Fahrradtrost

Reha Tag 3 - Tag 13. Eine neue Erfahrung, die eigentlich keine neue Erfahrung sein sollte: sich auf das Fahrrad zu schwingen und alleine ins Unbekannte radeln. Ein kleines banales Abenteuer. Man muss irrationale Gedanken beiseite schieben. Was ist, wenn dieses klapprige Leihrad das Zeitliche segnet, irgendwo in der Chiemgau-Pampa? Was ist, wenn ich mich verfahre? Was ist, wenn mir unterwegs die Puste ausgeht oder ich einen nicht aufhörenden Hustenanfall bekomme? Schließlich habe ich kein eBike unter dem Hintern. Kurzfristig gleitet man ins Abstruse ab: Wie peinlich wird es sein, wenn du von der Polizei in die Klinik zurück gebracht wirst? Icke steht mit mir am Rad und motiviert mich: Alter, du bist doch ein ganzer Kerl mit Smartphone. Du wirst das schon wuppen! Memm jetzt mal nicht so rum. Recht hat er! Ich entscheide mich relativ spontan für eine Richtung und überschaubare Strecke. Auf nach Bernau, am See entlang. Ich habe es nicht eilig. Man könnte mich auf den ersten Kilometern auch rennend begleiten. Der Fahrtwind, die wunderschöne Natur, das warme milchige Licht lässt mich mit der Zeit mutiger werden. Auch etwas schneller. Wenn man mit Menschen spricht, denen es psychisch nicht gut geht, hört man oft: Ich möchte mich wieder spüren können. Hier auf dem Fahrrad denke ich plötzlich an diesen Satz. Ich spüre mich im Augenblick sehr. Jeden Knochen spüre ich, meinen schweren Atem, meine Sinne werden nicht abgelenkt, sind scharf gestellt. Am liebsten würde ich überall anhalten, um sie zu testen. Das Radeln mit Blick auf den See bereitet große Freude. Muss ins Freudetagebuch! An einem Schild mit der Aufschrift Badeplatz bremse ich abrupt. Neugier. Ich muss ein Stück vom Fahrradweg in den Wald. Ich stelle das Fahrrad ab und gehe zu Fuß weiter.  Gespannt, was mich erwartet. Ein schmaler Waldweg führt an einem Bachlauf entlang, endet an einer Brücke, die von meinem Blickwinkel aus ins Nichts führt. Eine geeignete Szenerie für einen Fantasyfilm, in dem die Hauptfigur sich in einer Parallelwelt plötzlich wiederfindet. Ich überquere die kleine Holzbrücke zwischen meterhohem Schilf und blicke auf eine surreal-schöne einsame Badebucht, umrahmt von diversem Totholz. Am Strand steht eine einzige Bank. Ideal für ein Verweilen. Ich fasse es einfach nicht, wie schön es hier ist. Ich fasse es nicht, dass ich hier bin. Alles in mir wird klar und hell. Ich würde mich nicht wundern, wenn jetzt Gott oder Obi-Wan Kenobi zu mir sprechen würden. Die letzten 11 Monate rauschen wie ein Jahresrückblick an mir vorbei. Ich habe es geschafft, tatsächlich geschafft. Ich bleibe bei einer Szene hängen: nach der Hodgkin-Diagnose mit Nicole Dosenbier trinkend in Heidelberg am Neckar. Wie wir uns an den Händen hielten, innerlich völlig verkrampft, uns gegenseitig Mut zusprachen. Das nackte Entsetzen ist in jede Pore unseres Körpers eingedrungen.  Ich WUSSTE, dass unser Leben, so wie wir es kannten nun vorbei ist. Nicole konnte es nur erahnen. Dieser Augenblick von damals schwebt wie ein Hologramm vor mir über den See. Ich fange hemmungslos an zu weinen. Ich kann es nicht sagen, ob es Tränen vor Glück, vor Dankbarkeit sind, oder ob der wieder empfundene Schmerz die Tränenflut auslöst. Die ganze Bandbreite des menschlichen Empfindens tropfen da in den See. Es ist tatsächlich eine Parallelwelt hier am Wasser. Das letzte Mal, dass ich meine Existenz als so unwirklich empfunden habe, war allein auf dem Pfälzer Jakobsweg. 

Ich denke an Nicole und Anna. Wenn sie nicht da gewesen wären, hätte ich aufgegeben. Da bin ich jetzt hier auf der kalten Bank und mit ziemlich unterkühlten Ohren sehr sicher. Ich hätte nicht mehr den Sinn gesehen, mich wieder zu quälen. Nicht für mich. Das ständige Aufstehen ergibt für mich nur Sinn, wenn ich FÜR JEMANDEN aufstehen MUSS. Sie allein zu lassen, ertrage ich noch weniger wie jede verdammte Chemo-Infusion oder jede 7-Stunden-OP eines Roboters. 

Viele liebe Menschen haben mir Mut zugesprochen, haben Hoffnung gesät. Nur Trost erhält man von den Wenigsten. Mit Trost ist fast jeder überfordert. Kinder werden getröstet, das haben wir im Blut, erwachsene Männer eher nicht. Das muss man schon selbst tun. Aber leider hat Mann nicht immer die notwendige Kraft dazu. Durch das Erlebte bin ich nicht stärker geworden, sondern viel sensibler. Ich wäge mehr ab, ich gehe mehr auf den Grund, lasse nichts mehr einfach so stehen, bin mehr Beobachter und Analytiker als purer Konsument. Desinteresse und Ignoranz machen mich verrückt. Verrückter! Das ich daran nichts ändern kann auch. Es ist so, als müsste ich mich beim Anblick der Welt ständig beschwichtigen, um nicht komplett überzuschnappen. Nur sein Ding zu machen, reicht das wirklich? Vielleicht ist es sogar der Mangel an Trost, der mich dazu getrieben hat, in den Hospizdienst zu gehen. Die Erfahrung selten getröstet zu werden, hat mich wohl dazu verleitet, es selbst zu tun. Und ich merke immer wieder, wie wir Menschen diesen Trost doch so sehr benötigen. Gerade in diesen Zeiten. Genau so, wie es Thea Dorn in ihrem Büchlein „Trost: Briefe an Max“ beschreibt. (Für Trostsuchende sehr zu empfehlen!) Ich möchte diesen wunderschönen Platz nicht verlassen. Er inspiriert mich für unzählige Blogeinträge. Meine Gedanken springen und rasen. In meinem Kopf findet ein Formel 1-Rennen statt. Das Einzige, was mich davon abhält, hier jetzt langsam zu verwesen, ist die aufkommende Kälte. Ein Kind taucht plötzlich auf. Es rennt zum steinigen Strand und brüllt: Mama, das ist soooo schön hier. Ja, mein liebes Kind, das ist es. 

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