Reha Teil 3 - Tag 10.
Im Patientenbriefkasten war kein neuer Tagesplan mit Krankengymnastik, sondern ein Tagebuch. Schriftliche Beschäftigungstherapie. Zur Ruhigstellung? Meine dominante Beschwerde auf der Station hatte leider keinen Mehrwert. Bis auf Bewegungsbad war heute wieder Urlaub angesagt. Ja, lieber Herr Schnur, was bereitet ihnen denn Freude? Och vieles. Muss ich mich da jetzt festlegen? Wäre nett! Nun gut. Eine sehr kranke Omi im Rollator hat uns am Tisch frischen Kaffee in der Kanne geholt. Ich wollte es ihr abnehmen. Das ließ sie nicht zu. Lassensemal junger Mann, dann fühle ich mich ein wenig nützlich. Sie packte die Kanne in ihren Träger und rollerte los. SOLCHE Begegnungen bereiten mir z.B. Freude. Kämpferherzen erfreuen mich schon immer. Hier sind so viele Kämpfer*innen. Manche davon sehen richtig schlimm aus. Ein sehr großer älterer Herr. Um die 70 vielleicht. Er läuft immer kerzengerade. Regelrecht eine royale Haltung. Ich habe ihn auch noch nie in einem Trainingsanzug gesehen. Er sitzt häufig im Foyer mit seinem Notebook und sieht sehr geschäftig aus. Auf dem Bildschirm laufen diverse Statistiken durch. Er ist weiß wie die Wand und hat einen Chemokopf. Das Haar wächst schon wieder ein wenig. Kleine winzige Stoppeln sind erkennbar. Was hat ihn hier her gebracht? Wer ist er? Beobachten und Fantasieren bereiten mit Freude.
Städtle. Irgendwie muss man ja seine Zeit verbringen. Zu Fuß. Sind immerhin 5 Kilometer. Kann gut als Anwendung durchgehen. Buchhandlungen bereiten mir Freude. Ohne Zeitdruck und Ablenkung bei den Neuerscheinungen herumstöbern ist Glück pur. Es ist eine sehr individuell eingerichtete Buchhandlung. Alles bissel unübersichtlich. Gefällt mir. Stolpert man mehr über Unbekanntes. Über Unbekanntes stolpern: Auch so eine Sache, die großen Spaß bringen kann.
Fenster. Auf den ersten Blick keine große Sache. Ich liebe besondere Fenster. Wäre ich ein berühmter Musiker oder Schauspieler würde ich demnächst einen Bildband mit all meinen fotografierten Fenstern dieser Welt publizieren. Ich glaube, dass Menschen, die Fenster Wert schätzen können, gute Menschen sind. An schöne bemerkenswerte Fenster einfach so vorbei laufen, ohne Würdigung -, das müssen ganz gewiss amoralische Personen sein. Nicht nur Fenster haben mir es angetan, sondern auch Cafés. Neue Cafés auskundschaften - gibt es etwas Spannenderes. Wie ein Forscher, der etwas noch nie Dagewesenes entdeckt: der geschmackvolle Holztisch, das verrückte Gemälde, der sagenhafte Brownie mit leckeren Kirschen, der weltbeste Cappuccino, die netteste Bedienung aller Zeiten. Es gibt Gemüter, die das alles nicht erfreut; es als belanglos abtun. Nicht schauen, nicht riechen, nicht schmecken. Die zu traurig, zu gestresst, zu gebeutelt, zu blind sind für das alles. Schade! Sehr schade! Freude liegt immer auch im Detail. Beim Abendessen rollert die Kaffee-Omi an meinem Einzeltisch vorbei. Ich war heute ganz bei mir, ich wollte da niemanden, der mich von mir ablenkt. Sie sitzen ja gar nicht bei mir, junger Mann! Da kann ich ihnen ja gar nicht das Teewasser besorgen. Sie zwinkert mir zu. Ich lächle zurück. Ein Freudetagebuch. Gar keine so miserable Beschäftigungstherapie.
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