Reha Teil 3 - Tag 14. Biggi aus dem Vogtland. Es gestaltet sich nicht so ganz einfach einen nachhaltigen Kontakt mit Mitpatienten herzustellen. Das sag ich, der eigentlich nie Probleme hat, mit jemandem Kontakt zu knüpfen. Im Speisesaal gibt es keine festen Sitzplätze, man muss sich immer neu orientieren, was den scharfen Coronaregeln der Klinik völlig widerspricht. In den letzten Tagen hat sich in den Fluren immer ein Smaltalk mit einer 3er-Mädelsgruppe ergeben. Wir alle waren vor Tagen gemeinsam angereist. Gestern war nun ein Platz bei den drei Damen vom Grill frei und ich war plötzlich das vierte Rad. So ergab sich dann diesmal ein ausführliches Gespräch. Vor allem mit Biggi aus dem Vogtland, die mir an einem Zweiertisch gegenüber saß. Getrennt von einer Plexiglasscheibe. Ich habe leider den Namen von Biggi vergessen. Ich nenn sie so, weil sie etwas Kumpelhaftes an sich hatte und Biggi für mich nach Kumpeline klingt. Eine humorvolle resolute sächselnde Frau meines Alters. Brustkrebs. 4 Kinder, geschieden, liiert. Arbeitet bei Globus. Vor einem Jahr überkam sie das Rezidiv. Daher ist ihr Haar auch am längsten von den drei Girls. Die anderen Zwei haben eine Kurzhaarfrisur oder eine Perrücke. Die Chemotherapie verursacht bei Biggi immer noch starke Nervenschmerzen an den Händen und Füßen. Hierfür erhält sie starke Schmerzmittel. Ihr Gangbild zeigt sich genauso unrund wie meins, nur mit einem anderen Hintergrund. Ich weiß gar nicht wie mir geschieht: Sie plaudert wie ein Wasserfall und zieht über ihre Landsleute, die AfD und alle Impfunwilligen dieser Welt her. Sehr sympathisch. Schnell verschwören wir uns gegen die selben Feinde. Sie fühlt sich eher als Wessi, was mit ihrer West-Verwandtschaft zusammenhänge und sie mit ihrem erweiterten Horizont zusätzlich begründet. Das sei schon immer so gewesen, deswegen hatte auch der Staat ihr verboten zu studieren. Sie galt für den sozialistischen Auftrag als ungeeignet. Dabei hatte sie gute Noten. Erst als erwachsene Frau und Mutter sei ihr klar geworden, dass die Zwei im Zeugnis eine gute Note ist. Sie schäme sich für ihre Leute, auch wenn man die geschichtlichen Ursachen verstehen müsse. Aber irgendwann sei eben doch auch mal Schluss mit dem kindlichen Gemüt und Gejammer. Dies sei auch kein Grund Nazis zu wählen. Alles Schnee von Gestern. Dem Osten ginge es gut. Ich muss an der Stelle nochmals betonen, all das sagt sie in einem starken sächsischen Dialekt. Was auf mich, ich kann es nicht leugnen, etwas skurril wirkte. Dass ich zu Hälfte Ossi-Blut in mir trage, machte mich wohl auch ein wenig zum Sympathieträger für sie. Natürlich sind Corona und die desolate Klinikorganisation ebenso Themen unseres Gesprächs. Auch hier sind wir Verbündende im Geiste. Kaum Anwendungen, also nicht nur bei mir. Sie z.B. ist nur am Walken. Aber physiotherapeutische Anwendungen hat sie schon erhalten, was mich ein klein wenig neidisch macht. Wir schütteln gemeinsam unsere Köpfe und spenden uns Zuversicht, dass in den nächsten zwei Wochen alles besser werden wird. Sie erzählt von einer Horrorklinik in ihrer Gegend. Da waren die Therapien super, aber das Essen und die Lage eine Katastrophe. Patienten wurden angebrüllt, weil sie miteinander redeten. Auch beim Mittagskaffee musste die Maske aufbehalten werden. So gesehen sei unsere Klinik das Paradies. So kann man das natürlich auch betrachten. Alles super, man muss sich halt um seine Genesung selbst kümmern. Wir hätten wohl noch den ganzen Vormittag gequatscht. Habe ich „Wir“ geschrieben? Es hat mehr oder weniger nur eine Person geredet. Trotzdem merkte ich, wie die Kraft meiner Stimme wieder etwas mehr nachließ. Gut also, dass wir vom Service aus dem Speisesaal raus geschmissen wurden.
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