Der Schnur und Blumen, jetzt dreht er komplett durch. Gute Nachrichten, die zweite, leider nein. Das wäre eine Art Realitätsverrdrängung. Das wäre so, als würde man den ganzen Tag Bergdoktor, Bergretter oder Silbereisen gucken. Wenn man sich vorstellt, man hat einen Job, in dem einem jeden Tag das Elend dieser Welt vor Augen geführt wird - ohne Happy End -, verständlich dass man da keine Lust mehr auf die aktuelle Nachrichtenlage hat. Im Prinzip wäre Florist*in der Glücksberuf schlechthin. Den ganzen Tag schöne farbenfrohe Blumen zusammenbinden, das wär’s doch. Ich würde Duftstäbchen und Meditationsmusik als Umrahmung zusätzlich wählen. Wenn man meinen Laden betreten würde, hätte man genug Kraftquellen für die ganze Woche. Als Pflegekraft oder Straßenpolizist*in ist es, denke ich mal, irrsinnig schwer, in diesen Zeiten im Job Kraft zu tanken. Wundert es einen da, wenn der eine oder andere seine Arbeit hinschmeißt. Sie dürften tatsächlich sehr sehr wütend sein. Warum gehen diese Menschen nicht „spazieren“ und fordern Respekt. Tja, keine Kraft!
Ich habe die letzten zwei Tage wiederholt die Berichte von Michael Fanone verfolgt. Er war einer der Polizisten, die versuchten, das Kapitol am 06. Januar 2021 vor dem stürmenden Mob zu verteidigen. Das Video seiner Bodycam ging damals um die Welt. Die Hölle tat sich für diesen Mann an diesem Tag auf. Er wurde getreten, geschlagen, bespuckt, mit Pfefferspray besprüht und mit Stromschlägen in den Nacken von allen Seiten malträtiert (mit sogenannten Tasern). Erst als er rief, ich habe doch Kinder, ließen diese Monster (Durchschnittsalter 42, Hautfarbe weiß, Mittelschicht) von ihm ab, und er konnte von Kollegen zum Glück aus der Menge heraus gezogen werden. Fanone erlitt bei den Attacken einen Herzinfarkt und ein Schädel-Hirntrauma. Seine erwachsene Tochter sah diese furchtbaren Bilder direkt nach dem Martyrium des Vaters im Internet. Selbst als „unbeteiligter“ Zuschauer schmerzte es, diesen Horror mitzuverfolgen. Realität schlimmer als jeder Sonntagskrimi. Aber was heißt hier unbeteiligt. Man kann nicht unbeteiligt sein. Man ist Mensch. Ich war permanent am Kopf schütteln, hatte Tränen in den Augen und einen fetten Kloß im Hals. Ich bin unsagbar wütend, dass so viel Hass überhaupt möglich ist. Nicht von ungebildeten Menschen, sondern von Menschen, die überwiegend einer geregelten Arbeit nachgehen. Überrascht war ich nicht. Wer viermal in Auschwitz war, ist nicht mehr überrascht. Es scheint, dass ein beträchtlicher Teil der Menschheit immer noch zu allem fähig ist. Auch der Nachbar kann ein Antisemit, Coronaleugner, Demokratiefeind und Gewalttäter sein. Die Erkenntnis, dass sich in den letzten 76 Jahren nichts geändert hat, macht einen einfach nur sprachlos und stutzt den Glauben an das Gute wiederholt auf ein Minimum. Die ehemaligen Befreier von Buchenwald treiben heute genauso lynchend ihr Unwesen wie die NS-Schergen von damals. Michael Fanone hat sich zur Aufgabe gemacht, über diesen Tag zu berichten, in Schulen, an Universitäten, in Talkshows. Als hole er sich dadurch wieder ein Stück verlorene Würde zurück. Er wirkte von seinen Erlebnissen immer noch sehr gezeichnet.
Nein, es gibt wohl keine gute Nachrichten mehr, wenn man hinschaut. Trotzdem war es doch auch eine gute Nachricht. Michael hat überlebt und gibt nicht auf, sich dem Wahnsinn entgegen zu stellen. Wir sollten alle dem Mob in die Fratze rufen: Wir geben nicht auf. Niemals werden wir aufgeben. Niemals werden wir Anständigen und Vernünftigen das Feld räumen. Auch der Florist/ die Floristin sollte das vielleicht tun.
Türchen Nummer 18
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