Sonne satt, Brustkrebs und Martin Walser


Werde ich jemals nochmal außerhalb der Rehaklinik solche Titel verfassen? Wohl kaum. Nur in einer Reha kann diese merkwürdige Kombination stattfinden. Man sollte in der Nacht seinen Tag immer mit drei Schlagworten zusammenfassen. So in etwa wie: Tschernobyl, das Kalbsschnitzel und die irre Schwiegermutter. Damit meine ich natürlich nicht meine von mir sehr geschätzte Schwiegermama. War nur ein Beispiel. Also zurück. 


Sonne satt. Wenn sich die Klinik nicht in einer solcher traumhaft schönen Lage befinden und das Wetter nicht so mitspielen würde, dann wäre dieser Aufenthalt wohl eher als medizinisch sinnlos einzustufen. Statt keine Anwendungen habe ich jetzt zwei. Und Dr. Wirrkopf verkauft mir das noch als Quantensprung der Schnurschen Rehabilitation. Ich verschreibe mir meine eigene „Daueranwendung“: Fahrrad fahren. Ich bin sehr froh, dass ich in dieser Beziehung nicht eingeschränkt bin. Es ist wie eine große Schatzkiste, die man öffnet und die darin verborgenen Juwelen Stück für Stück sichtet. Manchmal sehe ich ein Abzweig und am Ende des schmalen Weges blitzt und funkelt es, ich bremse scharf, stelle das Rad ab und erforsche wie ein kleines Kind das faszinierende Unbekannte. Alleine war ich glaube ich noch nie glücklicher. Alleine? Das stimmt so nicht. Um allein zu sein, müsste ich das Handy wegschmeißen. Die Anteilnahme am Schönen, lässt mich zu einem gewissen Grade auch mutiger werden. Worauf sollte ich dann auch meine Notizen machen. Auf Papier? Mit Stift? Gott wie oldschool! Es würde aber ästhetisch viel besser zu dieser grandiosen stehen gebliebenen Landschaft passen. Ich wundere mich nicht (mehr), dass in dieser Region so viele ungeimpft sind. Wenn man hier lebt, bekommt man das Gefühl alleine auf der Welt und nur sich selbst gegenüber verantwortlich zu sein. Am Ufer des Chiemsees sieht man viele Menschen, die einfach nur alleine da sitzen und aufs Wasser starren. Die ursprüngliche Natur betäubt und es scheint, als er würde sie nur Müßiggang zulassen. Nichts wirkt hier geschäftig. Stress und innere Unruhe scheinen aus dem Sprachgebrauch getilgt worden zu sein. 


Gespräche über Brustkrebs. Ich bin gern mit Icke unterwegs. Das Treibenlassen per Velo verursacht Ausgeglichenheit und tiefes Entspanntsein. Die Anwendung „onkologische Entspannung“ habe ich von unterwegs abgesagt, um draußen noch länger entspannt sein zu dürfen. Trotzdem habe ich mich aber auch so gefreut, doch eine gewisse Ansprache am Abend zu haben. Meine bekannten und lebensfrohen drei Damen vom Grill standen im Foyer der Klinik zusammen und bereiteten sich bereis lautstark auf das Abendbrot vor. Ich schmiss mich ebenfalls gut gelaunt und mitkichernd Mitten rein. Sofort wurde die Strategie entwickelt, einen „Vierer“ ausfindig zu machen. Coronabedingt gibt es im Speisesaal eine Vielzahl von Einzel-, Zweier-, Dreiertischen und sehr selten eben nebeneinander stehende Vierertische. Als Grüppchen ist es immer ein Suchspiel, die geeignete Kommunikationsinsel zu finden. Und man freut sich dann wie nicht vorhandene Schnitzel, einen der wenigen Idealplätze zu erhaschen. Wir hatten Erfolg. Die gute Laune stieg ins Unermessliche. Biggi aus dem Vogtland, die Simone heißt, Franzi aus Traunstein und Petra aus dem Ruhrpott. Was für ein Gespann. Biggi, sorry, für mich bleibt sie die Biggi, kennt so wie es den Anschein hat jeden im Saal.  Hat ein offenes Ohr oder eine kurzes Streicheln  über den Rücken für jeden übrig, der da am Tisch vorbei rollt oder humpelt. Egal ob es nun die junge Hip-Hopperin ist oder der verwirrte Tatterkreis. Ein Wirbelwind der Kontaktfreudigkkeit. Ich sollte sie mal auf den Bandido ansetzten. Franzi ist die Bodenständige mit einer feinen ironischen Note. Eine Macherin und die heimliche Leaderin (sagt man das so?) der Drei. Petra ist die Zurückhaltende, taut aber von Stunde zu Stunde mehr auf. Sie genießt es sichtbar, nicht alleine sein zu müssen. Ich, der sich den ganzen Tag nur mit seinem Icke auseinander setzt, genieße es auch, wieder richtige Menschen zum Lachen bringen zu dürfen. Natürlich fungiert jede Zusammenkunft der Patienten*innen auch als Selbsthilfegruppe. Das ist ein gewünschter - nicht zu unterschätzender - Faktor. Seht her, das ist euer gemeinsames Boot! Macht was draus! Ich kann natürlich auch mein Beitrag leisten: Chemotherapie, Stress im Beruf, Resilienz, Rezidiv und Wiedereingliederung, aber bei dem Brustkrebsthema bin ich draußen. Kurz konnte ich noch ein wenig Bewunderung abschöpfen, da ich wusste, dass Leinsamen bei Brustkrebs das alternativ- medizinische Wundermittel ist. Sowohl prophylaktisch als auch als Therapie selbst. Die positive Wirkung wurde vor Jahren in einer großen Feldstudie am Heidelberger Krebsforschungszentrum nachgewiesen.  Franzi und Biggi wussten das, Petra nicht. Sie versprach, sich gleich mal ein Kilo Leinsamen morgen aufs Müsli zu kippen. Jede Krankheitsgeschichte am Tisch ist herzzerreißend und schweißt noch mehr zusammen. Petra und Biggi sprachen von Schuld. Sie mussten mühsam lernen, dass sie keinerlei Schuld trifft, krank zu werden. Jeder Außenstehende würde sofort kommentieren: Na ist doch klar! Nix ist da klar! Man ist nicht der Einzige, dem alle Klarheit von jetzt auf nachher genommen wurde. Das tut gut! Wir palaverten, bogen das Ernste ins Lächerliche, lachten dem Krebs widerborstig in seine böse Fratze. Wir vergaßen die Zeit dabei und wurden von der italienischen Servicekraft mit einem „Arrivederci“  aus dem Saal befördert. Die nächste Schicht musste an die Tröge. Draußen im Treppenhaus verabredeten wir uns alle für das freie Onkoschwimmen im Haus. Leider wusste ich nicht, dass ich hierfür einen Nachweis über einen tagesaktuellen Schnelltest benötige. Dafür fehlte mir die Lust und die Energie. Ich war k.o. Sauerstoff, Sonne und eine Menge Süßspeisen machen auch einen HULK komplett fertig. Die letzten Tage ist es immer so, dass ich kurz nach der Tagesschau ins Koma falle, 3 Stunden in Totenstarre verharre und dann bis etwa 04.00 Uhr wach bin. Ich wandere durch das TV-Nachtprogramm. Es kommt da unfassbar dummes Zeug, aber auch intellektuelle Kostbarkeiten. Vorgestern ein tolles Interview im österreichischen Fernsehen mit einem sehr sympathischen Konstatin Wecker, der 75 wird. Gut aussehend, modern, vor Energie strotzend. In meiner Stuttgarter Mädels-WG hörten wir zeitweise Wecker rauf und runter. Karin, die Bobtail-Besitzerin war enthusiastischer Wecker-Fan und überzeugte Pazifistin. Sie kannte jeden Liedtext auswendig. Es war wunderbar diesem Mann mit all seinen guten und schlechten Lebenserfahrungen zuzuhören. Er ist ein guter Kerl (geworden)! 


Gestern hatte es mir eine Dokumentation über Martin Walser angetan. Was für ein cooles Ding. Denis Scheck besucht mit Walser im Auto, einem alten Benz, verschiedene Stationen am Bodensee auf. Besucht ihn auch Zuhause. Die verschiedenen Lebens- und Schaffensphasen werden im lockeren Gespräch beleuchtet. Sie sind in Walsers legendären Privatbibliothek unterwegs oder im Casino in Lindau, wo Walser gerne zu Gast ist. Wie sich der alte Jahrhundertschriftsteller über das Verlieren beim Roulettespiel ärgert - köstlich! Anrührend wie er Lebensfehler eingesteht. 5 Stunden lang ist er zeitweise im Bodensee geschwommen, von Nußdorf nach Überlingen.  Ich komme gerade mal 25 Meter weit, dann bin ich schon am ertrinken. Walser darf sich im Auto über ein IPad eine Musik raussuchen. Er wählt „Der Abend“ von Johann Strauß und ist zutiefst ergriffen und dankbar für das Geschenk, das ihm Scheck dadurch macht. Intelligente Menschen beim Gespräch beizuwohnen, ich glaube das könnte ich tatsächlich als mein Hobby bezeichnen. Man kann dabei so viel lernen.  Nur nachts müsste es nicht immer sein. Meistens fange ich dann an zu schreiben. Ich verstehe gar nicht, warum ich jetzt immer nachts so hellwach bin. Vielleicht gewöhnt man sich daran, wenn man einmal anfängt, aktiv zu sein. Ich müsste diese Gewohnheit  radikal durchbrechen und die Augen zulassen. Ich fühle mich nicht unausgeschlafen. Leistung muss ich ja keine zeigen, kann mich ziellos treiben lassen.  Eine Leben ohne erwünschte, nur freiwillig gezeigte Leistung. Niemand der sagt: Hey Schnur, jetzt zeig mal Leistung. Jemand der sagt: Danke für deine Leistung. Utopia! So heißt übrigens das neue Programm von Wecker. 

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