Hast du uns endlich gefunden

Bevor ich weitere Familieneinträge verfasse, möchte ich eine Hörbuchempfehlung loswerden. Ich bin kein Hörbuchfanatiker. Erst in den letzten 2 Jahren komme ich da immer mehr auf den Geschmack. Vielleicht liegt es an der Zeit, die man in der Pandemie mehr für sich zur Verfügung hat. Ich habe weniger Ablenkung, kann mich auf das Gehörte voll und ganz konzentrieren. Früher bin ich da eher abgeschweift und musste mir ein Kapitel in eine Art Dauerschleife anhören.

Hier das wunderbare Hörbuch nun, das ich empfehlen möchte: „Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge, dem berühmten vielfach ausgezeichneten Schauspieler. Mit 73 hat er letztes Jahr sein Debüt als Autor gefeiert. Die überschwänglichen Kritiken und eine Hörprobe haben mich dazu verleitet,  es zu kaufen. Ein Kritiker lobte: Man kann nicht besser schreiben. Ein anderer merkte an: Warum hat Edgar Selge nur nicht schon früher angefangen zu schreiben.

Wenn ich jetzt kurz den Inhalt umreise, könnte ich mir gut vorstellen, das die im Buch behandelnden Themen den einen oder anderen gar nicht so sehr vom Hocker reißen werden. Mich interessieren sie sehr, weil sie ein Stückweit mit mir und meiner Familiengeschichte zu tun haben. 

Selge lässt einen 12-jährigen Jungen zentrale Episoden aus dem Leben der eigenen Familie erzählen. Die Geschichten haben sich alle in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ereignet. Die Eltern gutbürgerliche Nazis, gezeichnet von Kriegserlebnissen und dem gewaltsamen Tod von zwei Kindern. Der Vater ein Gefängnisdirektor, der aber gerne Pianist geworden wäre. Er veranstaltet mit der ganzen Familie regelmäßige Hauskonzerte, denen stets eine Vielzahl der Gefangenen beiwohnen. Musik und Literatur spielt in der Familie Selge eine große Rolle. Der kleine Edgar nahm im Gefängnis an Theateraufführungen teil. Verbrecher waren sozusagen erste Schauspielkollegen. Er war ein schwieriger Junge, der um die Anerkennung und Liebe seines Vaters rang und von ihm aber ständig misshandelt wurde. Edgar kann dies nicht verstehen und sucht nach Erklärungen für das Verhalten seines Vaters, seiner Mutter. Er kann nicht verstehen, warum jemand, den er liebt, ihn schlägt. Es schmerzt sehr, dem Ringen des Sohnes nach Wahrheit und Zuneigung zuzuhören. Die Erniedrigung des Kindes ist kaum zu ertragen. Es entsetzt, wie ein alter Mann (der Autor) sich immer noch mit dem Trauma seiner Kindheit auseinander setzen muss. Die Familie lässt einen nie los, so scheint es. Es beruhigt aber auch, dass es Menschen gibt, die ähnlich fühlen und denken. Die mit der Vergangenheit nicht abschließen können. Auch ich ringe jeden Tag nach Antworten, was meine Familie betrifft. Auch ich habe einen autoritären vom Krieg zerstörten Vater gehabt. Er hat meine Geschwister geschlagen, nicht mich. Mich hat er weitestgehend ignoriert oder nicht für voll genommen. Meine geliebte Mutter hat er dagegen psychisch vernichtet. Das musste ich mit ansehen und konnte nichts dagegen tun.

Die Stimme von Edgar Selge ist eine Wucht. Dass der alte Edgar die Geschichten des kleinen Edgar liest, gibt dem Projekt nochmal eine ganz besondere Note. Sog und Sucht wechseln sich dabei ab. In einer Szene schildert Edgar, wie er seinem Bruder eine Mark fürs Kino klaut. Er musste unbedingt den Film „Einer kam durch“ anschauen. Die kindliche Faszination bezüglich des Streifens wird ziemlich ausführlich dargestellt. Ich habe mir diese Stelle vorgestern angehört. Und gestern ist der Schauspieler gestorben, der die Hauptfigur in diesem Film verkörperte und damit seinen internationalen Durchbruch erlangte: Hardy Krüger. Eine große Persönlichkeit. Hatari, der Lieblingsfilm meiner Jugend. Abenteuer, Abenteuer, Abenteuer war das Gerüst meiner damaligen jugendlichen Traumwelt. Vielleicht sogar heute noch. 

 

Auch interessant: Edgar Selge bei SWR1 Leute. Abzurufen über youtube. 

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