Familie VI - mein Bruder Hans-Martin

Mein Bruder Hans-Martin, das Phantom.  Ich werde wohl am wenigsten von all meinen Geschwistern über ihn schreiben können. Auch hier sind es nur ein paar Erzählungen und zwei persönliche Begegnungen als erwachsener Mann, um ein Bild zusammen zu setzen, das sehr verschwommen ist. 

 

Martin, so wurde er von uns gerufen, ist zur Bundesmarine mit 17. Z12. War damals in Bremerhaven stationiert. Er war kein guter Schüler, ist mindestens einmal sitzen geblieben, hat aber die Mittlere Reife geschafft. Später hat er bei Besuchen immer den Eindruck hinterlassen, alles zu können und alles zu schaffen. Und das ganz leicht, ohne Mühe. Er war der Sonnyboy der Familie, von allen geliebt und geschätzt. Er konnte schnell fließend englisch, baute Modellschiffe aus abertausend Teilen zusammen, sang im Marinechor und war auf der Gorch Fock unterwegs. Er hatte wohl das Seefahrerblut unseres Vaters geerbt. Der es anfänglich gar nicht gut hieß, dass Martin eine militärischen Weg einschlug, aber dann umso stolzer war, als er mit Marineuniform nach Hause kam. Eine Uniform wirkt immer noch, auch wenn einen die Kriegserinnerungen nicht in Ruhe lassen! So weit, so nett. Dann bekam das Bild irgendwann den ersten Riss. Und wie bei einem kleinen Riss in der Frontscheibe, der durch ein kleines Steinchen entstand, setze sich dieser Riss unaufhaltsam quer über diese Scheibe fort. Alkohol war im Spiel, viel Alkohol. Er muss ein Problem gewesen sein. Für alle Schnurs. Oft mit Streit und Tränen verbunden. Um was es da genau ging, kann ich nicht sagen. Ich bin 10 Jahre jünger als mein Bruder. Ich habe einzelne Erinnerungen im Kopf, wo er betrunken und weinend dasitzt und es Streit gegeben hat. Dann kam der größte, allumfassende Riss in der Scheibe. Sie fing laut zu knacken an und völlig instabil zu werden. Man konnte schließlich überhaupt nicht mehr durchsehen: der Tod meines Vaters 1986. Meine Brüder waren 24 und 27. Sie waren vor diesem Ereignis ein Herz und eine Seele. Sie haben sich geliebt, wie es für Brüder nicht immer selbstverständlich ist. Ein Abend war hier ausschlaggebend. Wieder viel Alkohol, wieder viel Tränen, wieder viel Streit. Unser größter Bruder wollte mit seiner Vergangenheit und ganz besonders mit seiner Familie plötzlich nichts mehr zu tun haben. Auf die Familie würde er scheißen! Warum nur? Keine Ahnung! Alles nur Vermutungen. Noch am Tag der Beerdigung meines Vaters reiste er ab. Ließ uns allein mit der Trauerarbeit. Die Triebfeder könnte seine damalige Frau gewesen sein, die nicht sympathisch wirkte und nicht einfach war. Es schien, dass sie einen großen Einfluss auf ihn ausübte. Wie gesagt Vermutungen. Für meinen Bruder Wilfried war dieser Bruch, diese Abkehr von der Familie eine Katastrophe. Er verstand die Welt nicht mehr und fing seinen Bruder abgrundtief an zu hassen. Wie es eben für die Don Corleones dieser Welt der einzige Weg ist, mit Kontrahenten, die einen verraten, umzugehen. Nichts blieb mehr übrig von der einstigen Bruderliebe. Martin verpisste sich aus allem, über Nacht. Wilfried hatte früh mit 21 geheiratet und stemmte mit seiner Frau die Beerdigungskosten. Ab dem Tag der Beerdigung war kaum mehr etwas von unserem großen Bruder zu hören. Unsere Mutter, man kann es nicht anders sagen, ließ er im Stich. Hass auf unseren großen Bruder stellte sich bei mir nie richtig ein. Dafür war er mir zu fremd. Unverständnis trifft es da eher. Ich bekam keine Antworten auf meine Fragen. Auch als ich sie sogar persönlich stellen durfte. 2 Begegnungen gab es in den letzten 2 Jahrzehnten. Eine in Berlin und eine in Hamburg, wo mein Bruder in der Nähe jetzt lebt. Das Berliner Treffen hat mein AfD-Neffe (Sohn von meiner Halbschwester Inge) organisiert. Ich hatte frisch meine Anstellung in Wörth und fuhr mit Anna nach Köpenick. Für mich etwas ganz Großes. Ich wollte Anna ein wenig meine Vergangenheit näher bringen - und meinen Stolz auf sie präsentieren. Ich hab alles in diese Begegnung rein geworfen. Und mein Bruder hat mich wieder enttäuscht. Ich bekam keine Antworten. Er ließ mich ins Leere laufen. Er sprach nur von sich und seinen Erfolgen, und dass er jetzt eine viel jüngere Frau hätte. Martin galt immer als Blender. Damals in Berlin hatte ich begriffen, was damit gemeint war. Ich dagegen blieb still, erzählte recht wenig von meinem Leben - wurde ja auch nicht danach gefragt. Mein Leben war nicht wichtig. Es schien mir nicht passend, ebenfalls zu prahlen.

Die zweite Begegnung fand in Hamburg statt, während eines Betriebsausfluges mit dem Kollegium. Wir trafen uns in einer Kneipe auf dem Kiez. Tja! Berlin wiederholte sich wieder. Nichts. Angeberei. Blendertum. Mittlerweile hat er als IT-Fachmann in einer Firma (IBM?) Karriere gemacht, auf der Bundeshochschule studiert. Mehr war aus dem Abend nicht herauszuholen. Zurück bei meinen Kollegen gab ich mir so die Kante, dass ich verschütt gegangen bin. Auf dem Weg zum Hotel hat mich sturzbetrunken eine dubiose Dame in eine kleine blinkende Bar hineingezogen. Ich wollte nur ins Bett und sonst nichts. Ich dachte allen Ernstes, ich konnte bei der nach Liebe und Geld lechzenden Mittefünfzigerin meinen Rausch ausschlafen. Nachdem ich meine EC-Karte mitsamt PIN weiterreichte, ließ sie mich in Ruhe und ich durfte eine halbe Stunde weg dösen. Frau LiebefürGeld brachte zwei Piccoli, die so teuer war wie ein Doppelzimmer am Gardasee, mit auf die gute Stube und weckte mich aus meinem schnarchenden Tiefschlaf. Ich bat sie, mich doch einfach schlafen zu lassen. Ging nicht. Geschäftsschädigung. Ein großer starker Mann mit schwer zu verstehendem Akzent und noch schwereren Oberarmen befördere mich schließlich auf die Straße. Ich weiß bis heute noch nicht, wie ich das Hotel wiedergefunden habe. Glück des Besoffenen. Vor allem war ich froh, dass ich meinen Kollegen, die zum Fischmarkt an diesem Morgen in aller Herrgottsfrühe aufbrachen, nicht begegnet bin. Entweder war ich vor ihnen oder nach ihnen im Hotel. Die eine oder andere Kollegin hätte mein desolates Äußeres bestimmt erschüttert.  Ich schlief den ganzen Tag und wachte mit höllischen Schmerzen im Rücken abends auf. Hexenschuss ohne jeglichen Geschlechtsverkehr. Seit diesem Abend herrscht Funkstille mit meinem Bruder. Eine interessanter Umstand möchte ich noch erwähnen. Der Sohn meines Bruders kontaktiere mich überraschend 2013. Ganz nett zuerst. Er war auf der Suche nach der Schnurschen Vergangenheit. Schnell stellte sich heraus, dass da ein ziemlich schräger Vogel in unser Leben getreten war. Noch viel schräger als alle Schnurs zusammen. Das lass ich jetzt mal so stehen. Das Interessante war, dass das Vögelchen nur wenig Kontakt zu seinem Vater hatte. Also das gleiche Spiel wiederholte sich in der nächsten Generation. Als würde es ein Gen für Familienzwist geben. Schnur und Familienidylle scheinen zwei Begriffe zu sein, die nur schwer zusammenfinden. Ich habe meinem Bruder noch einen Brief geschrieben, ihm nochmal die Hand gereicht. Zuerst wollte ich nicht. Der Impuls kam von meiner besten Freundin Heike. Höre auf deine innere Stimme, sagte sie. Sie wird dir sagen, ob du noch einmal diesen letzten Versuch unternehmen willst. Und dann lass es gut sein. Ich habe den Brief geschrieben und es dann gut sein lassen. Das Thema großer Bruder ist abgehakt. Emotionslos. Als würde man abgenutzte Kleider zur Altkleidersammlung bringen. Dieser letzte Brief war die Befreiung. Das darauffolgende Schweigen löste natürlich wie immer Unverständnis aus, aber es schmerzte nicht mehr. Heute fühle ich Gleichgültigkeit. Menschliches Verhalten ist niemals eindeutig. Es gibt so viele Mängelwesen unter uns, dass eine stichhaltige Verurteilung nur schwer durchzuführen ist. Wir sind alle fehlerhaft. Da bin ich keine Ausnahme. Ich bin nur einem Ziel verpflichtet: Es besser zu machen als meine Eltern, als meine Geschwister. Wenn ich dieses Ziel erreicht habe, darf ich auch den ersten Stein werfen. Ich hasse meinen Bruder nicht. Zu ihm aufschauen kann ich aber auch nicht mehr. Ich bin sicher, dass er auch nicht dämonenfrei durchs Leben geht, dass er sich immer noch sehr quält. 

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