Reha Teil 3 - Tag 15. Ich hatte mich emotional schon auf einen Single-Ausflug eingestellt, da hat sich zufällig ergeben, dass mein Zimmernachbar auch nach Salzburg wollte. Ich mit Fahrrad, er ohne. Wir hatten uns vor einigen Tagen schon gegenseitig aus der Patsche geholfen und dabei etwas beschnuppern können. Er brauchte dringend eine Waschmarke und ich einen Waschtermin. Deal!
Im Zug nach Salzburg erfuhr ich, dass er ein 37-jähriger Stuttgarter mit russischen Wurzeln ist. Vor einem Jahr bekam er die Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom. Er musste durch das selbe Martyrium wie ich vor 10 Jahren. Mit allen grusligen Nebenwirkungen. Ruslan hatte noch zusätzliches Pech: Ihn erwischte Corona, leider mit einem schweren Verlauf und er wurde beatmet. Vier Wochen lag er im Krankenhaus. Somit ist er wiederum auch ein Glückspilz, da jeder Zweite, der beatmet wird, stirbt. Ruslan ist verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Die alle unter seine „Krankheiten“ sehr gelitten haben. Er hat immer 120 Prozent gegeben und bekommt jetzt gerade mal 50 Prozent hin. Wenn überhaupt. Er leidet am Fatique-Syndrom und ist bereits mittags schon völlig erschöpft. Sein Chef habe für seine Situation leider kein Verständnis. Der sei ein unangenehmer leistungsorientierter Mensch. Dieser Umgang mit ihm hat ihn lange Zeit sehr gequält. Die Arbeit mit einer Onko-Psychologin und die Unterstützung durch den Betriebsrat haben ihm sehr geholfen. Er kann Dinge mittlerweile viel besser akzeptieren, so, wie sie eben sind. Ruslan macht keine Anschlussheilbehandlung, sondern eine Reha. Wir verstehen uns gut. Er ist ein sehr offener Charakter. In der City hatte er eine Straßenmusikerin, die aus Weißrussland stammt, spontan in ein Café eingeladen. In der Stadt trennten wir uns, um uns später nochmal zu verabreden. In einem süßen Café an der Salzach erzählte er, dass er im Raucherkabuff in der Klinik hin und wieder abhängt, ohne zu rauchen, weil es dort immer so lustig zugehe. Von den Mitpatienten*innen spricht er stets mit allem größten Respekt, was mir sehr imponiert. Er trinkt kein Alkohol und mag auch kein Fußball. Er habe aber trotzdem viele Freunde. Ich bringe ihn zum Lachen, in dem ich äußere, dass ich das bezweifle. Im Café unterhalten wir uns über unsere Ansprüche und wie unsere Krankheiten diese immer mehr mit der Zeit runtergeschraubt haben. Wir sehen die Zusammenhänge ähnlich: Funktioniert man, ist für jeden alles in Ordnung. Mehrleistung wird ohne Kommentar hingenommen, aber selten honoriert. Fällt man aus dem System interessiert das niemanden mehr. Schnell gerät man in Vergessenheit. Was jetzt zählt, ist wohlfühlen und Lebenszeit effektiv nutzen. Mehr Zeit mit den Liebsten, weniger Zeit mit Arschlöchern. Genau dosiertes Ärgern.
Das Thema Ukraine-Krieg ist heikel. Da sitzt er zwischen den Stühlen, das merkt man. Er fühlt sich als Deutscher. Er sagt, er habe kein russisches Blut mehr. Aber seine Frau hätte noch Familie in der Heimat. Telefoniert regelmäßig mit der Verwandtschaft dort. Die ökonomische Lage spitze sich von Tag zu Tag zu. Sie wollte für ein paar Jahre nach Moskau, um an einer Deutschen Schule zu unterrichten. Das könne sie sich jetzt wahrscheinlich für lange Zeit abschminken. Die Sanktionen seien ungerecht. Diese träfen die Falschen. Amerika hätte doch auch viele Kriege wegen Rohstoffe angezettelt. Gelogen. Die Ost-Erweiterung der Nato sei eine Bedrohung für Russland. Das müsse man verstehen. Er sei aber gegen Krieg und Putin. Dieses ABER fällt häufig in seinen Sätzen. Wir streiten nicht, hören uns zu, zeigen Verständnis. Ich lege es aber auch nicht darauf an, ihn zu stressen. Wenn er für Putin und die „militärische Operation für Frieden“ gewesen wäre, hätte ich ihn wohl sitzen lassen.
Die alleinige Erkundung der Stadt hat mir große Freude bereitet. Ein wunderbarer Panoramaweg auf der ehemaligen Stadtmauer führte direkt zum Wahrzeichen der Stadt: die Hohensalzburg. Ein wirklich fantastischer „Glücksort“. Den ganzen Tag hätte ich dort oben verbringen können. Mit der Bergbahn ging’s wieder runter, direkt auf den Domplatz und in die berühmte Getreidegasse. Die Nummer 9, Mozarts Geburtshaus. Der Wahnsinn trifft auf das Genie! Ich mag Mozarts Musik. Sie ist sehr verspielt, leicht, beschwingt. Glücksmusik! Aber man hört natürlich immer auch den Wahnsinn in den Zwischentönen heraus. Vor allem, wenn man die berühmte Filmbiographie von Milos Forman vor Augen hat. Der barocke Flair, die Salzach, die Brücken, die Cafés, das Bergpanorama: Ich habe mich in die Stadt verliebt. Die wärmende Frühlingssonne verstärkt dieses Verliebtsein zusätzlich. Ich fühlte mich ziemlich cool, mit meinem Bike, die von der Sonne durchfluteten Promenade zu beradeln. Wieder dachte ich: Wahnsinn, dass ich das alles wieder so hinbekomme. Ohne einen allzu großen Einbruch. Immerhin bin ich 8 Kilometer gelaufen und genau so viel geradelt. Am Weltglückstag war es genau das Richtige: Glücksorte aufsuchen, in der Sonne sitzen und da sein. Was braucht man zum Glück? Ein Fahrrad, sich und und eben einen schönen Ort. Und am Ende natürlich auch das Teilen der glücksbringenden Erlebnisse. Aber nicht immer!
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