Wattebauschtag

Reha Teil 3 - Tag 16. Gestern war ich den ganzen Tag mit Icke unterwegs. Es ist schön, nur unter uns zwei Männern zu sein. Fast wäre das schief gegangen und wir hätten eine ganze Clique Patienten im Schlepptau gehabt. Darunter ein paar Psychos von der roten Station - und Ruslan, mein schwäbischer Russe von der blauen, so wie wir. Ich habe gemerkt, wie Icke ganz unruhig wurde. Ich dagegen hätte bestimmt interessanten Stoff für meinen Blog bekommen. Dr. Wirrkopp hat Icke den Spiegel seiner psychischen Probleme zum Glück erspart. Und ich bin ja schließlich nicht zum Spaß hier. Wirrkopf buchte tatsächlich eine Krankengymnastik für mich ein. Meine erste. Hurrah! Jetzt gehts ab! Aber zuerst machten wir noch einen kleinen Fahrradausflug. In Rimsting gibt es eine wunderschönes Plätzchen am See. Abgefüllter schlechter Klinikkaffee schmeckt am Wasser um einiges besser. Bisschen Kneip für unsere toten Treter würde auch nicht schaden. Kaum eine Menschenseele war dort. Da fährt man ein paar Kilometer und ist in einem kleinen Paradies - ohne Menschen. Das Paradies ist meist erst das Paradies, wenn keine Menschen darin zu finden sind. Nur Nicole und Anna fehlen mir, mit ihnen  möchte ich das Schöne immer sofort teilen. Ich glaube, wenn man etwas mit jemanden teilen MUSS, liebt man den Menschen auch. 

Wir hatten das Mittagessen abbestellt und  konnten die Zeit am See voll ausschöpfen. Füße und Seele vom Steg nach Herzenslust baumeln lassen. Auch Icke wurde dabei ruhiger. Zurück in der Corona-Klinik, ließen wir dann unsere Haxen nicht mehr vom Steg baumeln, sondern von der Massageliege. Als meine Therapeutin um die Ecke bog, dachten wir, wie soll so ein junges Huhn bei uns Elefanten irgendwas bewirken, geschweige denn für Geschmeidigkeit in der LWS sorgen. Getäuscht! Das Mädchen war ein Profi! Nicht nur Ivan Drago, sondern auch Lea Lausemaus bekam uns zum Stöhnen. Ich hatte den Eindruck, dass Icke sogar ein wenig lauter stöhnte als gewöhnlich. Lea ließ es krachen und lachte. Das ist schon ein wenig krank, zu giggeln, wenn da gerade zwei gestandene Mannsbilder unter den eigenen Händen wegsterben. Das wäre auch mal was für die rote Station. Wir verließen die Praxis als Schlangenmenschen. Also Icke und ich. Wir konnten unsere Hüften plötzlich ganze 180 Grad kreisen lassen, ohne dass noch mein letzter verbliebener Hoden dabei flöten ging. Wir fühlten uns wie der draußen ausgebrochene Frühling, hopsten und sangen im Duett „we are in the spring now“. Die Schlussfolgerung war ganz eindeutig: Wir mussten raus in die Sonne! Icke schlug vor, noch auf die Herreninsel zu fahren, dort sei es bestimmt jetzt wunderschön in der Abendsonne. Ursprünglich wollte ich gestern einen ganzen Tag dort verbringen, jedes Eckchen anschauen, ins berühmte Schloss gehen. Jetzt hatten wir nur drei Stunden bis zum letzten Schiff zur Verfügung und das Schloss war zu. Icke sollte Recht behalten. Es war noch schöner als heute Morgen in Rimsting. Wieder ohne Menschen. Wir hatten die ganze Insel für uns alleine. Herrlich! Leider hat es uns ein wenig gestresst, das letzte Schiff zu erwischen. Deshalb musste man den Rückweg genau im Auge behalten. Wir hätten das Fahrrad mitnehmen sollen. Der Sonnenuntergang auf der Insel war traumhaft. Immer wenn ich etwas außergewöhnlich Schönes erlebe, also ich, nicht Icke, überzieht sich mein ganzer Körper mit Gänsehaut und mir schießen die Tränen in die Augen. Dieser Zustand hat sich erst nach meiner ersten Hodgkin-Disgnose manifestiert. Die damalige Chemotherapie hat mich wohl hypersensibel werden lassen. Ich wunderte mich, dass die Insel nicht mit Liebespaaren übersät war. Icke wunderte sich nicht. Icke hat’s nicht so mit Liebespaaren. Ich reiche ihm. Ich konnte gar nicht aufhören Bilder zu schießen. Ich wollte jede Lichtbrechung und jede Stellung der Sonne festhalten. Beim Fotografieren kam mir in den Sinn, dass es Böses nicht mehr geben kann. Dass Krieg und Hungersnot reine Erfindungen sind. Dass jeder Mensch gut ist. Ich wusste, dass ich mit solchen letzten Blicken sterben könnte. Ich habe mich angekommen und aufgehoben gefühlt. Ich konnte endlich für einen Augenblick verzeihen. Im Prinzip müsste die ganze rote Station hier in der abendlichen Frühlingssonne ihre Therapiestunden abhalten. Es war sehr seltsam ganz alleine am Abfahrtsteg auf das letzte Schiff zu warten. Für einen kurzen Moment suchten wir nach Notfall-Alternativen. Schwimmen? Einbruch ins Schloss?  Eine gewisse Erleichterung war zu verspüren, als wir den Kutter antuckern sahen. Die Rückfahrt war das Sahnehäubchen des spektakulären Ausflugs. Die Abendsonne tauchte den ganzen Horizont in ein zartes Orangenrosarot. Der Anblick hat etwas von einem Narkosemittel. Oder einem riesigen Wattebausch, in dem man hineinfallen mag. Ich werde versuchen den Tag tief in meinem Gedächtnis abzuspeichern. Wenn der Alltagsstress mich wieder hat, wenn mir Situationen und Mitmenschen auf die Nerven gehen, hole ich mir diese Relilienzstunden wieder hervor, schließe meine Augen und katapultiere mich zum 21.03.2022 zurück. Und atme tief in mich hinein. 

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