich auf seinem Tisch einen roten Schlüsselanhänger liegen sah, war mir alles klar: Der cholerische Dickbauch war auf der Psychosomatischen. Natürlich hatte ich ein minimales schlechtes Gewissen; es reichte leider nicht aus, mich zu entschuldigen. Ich trottete an ihm vorbei und kommentierte lächelnd: Alles klar, rotes Band! Ein verdutzter Blick traf mich. Der Pfeil steckte zwischen seinen buschigen Augenbrauen. Sein Skalp gehörte mir. Es ist eigentlich eine Datenschutzfrechheit auf Seiten der Klinik, den Aufenthaltsgrund farblich zu kennzeichnen. Man sieht die Mitpatienten*innen gleich in einem ganz anderen Licht. Tief sitzende Vorurteile werden dadurch noch verstärkt. Regel: Um einem griesgrämigen „Roten“ macht man am besten einen Bogen. Man bildet sich ein, eine bestimmte Kategorie von Menschen dem farblich passenden Schlüsselanhänger zuordnen zu können. Was Quatsch ist, aber es wäre ein nettes Spiel. Bei Mr. Kugelbauch hätte ich schon mal falsch gelegen, da hätte ich optisch auf „gelb/Kardio“ getippt. Was oft genug hinhaut. Die Kardiojungs sind meist um die 60 und schieben einen Ranzen, gefüllt mit Bauchspeck vor sich her und haben rot geäderte Zinken. Blaue Damen tragen häufig eine Kurzhaarfrisur oder ein buntes Tuch um den Kopf. Die „Roten“ sind in der Überzahl auffällig jung. Zwischen 20 und 40 würde ich sagen. Mit so einem „jungen Mann“ hatte ich vorgestern eine bezeichnende Begegnung. Er war mir schon im Speisesaal aufgefallen. Er zog immer ein Gesicht, als hätte er gerade den Lottoschein mit sechs Richtigen verloren und müsste das jetzt seiner Ehefrau erklären. Ein recht gut aussehender sportlich-athletischer Typ. An dem besagten Tag kamen wir nun zufällig gemeinsam von einer Radtour zurück. Ich eher der Freizeitsportler, er der Tour-de-France-Etappen-Gewinner. Auf dem Weg zur Klinik lief ich vor ihm her. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Weil ich stehen blieb und auf meinem Handy tippte, versperrte ich ihm den Durchgang auf dem schmalen gepflasterten Weg zum Eingangsbereich der Klinik. Er hätte aber auch locker rechts oder links auf dem Rasen an mir vorbei ziehen können. Gut, evtl. hat er ja auch eine Rasenphobie, das weiß ich natürlich nicht. Auf jeden Fall blaffte er mich gleich voller Ungeduld von der Seite an. Hier verkniff ich mir das spitze Kontern, sondern entschuldige mich höflich. Ich war ja selbst erschrocken, als ich ihn plötzlich im Nacken verspürte. Der Alltag ist stets auch ein Test, ob die Anweisungen, Verordnungen und Maßnahmen der Ärzte etwas bringen. Aber vielleicht hätten die zwei „roten Herren“ mich vor Kurzem in ihrer akuten Phase noch aufgeschlitzt. So gesehen,  wäre ihr pampiges Rumgezicke natürlich ein Fortschritt. Icke hatte hierfür selbstverständlich vollstes Verständnis.


Noch eine merkwürdige Gestalt. In einem wunderschönen Café am See, das nur samstags und sonntags geöffnet hat, wohnte ich bei, wie ein Mann seine Frau drangsalierte. Sehr crazy. Er zog sein linkes Bein hinter sich her. Nicht wie ich; sein linker Fuß holperte und polterte bei jedem Gang über den Boden. Ich hinke ja nur etwas. Er wackelte mit Körper und Kopf und hatte eine viel zu laute unangenehme hohe Fistelstimme. Er polterte und holperte also von Tisch zu Tisch, zog nicht nur das Bein hinter sich her, sondern auch seine Frau, fragte alle Gäste, auch mich, ob sie denn bald gehen würden. Klar! Er wollte einen Platz an der Sonne. Seiner Frau war das erkennbar unangenehm, konnte sich aber nicht durchsetzen. Sie versuchte ihn flüsternd zu beschwichtigen. Als sie vor mir endlich einen Platz gefunden haben, war immer noch nicht Ruhe im Karton. Ständig hatte er lautstark etwas auszusetzen. Nur Kaffee und Kuchen unterbrachen für einen kurzen Moment sein Gezeter. Wackelmann, mit Namen Julius hatte nicht nur einen Icke, sondern eine ganze Armee Ickes, Dus, Er’s, Ess, Wirs, Ihrs und Sies in der löchrigen Rübe. Was war mit Julius passiert? War er schon immer so ein Kotzbrocken? Oder hat er sich aus Versehen mit dem Jagdgewehr ins Ohr geballert und ist seit dem ein unerträglicher Mensch. Vielleicht ist er aber auch über eine Kiste Champagner auf seiner Yacht gestolpert und hat sich dabei das Hirn zu dolle am Segel gestoßen, der arme Julius. Lieber, lieber Gott, ich bitte dich nur eins, lass mich niemals so enden wie Julius Wackelmann. Wenn ich schon daran denke, breche ich in Panik aus. Hilflos sein, ist schon schlimm genug, aber ein hilfloses Arschloch ist das Grauen. Welches Farbband er wohl von meiner Klinik bekommen würde? 

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