Russisch Roulette

Das Leben gleicht einem Russisch Roulette. Patrone oder keine Patrone, das ist die Frage. Tod oder Leben. Verheerendes Missgeschick oder glückliche Fügung. Bäume, die Autos und ihre Insassen zertrümmern, Skifahrer, die nach einem Stolpern monatelang damit beschäftigt sind, wieder einigermaßen laufen zu können, 16 Hunderstel, die über Ruhm oder Belanglosigkeit entscheiden. Eine falsche Bewegung, eine Unachtsamkeit und man kippt sich das heiße Wasser des Inhalationsapparats auf den Penis oder wenn’s besser läuft auf den leeren Hodensack. Man muss ihn unbedingt abstellen, diesen Gedanken: Was um Himmels Willen könnte heute wieder für eine fucking irre Scheiße passieren. Bringt mich mein Fahrrad heute auch heil von A nach B? Oder bohrt sich eine fliegender Ast in mein linkes Ohr? Kugel oder leere Trommel. Ich hab sie so satt, diese Unberechenbarkeit des Lebens. Ich würde gern den ganzen Tag zuhause sein, von meinen Liebsten umringt und umsorgt. Sie müssten mir alles darreichen, weil ich mich selbst ja beim Weg in die Küche umbringen könnte. 


Stopp! 


Und was ist mit den ganzen schönen Erfahrungen, die ich mir mit so einer Haltung entgehen lassen würde. Ein Leben ohne Risiko ist nicht lebenswert. Das Risiko auf einer Bananenschale in den Tod zu rutschen, muss wohl oder übel in Kauf genommen werden. Das Draußen ist viel zu schön, um einfach nur ein Draußen, ohne mich, zu sein. 


Wenn ich bedenke,
wie gefährlich alles ist,
ist nichts wirklich
beängstigend.


Gertrude Stein 


Wir können einiges für unser Glück tun, aber der Rest ist Schicksal. Es kann mein Glück vermehren oder vernichten. Sich nur mit den Begünstigten zu umgeben, ist lahm. Die Nichtbegünstigten erweitern den Horizont und lassen uns das, was man gerade für den Augenblick in den Händen hält wieder mehr schätzen. 


Kein Ast im Ohr. Fahrradtour in die Stadt verlief absolut reibungslos. Die erste seit August letzten Jahres. Das Schicksal meinte es gut. Man wird mutig, wenn es läuft. Belohnung im Segafredo: Sonne und Cappuccino. Kein Hochwasser. Ach liebes Leben, was will man mehr! Die Freude war leider eine kurze. Die Kugel kam geflogen, in der Form einer cracksüchtigen zahnlosen abgewrackten Gestalt. Nahm am Nebentisch Platz und forderte einen Gast dazu auf, ihr einen Café zu holen. Der Gast ignorierte das Anliegen und flüchtete in den Innenbereich. Die Zottelige-Zahnlose wurde aus vergangenen Erfahrungen mit ihr nicht bedient und agierte zunehmend frustrierter. Beleidigungen und nervöses Rumgerenne folgten. Plötzlich ließ sie die Hosen runter und pisste direkt vor allen Tischgästen auf den Marktplatz. Danach setzte sie sich wieder seelenruhig an den Tisch und schimpfte weiter. Die Bedienung schimpfte mit. Man vernahm, dass das zerstörte Menschlein schon häufig solchen unappetitlichen Ärger verursachte. Nach der Polizei wurde gerufen. Die Servicekraft wollte nicht schon wieder mit Aschenbechern beworfen werden. Verständlich! Man fragt sich, was ist besser, Aschenbecher oder Pullern? Die dürre Pisserin gab auf und verschwand schimpfend in der Menge. Dieser Instinkt noch intakt. Es war sehr unangenehm, dieser schrägen Szene beizuwohnen. 


Alles war wunderbar, bis sich die Situation plötzlich aus heiterem Himmel ins Destruktive drehte. Die Trommel war wieder gefüllt. Wie hat das Schicksal diese arme Dame gebeutelt? Wie kann jemand so komplett die Kontrolle über sein Leben verlieren und für die anderen zu einer unangenehmen Belastung werden? Warum ist es nicht möglich, ihr zu helfen? Der eine bleibt gesund und die andere wird krank. Der eine erträgt das Leben und die andere scheitert. Welchen Sinn soll das bitteschön haben? Gott, ein arroganter Glücksspieler, der uns den Revolver überreicht. Im Prinzip können wir jeden Morgen aufwachen und noch schlaftrunken murmeln: Wow, wieder einen Tag geschafft, wieder hat mich die Kugel haarscharf verfehlt! Danke! 





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