Familie IV - mein Vater

Meinen Vater muss ich hier in der „Familien-Rubrik“ noch vor meinem großen Bruder Hans-Martin erwähnen. Zu Feier des Tages. Stolze 108 wäre der gute alte Herr heute geworden. Was habe ich gestern geschrieben? Nachtragend sein bringt nichts? Mieses Karma? Bei meinem Erzeuger fällt mir das aber mal so richtig schwer. Nun könnte ich natürlich alles auf die Kriegserlebnisse oder eine schwere Kindheit schieben. Muss man dann immer automatisch ein schlechter Mensch sein, wenn man eine verkorkste Kindheit und Jugend hatte? Es geht auch bestimmt anders. Mein Vater war ein lustiger, aber übler verletzter Hund. Er war Icke - ohne mich. Ein Tyrann und Dieb. Ein Clown mit einer Maschinenpistole. Ein kranker alter Mann, der es nicht wahrhaben wollte, alt und krank zu sein. 

Mein Vater war gelernter Bäcker und Konditor. Kommt daher vielleicht meine Vorliebe für Süßspeisen? 15 Kilometer musste er mit 14 Jahren in der Frühe zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle zurücklegen. Bei Wind und Wetter. Geld für ein Fahrrad konnte man sich nicht leisten. Er fuhr nach der Ausbildung zur See und wurde schließlich Berufssoldat. Schaffte es bis zum Leutnant. Warum wird man das? Weil man keine Perspektiven hat? Oder weil man an die vorgegaukelte Allmachtphantasie eines irren Österreichers glaubt. Er führte Trupps durch französisches und russisches Feindesgebiet und hatte das große Glück, sich stets einen „Heimatschuss“ einzufangen. Mein Vater wurde im Nahkampf von Partisanen in beide Knie geschossen. Die Narben waren noch gut zu sehen. Linkes Bein rein, rechtes Bein raus. Bis kurz vor seinem Tod hatte er Angst vor den Russen und und warnte mich noch an seinem Sterbebett vor ihnen. Was würde er heute wohl zu Putin sagen? 


Der Krieg hatte bei ihm seine Spuren hinterlassen, nicht nur körperlich. Als junger Kerl schaute ich mit ihm „Im Westen nichts Neues“. Die alte Version. Die berühmte Anitikriegsgeschichte von Erich Maria Remarque. Er zwang sich bis zur Hälfte des Filmes, dann verließ er weinend das Zimmer. Dabei waren es Szenen aus dem I. Weltkrieg. Er sprach nie viel über den Krieg, obwohl er einige Auszeichnungen erhielt, die er auch in einer mit Samt ausgelegten Schatulle aufbewahrte. Heute würde ich ihn nicht in Ruhe lassen, würde ihn fragen, fragen, fragen. Damals mit 14 habe ich mich nicht getraut. Hatte die Befürchtung Böses zu hören. Schüler*innen versuche ich immer zu animieren, die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern in Erfahrung zu bringen. Man kann durch sie eine Menge lernen. Ich habe leider zu wenig gefragt. War immer mit mir beschäftigt, was wohl ganz normal in diesem Alter ist. 

Nach dem Krieg blieb er in Stuttgart hängen. Wurde Fahrer bei der Stuttgarter Zeitung. Chauffierte die Redakteure und ihre berühmten Gäste. Auch James Dean soll darunter gewesen sein. James Dean liebte Porsche. Einer wurde ihm zum Verhängnis. Bei einer Chauffeur-Fahrt lernte mein Vater meine Mama kennen, die in der Tourismusabteilung der Zeitung arbeitete. 15 Jahre jünger als er. Er wollte von seiner ersten Familie aus dem Osten Deutschlands nichts mehr wissen. Verleugnete sich zum Teil. Später pflegte er zumindest einen losen Kontakt zu seiner Tochter Inge. Sie besuchte uns hin und wieder in Stuttgart. Seine ältesten Töchter Rita und Hannelore wollten nichts von ihm wissen. Er aber auch nichts von ihnen. Meine Halbschwester Hannelore starb früh an Brustkrebs. Ich weiß nicht, ob mein Vater ihren Tod betrauerte. 


In Berlin-Köppenick geboren, sagte er zu Brötchen Schribben - und zu sich Icke. Wer hätte das gedacht. Die Urkunde zur Geburt wurde also im berühmten Rathaus von Köpenick ausgestellt, in dem Friedrich Wilhelm Voigt seine spektakuläre widerrechtliche Besetzung als vorgespielter Hauptmann durchführte und Carl Zuckmeyer aus der Geschichte sein bekanntes Drama daraus machte. Verfilmt mit Heinz Rühmann. Diese Geschichte um den Hochstapler Voigt liebte mein Vater sehr. Bezeichnend. Auch er war ein Hochstapler. Er schlingerte sich mit Tricks und Raffinesse durch das Leben. Kurz vor meiner Geburt bekam dann Willi Fritz Sigfried, genannt Willi, ein Baum von einem Mann, einen Herzinfarkt. 56 Jahre jung. Drei weitere folgten. Bei seinem zweiten Infarkt fand ich ihn selbst mit meiner Mama in seinem Erbrochenen liegend vor. Ich war ein kleiner Junge und verstand da zum ersten Mal die Welt nicht mehr. Wir wollten ihn im Schlachthof, wo er in der Wiegemeisterei arbeitete, abholen. Bis heute habe ich dieses Bild des am Boden liegenden starken Mannes in mir. Willi wurde Frührentner und hielt sich und uns mit diversen Anstellungen bei der Stadt Stuttgart über Wasser: Hausmeister Liederhalle, Mädchen für alles auf dem Großmarkt, zuletzt Flohmarktaufsicht auf dem Kleinen Schlossplatz. 

Willi klaute wie ein Rabe. Nach seinem Tod fanden wir Unmengen von Werkzeug und Schrauben in seinem Keller. Alles doppelt und dreifach. Mit den Schrauben die er klaute, baute er Unmengen an Regale, um diese Schrauben dann wieder nach Größen geordnet zu verstauen. Er schien über Jahre einen Baumarkt ausgeräumt zu haben. Er hatte auch keine Skrupel, mich bei seinen Raubzügen mitzunehmen. Im Wintermantel im Sommer. Mein Vater konnte alles, und traute sich alles, so schien es. Eine Zeitlang hatte er auch eine Baufirma in Stuttgart-Waiblingen, die dann Konkurs ging. Das vor meiner Zeit. Da war er ein flotter Geschäftsmann, ein Hingucker! 


Er sammelte Musikinstrumente, die er teilweise bespielte. Geige, Gitarre, Orgel, Okulele, Akkordeon, Trompete. Alles dabei. Er brachte sie immer samstags vom Flohmarkt mit und spielte uns sogleich kleine bekannte Lieder vor. Zarah Leander mochte er sehr. Der Schneewalzer war Standardrepprtoire.  Ohne Noten! Willi konnte seine Umgebung unterhalten. Die Leute mochten seine Geschichten und seine Späße. Als älterer herzkranker Mann zog er sich dann immer mehr in seinen Refugien zurück. In den Keller des 13 stöckigen Hochhauses und in seinen gepachteten Garten auf dem Stuttgarter Burgholzhof. In seinem Schrebergarten übernachtete er sogar zeitweise, wenn wieder dicke Luft Zuhause war. Tage lang war er dann nicht zu sehen. Ich habe den Garten und die Gartenarbeit gehasst. Wenn er wüsste, dass ich heute leidenschaftlich in der Erde rumwühle, würde er sicherlich ungläubig staunen. 


Mein Vater war ein Zocker. Er spielte alles, immer um Geld. Auch ums Taschengeld seiner Kinder. Die erzieherische Methode ist absolut verwerflich, brachte aber uns dazu im Skat und im Schach schnell besser zu werden. Man wollte ja nicht immer pleite sein. Selbst uns Kinder beschiss er beim Spielen, bis wir ihn damit nicht mehr davonkommen ließen. 


Mein Vater trank zu viel und vertrug kaum etwas, aufgrund seiner Herztabletten. Nach 3 Bier war er schon knülle. Leider war er dann nicht einer von denen, die sich zurückzogen, sondern eher aufdrehten und überdrehten. Der Alkohol veränderte sein Wesen oder brachte seinen wahren Kern zum Vorschein - das kann man sehen wie man will. Er badete dann gern. Mitten in der Nacht. Und meine Mutter und ich mussten ihn bewusstlos aus der Wanne hieven. Wir dachten dann immer, er sei tot. Aber er erwachte immer wieder. Er war vermutlich der schlechteste Patient der Welt.  


Mein Vater war ein gewalttätiger Mann, der es verstand zu drohen und zu verängstigen. Zucht und Ordnung musste herrschen, wie im alten Preußen. Frauen durften nicht auf der Straße rauchen, Kinder mussten am Tisch ihren Teller leer essen und gerade sitzen. Lange Haare waren der Feind des Anstands. Er hatte die Angewohnheit einem die Faust in den Rücken zu rammen, wenn man die Regel des Aufrechtsitzens vergaß. Ich hatte Glück, mich schlug er nicht, mir machte er nur Angst. Mit den Augen, mit Worten, mit dem Körper. Leider kann ich das auch sehr gut, wenn ich es will. Er konnte aber auch Quatsch machen, sehr lustig sein. Wie ich auch. Robbte mit Marion meiner kleinen Nichte-Schwester, seiner Enkelin auf dem Boden entlang und ließ sich mit Mullbinden von uns verarzten. Auf Bildern zog er gern Grimassen. Er war ein Showman durch und durch. Ein Horrorclown. Eines Abends, er war mal wieder betrunken, ging er auf meine Mutter mit dem Messer los. Wir konnten uns nur noch ins Wohnzimmer retten, verrammelten die Türe. Nie hatte ich in meinem Leben wieder solche Angst. Ich weiß nicht mehr wie es sich auflöste. Mein Gehirn hat diese Minuten verdrängt, gelöscht. Es gab auf jeden Fall keine Konsequenzen. Außer das meine Eltern sich auseinander lebten. 25 Jahre verheiratet, davon 5 Jahre geliebt. Beide zu schwach voneinander zu lassen. Wenn mein Papi krank war, war er auch immer lieb zu Mami. „Der Alte“, wie meine Geschwister ihn auch nannten, hasste nichts so sehr wie keine Kontrolle über die Menschen zu haben. Er hatte einen krankhaften Drang, alles und jeden zu kontrollieren. Sein Umfeld machte ihm das leider oft nicht ganz einfach. Er fotografierte das Essen meiner Mutter, um zu beweisen wie viel sie abends zu sich nahm, denn irgendwann aßen sie nicht mehr gemeinsam. Er wollte ihr vor Augen führen, wie sie das Haushaltsgeld verprasste. Meine Mutter arbeitete nicht, sie war Hausfrau, wie so viele in dieser Generation. Angewiesen auf die Almosen ihres Mannes. Er brachte das Geld nach Hause, sie musste sparen, meistens bei sich. Meine Mama rauchte bis zu ihrem Tod, das war eine Dorn im Auge meines Vaters. Er konnte ihr nicht das gönnen, was ihm verwehrt wurde. Nach Diskussionen machte er sich Notizen, damit er später nachweisen konnte was genau gesagt wurde. Sie stritten häufig und die Kommunikation lief dann über mich: Sag mal deiner Mutter, sag mal deinem Vater…Krank! 


Mein Vater war wohl gläubig, so habe ich ihn zumindest zuletzt wahrgenommen. Er las verstärkt in der Bibel. Wendete sich aber von der Kirche ab, weil der Pfarrer meine schwierige Schwester nicht konfirmieren wollte. Mein Vater hatte seine Prinzipien. Wenn ich etwas bewundere ist es seine Überlebenskunst, sein Talent, Unkoventionelles in die Tat umzusetzen. Er verlor mit 68 am Silvesterabend den Führerschein, weil er betrunken mit der Straßenbahn kollidierte. Ein Drama. Das für ihn keines war, weil er dann eben mit dem Moped durch die Straßen kurvte. Er gab niemals auf. Nur bei meiner Mama. Und DAS trage ich ihm bis heute nach. Nicht, dass er mir Angst bereitete, sondern dass er den Zusammenbruch meiner Mutter noch beschleunigte, sie im Stich ließ, sie klein machte. Das kann ich unmöglich verzeihen. Noch heute atme ich schwer, weine fast, bin ich so unsagbar wütend bei diesem Gedanken. Er hat sie allein gelassen. Er trank, zockte, stahl, bastelte, wühlte maßlos und liebte zu wenig. Mich nahm er mehr oder weniger hin. DEN  kriegen wir auch noch durch. Was ist das bloß für ein Junge? Solche Sätze brennen sich ins Lebensgedächtnis ein. Vieles was ich getan habe, habe ich getan, um meinem alten Herren da oben (oder da unten?) eins auszuwischen. Stets hatte ich im Hinterkopf: Sei bitte kein so verdammtes tyrannisches Arschloch! Ich hasse nichts mehr als seine Wesenszüge an mir zu entdecken. Die üblen. Und wie es so ist im menschlichen Dasein, begleitet mich stets auch immer die Ambivalenz. Die Ambivalenz, dass ich stolz bin auf diese/ unsere Geschichte. Das ich weiß, dass ich nur der heute bin, weil es diese Geschichte überhaupt gibt. Sie hat mich nicht zerbrochen, sie hat mich stärker, widerstandsfähig gemacht. Es gibt keine Wahl, man muss seine Schwachpunkte erkennen und lernen, mit ihnen umzugehen. Sie aussprechen! Akzeptieren ist für mich viel zu passiv. Es ist immer möglich, durch harte Arbeit sich zum Guten zu verändern, zumindest ist das meine naive Hoffnung. 


Ich saß eine Woche lang an seinem Sterbebett. Nach einer Schweinshaxe mit Sauerkraut hatte er seinen vierten Herzinfarkt. Schweinshaxe werde ich nie essen. Er berappelte sich wieder. Farbe kehrte sogar in sein Gesicht zurück. Machte Späße, in dem er Klimmzüge an der Bettangel, oder wie heißt das Ding, machte. Er wies dann belustigt auf die Ausschläge auf dem Monitor hin. Ein Tag später wurde er sentimental. Glaubte, dass seine Wellensittiche und der Kater ihn vermissen würden, fing an zu weinen. Nur diesmal ohne Alkohol. Er spürte, so denke ich, in diesem Augenblick, dass er das Krankenhaus nicht mehr verlassen werden würde. Ich hielt seine fleckige kalte Hand. Ich hielt die Hand eines Fremden, den ich lieben und von dem ich geliebt werden wollte. Am Morgen des Ostermontages 1985 starb mein Vater im Alter von 72 Jahren. Ich war 16 und verstand wieder einmal die Welt nicht mehr. 


Es fiel mir schwer eine passende Form für diesen Eintrag zu finden. Biographisch? Chronologisch? Detailierter Bericht? Er ist nun ohne einheitliche Form, weil es keine Form für mich gab. Ich mich bei meinem Vater schwer tue mit Formen. Ich habe das aufgeschrieben, was mir in den Sinn kam - ohne Kontrolle, ohne Maßregelung. Nicht gerade, krumm!   


Wir sind die Kinder unserer Eltern, da geht kein Weg daran vorbei. Wir müssen jeden Tag versuchen, uns von ihnen zu emanzipieren. Verständnis kann dabei helfen, manchmal auch nicht. Wir sollten mehr ins Gespräch gehen miteinander. Ich hatte keine Chance dazu. Als ich bereit dazu war, waren meine Eltern tot. Mein Vater hatte Probleme. Große. Für seine Generation gab es noch keine Therapeuten. Er wäre auch nie zu einem gegangen. Ich wollte nur geliebt und respektiert werden. Nicht viel, aber das Wichtigste für ein Kind. Ein Kind muss das Vertrauen besitzen, zu jeder Zeit zu seinen Eltern gehen zu können. Ich hatte dieses Vertrauen nie! Nicht bei meinem Vater. Freunde übernahmen später diesen Part. Wenn Eltern mehr Probleme haben als ihre eigenen Kinder läuft gewaltig was falsch. Leider kann man oft die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Trotz allem gibt es immer eine Chance auf Veränderung/ Verbesserung, wenn schon nicht mit Eltern, dann eben alleine. 






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