Mutter oder großer Bruder? Zu meinem ältesten Bruder habe ich schon einen Text vor einiger Zeit angefangen, aber die Mutter ist wichtiger, deshalb sie zuerst.
Lange habe ich überlegt. Wie kann ich sie besonders würdigen, wo sie doch die meiste Zeit des Lebens von niemandem gewürdigt worden ist? Entscheidung: Ich schreibe ihr einen Brief! Ich habe ihr immer gern Karten oder Notizen geschrieben. Sie wird bestimmt überrascht sein.
Hallo liebe Mami,
Überraschung! Da staunst du was! Dass du nach so langer Zeit auf diesem Weg von mir hörst, hättest du nicht gedacht. Na wie ergeht es dir da oben? Ich hoffe besser als bei uns hier unten. Hast du schon Frank Sinatra live singen hören? My Way hatten wir damals für dich rausgesucht. Hat dir bestimmt gefallen. Ach Mamutschka! Wenn ich an deine Traurigkeit von damals denke, an deine Hilferufe, die wir erst ignoriert und dann zu spät erhört haben, dann schnürt es mir heute noch die Kehle zu. Ich konnte dir nicht helfen. Ich war zu sehr mit meinem Erwachsenwerden beschäftigt. Mit 21 startet man doch ins Leben und hat keinen Kopf für die Probleme der Mutter. Kannst du mir das verzeihen? Ich würde es verstehen, wenn du es nicht könntest. Ich kann dir nur sagen, dass ich dich sehr geliebt habe und es immer noch tue. Vermissen? Eher nicht! Da bin ich ehrlich. Zu lange bist du jetzt schon tot. Die Erinnerungen an dich verblassen von Jahr zu Jahr mehr. Der tiefe Schmerz über den Verlust ist durch Akzeptanz ersetzt worden. Das kennst du bestimmt. An was ich mich noch erinnern kann? An deine Karl-Malden-Nase; sie war somit nicht einzigartig. Ich hab dich immer damit aufgezogen. Ich habe es geliebt, sie zu knubbeln. Wunderschöne Haare hattest du. Bis zum Schluss. Wir führten viele interessante Gespräche über Gott und die Welt. Weißt du noch wie wir über die Blechtrommel von Günther Grass diskutierten. Ich musste ein Referat in der 10. Klasse halten. Wegen dir bekam ich eine 1 von der Lehrerin. Alle haben über mein umfangreiches Wissen gestaunt, dabei stammte es vorwiegend von dir. Du warst schlau, leider durftest du davon viel zu wenig zeigen. Schon als junges Mädchen hattest du es furchtbar schwer. Deine Mutter ist viel früh verstorben. Schwindsucht, sagt man. Wo war eigentlich da dein Vater? Du kamst in ein Mädchenheim auf dem Land. Ich weiß so wenig von dir. Im Bund Deutscher Mädchen hat man versucht, dein Gehirn rein zu waschen und hat dir erklärt, was ein Deutsches Mädel darf und nicht darf. Über diese Zeit wolltest du nichts erzählen. Wie Papa hast auch du vom Massenmord anscheinend nichts gewusst. Die Geister der Vergangenheit waren aber immer noch präsent. Das konnte man wahrnehmen. Ihr Kriegseltern wolltet keine vernarbten Wunden aufreißen. Eine Geschichte, die du von der Zeit erzählt hast, werde ich nie vergessen. Man hat dich gezwungenen, einem kranken Hund den Kopf abzuschlagen. Deine unvorstellbareres Erlebnis hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie eine Tätowierung, die man hasst. Wenn du davon berichtet hast, wirkten deine Augen stumpf und leer.
Kassiererin in Bad Kreuznach hast du gelernt und bist eher zufällig bei den Stuttgarter Nachrichten gelandet. Im Bereich Tourismus hast du gearbeitet, Stadtführungen und Kulturangebote organisiert. Bei der Zeitung hast du dann Papa kennen gelernt. Willi Fritz Sigfried Schnur, Jahrgang 1913, diesen gut aussehenden stattlichen Kriegshelden und Chauffeur. Hast uns Kinder bekommen und wurdest Hausfrau. Musstest später von den Almosen deines Mannes leben. 41 warst du als du mich geboren hast. Eine Risikogeburt. Dem Arzt hast du gedroht, er solle bloß nichts „vermurksen“. Mit der Gebärzange mussten sie mich holen. Während der Schwangerschaft hast du weiter geraucht. Das war einfach so, bewusst schädigen wolltest du mich selbstverständlich nicht. So gesehen sind meine 52 Jahre doch gar nicht so schlecht. Ihr habt mich dann nach dem Entertainer Peter Alexander benannt. Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr die Namen gedreht habt.
15 Jahre war Papa älter als du. Ach Mama, ich habe immer noch so viele Fragen? Damals war ich zu jung, um sie zu stellen. Hast du Papa tatsächlich geliebt? Warum hast du dich auf so einen alten Sack überhaupt eingelassen? Warst du schon vor ihm depressiv? Warum bist du nicht einfach abgehauen mit uns? Warum musstest du so schlimme Sachen zu mir sagen? „Hätte ich euch doch alle nur ertränkt.“ So etwas darf man nicht zu seinen Kindern sagen. Nie! Diese Sätze vergisst ein Mensch niemals. Warum konntest du nicht glücklich sein? Warum war ich nicht in einem Kindergarten? Ich konnte nicht gut schwimmen, war im Fahrradfahren eine Niete und habe mich erst als junger Mann getraut, alleine in die Stadt zu fahren. Was habt ihr bloß mit euren Kindern angestellt, dass sie alle so früh das Elternhaus verlassen haben, regelrecht vor euch geflüchtet sind?
Ich erzähle immer, dass ich als kleiner Junge ein Mamakind war. Ich bin dir nicht von der Seite gewichen. Du konntest keinen Meter alleine ohne mich gehen. Gott muss ich dich genervt haben. Aber du hättest es ja auch anders haben können. Nach Papas Herzinfarkte hatte ich ständig Angst auch dich zu verlieren. Beim Mittagsschlaf habe ich immer mein Ohr an deine große Brust gehalten, um deinen Atem zu kontrollieren. Meine Kindheit bestand in weiten Teilen nur aus Angst. Pure nackte Angst! Um Papa, um dich, um meine Geschwister. Das Leben machte mir Angst.
Das schlimmste Erlebnis, das mich heute noch hin und wieder in meinen Träumen verfolgt, ist die Situation, in der du mich in der Straßenbahn verloren hattest. In der Weihnachtszeit war das. 5 war ich da. Ich spüre in diesen Träumen dann immer noch die Enge in der vollbesetzten Bahn; ich als kleiner Junge umzingelt von übergroßen Erwachsenen. Im Traum schnappe ich schwitzend nach Luft. Ersticke fast. In der nächsten Haltestelle hast du mich dann aufgelesen. Beide waren wir völlig aufgewühlt. Ich vermute, ab diesem Zeitpunkt zog die Angst in meinem Leben ein. Dass ich jetzt hier in der Pfalz so gut wie angstfrei lebe, grenzt an ein Wunder.
Lange habe ich mir Vorwürfe gemacht, warum ich dich nicht mehr beschützen konnte, vor Papa, aber auch vor dir selbst. Ich habe es ja versucht. Weißt du noch, wie ich mich vor dich gestellt habe, als Papa mit dem Messer auf dich los ging. Wie wir uns im Wohnzimmer verschanzt haben. Oder ich mich als Teenager weigerte, dir ständig deine Spalttabletten aus der Apotheke zu holen. Du bist ausgerastet, hast geweint und gefleht. Du warst süchtig! Für alles brauchtest du eine Tablette. Pro Woche ging für deine Betäubung bestimmt eine ganze Schachtel drauf. Immer wieder mussten wir dir deine Tabletten besorgen. Kinder waren deine Dealer. Ich denke mal, dass daher meine Aversion gegen Kopfschmerztabletten herrührt. Tatsächlich habe ich nie Kopfschmerzen. Am Ende haben deine Organe nicht mehr mitgemacht. Verständlich! Du hast nur noch auf der Couch im Sitzen geschlafen. So bist du schließlich auch gestorben. Mit nur 62 Jahren. Viel zu früh. Von allen allein gelassen. Ich glaube, die Einsamkeit und die verpassten Chancen haben dich umgebracht. Und Papa natürlich. Er war zu mächtig für dich. Nur seine Krankheit brachte ihn auf Augenhöhe zu dir. Krank wurde er immer sanftmütig und schwach. Dieser große starke Kerl. Wenn du wüsstest, wozu Frauen heute alles imstande sind, würdest du staunen. Sie können ihr Leben so gestalten, wie sie das möchten. Unabhängig. Für dich war das unmöglich. Ein Monat Arbeit hat dir für einen Rentenanspruch gefehlt. Ein einziger Monat - der Wahnsinn! Du konntest dich nicht mehr aufraffen. Hattest keine Kraft. Dein Unglücklichsein hat mich zermürbt. Dein Gejammer war unerträglich für mich. Ich musste gehen, sonst hättest du mich in den Abgrund mitgerissen.
Marion, die Arme, hat dich damals gefunden. Stell dir vor, auch sie führt ein gutes Leben. Ja, man kann sagen, dass sie glücklich ist. Und sie hatte wahrlich auch nicht die besten Voraussetzungen. Sie arbeitet als Arzthelferin. Auf deine kleine Enkelin kannst du richtig stolz sein. Auf den Rest der Sippe eher nicht. Aber vielleicht weißt du das ja alles schon. Gibt es überhaupt noch Unwissenheit bei dir da oben auf Wolke 20343? Manchmal frage ich mich, ob dir eine normale Familie mit gutem Einkommen etwas genützt hätte? Hat dir die Armut das Genick gebrochen? Auch in den finanziell guten Zeiten lachst du fast nie auf Fotos. Fotos von dir sind sowieso ziemlich rar. In meiner verschütteten Erinnerung hattest durchaus einen mitreißenden Humor. Am Ende deines viel zu kurzen Lebens ging er dir leider vollständig verloren. Oder bilde ich mir das alles womöglich nur ein? Die Vergangenheit in der Erinnerung ist oft ein Zerrbild. Kann ich sicher sein, wie und wer du warst?
Nichts konnte dich zum Schluss mehr erfreuen. Kein Blumenstrauß, kein Friseurbesuch, kein nettes Wort. Diese Erfahrung mit dir, hat in mir eine lebenslange innere Weigerung ausgelöst, jemals depressiv zu werden. Jede leichten Verstimmung versuche ich sofort den Kampf anzusagen. Ich will einfach nicht mies gelaunt sein. Ich kann auch furchtbar schlecht mit depressiven Menschen umgehen, vor allem mit denen, die ich mag. Würde mich aber durchaus als sensibel für solche Dinge betrachten.
Du hast irgendwann aufgegeben, uns, dich. Aufgeben ist mir ein Graus. Könnte ich dir einen einzigen Vorwurf machen, dann wäre es dieser: Du hast aufgegeben! Weißt du, was auf meiner Liste der garantiert unerfüllbaren Wünschen an erster Stelle steht? Ein Tag mit dir. Na ja, evtl. zwei. Wir konnten so unfassbar gut miteinander reden. Wunsch Nummer zwei: Dass du Nicole und Anna kennenlernen würdest. Deine Freude könntest du nicht zeigen; ich würde sie aber spüren.
Du wärst heute 92. Der gleiche Jahrgang wie dein Hardy Krüger, den du so gemocht hast. Der ist übrigens vor Kurzem erst gestorben. Du siehst, ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass du schon alles weißt. Es wäre schön zu wissen, dass es dir jetzt gut geht, dass du deinen Frieden endlich gefunden hast. Vielleicht hast du Papi wieder getroffen. Wilfried? Er hat dich auch sehr geliebt, da bin ich mir sicher. Ist jetzt alles gut? Könnt ihr euch jetzt lieben - ohne einen Kampf miteinander auszutragen? Kannst du dich an unser Lebensglück hier erfreuen?
Ich hatte die letzten Jahre hin und wieder Pech, aber auch viel Glück. Das Glück hat eindeutig überwogen. Ich bin umgeben von Menschen, die mich sehr lieben. Sie haben mir durch schwere Zeiten geholfen. Die hoffentlich bald überwunden sind.
Gestern habe ich eine Talkshow im Fernsehen verfolgt. Der übergeordnete Titel lautete: die Schatten der Vergangenheit. Ein Philosoph meinte, dass tiefe Wunden nie heilen würden. Sie sind in uns. Machen uns aus. Gestalten unser Ich mit. Wir müssen sie akzeptieren, mit ihnen leben. Versuchen, mit ihnen einfach weiter zu machen. Ich hoffe, deine Wunden sind nun verheilt. Du bist doch jetzt da, wo es keine Wunden mehr geben soll. Hier bei uns auf der Erde sind die Schmerzen aus der Vergangenheit allgegenwärtig. Jeder versucht sie abzuschütteln oder zu ignorieren. Sie treten meist immer dann auf, wenn man glaubt, endlich schmerzfrei zu sein. Mache dir aber keine Sorgen. Mir geht es gut. Ich habe den Halt gefunden, den du dein Leben lang gesucht hast. Ich habe es geschafft, mit meinen Dämonen klar zu kommen.
Mami, lass es dir gut gehen! Denke nicht so viel an die Vergangenheit! Sie ist endlich vorbei!
Hab dich lieb.
Dein Alexander Peter
PS: Liebe Grüße an Frank und Hardy!