Da bin ich wieder! Na, vermisst? Stelle dir vor, ich wäre tot. Dann gibt es überhaupt nichts mehr von mir zu lesen und nichts mehr zu hören. Schlimm? Wohl eher nicht, sonst hättest du dich ja bei mir gemeldet, nachgefragt, dich mit mir ausgetauscht. Ausreden gibt es hierfür keine. Wenn einem ein Mensch besonders wichtig ist, dann hält man mit ihm in dieser so existenziellen Situation Kontakt. Und das vielleicht sogar regelmäßig. Sei also nicht überrascht, wenn ich einen Abgang mache. Du hattest stets deine Chance!
Das Telefon blieb still, bis auf einen Anruf von meiner Halbschwester aus Berlin, die meinen Status bei WhatsApp nicht verfolgt und die auch sonst nicht gewusst hat, dass ich über das Handy in der vergangenen Woche nicht zu erreichen war. Außerdem ist sie 82 und stammt noch aus der Festnetz-Telefonierer*innen-Generation. Die Sprechmuschel scheint langsam aber sicher auszusterben. Das "Whatsappen" ist das neue Telefonieren. Wer wird heutzutage noch unvorbereitet auf dem Festnetz angerufen? Dinosauerier? Wer erkundigt sich zwischendurch mal nach dem Befinden des anderen? MoFs? Einfach nur so? Wie lange ist es her, dass aus einer kleiner unscheinbaren Frage eine Stunde Telefonieren wurde?
Ich habe tatsächlich eine Woche nichts Nennenswertes geschrieben. Ein paar Notizen. Nicht ins Handy, sondern auf einem kleinen Notizbüchlein mit kackbraunem Einband. Liniert. Ich hasse linierte Blätter. Erinnert mich so an Schule.
Darf man das überhaupt noch? Auf Papier schreiben, meine ich? Ich denke in dem Land der uneingeschränkten Raserei, ist es sicherlich auch erlaubt, auf Hochglanzpapier mit einem schwarzen Tintenroller zu kritzeln.
Die Zeit mit Nicole war zu kostbar, um sie mit langweiligen Geschichten zu verplempern. Jetzt arbeitet sie wieder und ich kann mich erneut meiner Leidenschaft widmen: Zeit verplempern mit langweiligen Geschichten. Hätte fast noch eine weitere Leidenschaft hinzugefügt: der Mensch. Wahrlich nicht langweilig. Die Spezies Mensch mit ihren Untiefen und Unschärfen war während meines Experiments weiterhin präsent, auch ohne Handy. Vielleicht mehr denn je. Wo ich also beim Thema des heutigen Eintrags wäre: Experimente. Der Verzicht auf das Handy, auch wenn es nur eine Woche war, hat mir Vieles (wieder?!) bewusst gemacht. Altes und Neues. Alles sehr spannend.
Als Nicole in einem Café von der Toilette kam, passierte etwas Außerordentliches: Sie sah, wie ihr Ehemann ins Leere vor sich hin starrte und nicht aufs Handy. Ein Novum! Seit ich dieses super-duper-multimediale Hammergerät besitze, ersetzt es in Wartephasen jede noch so kleine Apathie. Spiegel Magazin, Spiegel-Online, RHEINPFALZ, Süddeutsche, SWR3, Deutschlandfunk, Audible, ARD-Mediathek, Facebook, Google-Fotos, WhatsApp, Instagram, Termine, Kalender, E-Mail, Wetter usw. Tausend Dinge, die man anstatt des luftleeren Raumes anstarren und anhören kann. Etwas ziemlich Dubioses vollzog sich zusätzlich: Ich beobachtete und nahm wahr: das hübsche altbackene Interieur des Altstadt-Cafés z. B. Sehr schöne große Natur-Fotografien an allen Wänden. Die Landschaften besaßen magische Kräfte. Alleine das Anschauen reichte, um meinen Puls trotz Espressos ein paar Punkte absinken zu lassen.
Die Gäste. Vor allem ein Gast. Er saß mir schräg gegenüber. Ein älterer, wenn nicht sogar zu sagen alter Mann mit Base-Cap. Stilvoll angezogen, nicht modern, aber passend. Er trank einen Kaffee, aß sehr elegant ein Stück Fruchttorte und las ein Magazin. Ich konnte nicht erkennen welches. Er tat alles sehr konzentriert, genüsslich und mit Freude. Hin und wieder staunte er oder grinste. So wie ein Buddhist die Dinge mit aller größter Wertschätzung verrichtet. Aber wahrscheinlich nicht unbedingt mit einem verschmitzten Grinsen. Während des Beobachtens, das mir nie langweilig wurde, dachte ich nach. Ließ meine Gedanken freien Lauf. Als Nicole wieder am Platz war, war sie doch sehr verwundert. Hat sie mich überhaupt mal ohne Handy einfach nur so dasitzen sehen? Wir spekulierten beide über den Hintergrund, warum der alte Mann hier alleine am Vormittag im Café saß und Freude dabei empfand, alleine mit sich zu sein. War er etwa aus dem Altenheim ausgebüxst? Suchte er hier Ruhe vor seiner keifenden unglücklichen Ehrefrau? Überbrückte er einen Arzttermin? War er alleinstehend und genoss trotzdem das Alleinsein? War der Besuch ein tägliches Ritual, ein fester Termin in seinem Rentner-Alltag? Es machte uns Spaß, alle Möglichkeiten gedanklich abzuklopfen. Wie hätte der Mann wohl geschaut, hätte ich ihn nach seiner Motivation gefragt. Das macht man natürlich nicht. Auch ich nicht. Schade eigentlich!
Wartezeiten ohne Handy zu überbrücken - gibt es das noch? Im Wartezimmer drückt sogar Karl-Otto, 90, mit einer Dioptrien pro Lebensjahrzehnt seine Nase auf dem Display platt, um in seinen Notizen zu erahnen, warum er überhaupt beim Arzt sitzt oder ADS-Adelheid, 3, erreicht einen Top-Score beim Candy-Crush-Spielen. In jeder freien Minute wird dieses flache Wunderwerk der Ablenkung hervorgezückt und der ineffektiven Zeit massiv in die Fresse gehauen.
Ich ließ über die Tage mein Handy an. Wenn die Tochter in einer anderen Stadt lebt, hat man schon ein schlechtes Gewissen, wenn man das Handy nur lautlos stellt. Egal ob sie 3 oder 30 ist. Zur Sicherheit übermittelte ich noch unsere Festnetznummer. Eine weitere Erkenntnis: Menschen, die einen am meisten lieben, haben die Festnetznummer von einem nicht mehr parat. Diese Woche hat nun dafür gesorgt, dass man eine fünfte Kommunikationsmöglichkeit in der Hinterhand hat. Eine fünfte, die vor Jahrzehnten mal die erste war.
Ach ich vergaß! Es klingelte ja doch etwas in den letzten 7 Tagen! Habe ich mich da vielleicht furchtbar erschrocken! Meine Uhr. Ich saß am Schreibtisch und meine Apple Watch wäre fast der Grund gewesen, dass ich nicht am Hodgkin zugrunde gehe, sondern am plötzlichen Herztod. Das Autohaus war’s. Ich hatte noch eine Terminanfrage bezüglich Wintercheck in Auftrag gegeben. Und das Autohaus, unerwartet professionell, hat natürlich meine Handynummer im System abgespeichert. Ich saß am Schreibtisch, sprach wie James Bond mit meiner Uhr und fühlte mich die ganze Zeit unwohl, als würde ich in der Schule auf dem Lehrerklo heimlich kiffen. Im Prinzip kann man an einer einzigen Sache ablesen, dass wir Menschen sowas von im Arsch sind: Wir sprechen mit und in Uhren. Uhus wären ja okay, aber Uhren? Wenn ich mir das als Kind ausgedacht hätte, dann hätte mich mein Vater nicht nur ignoriert, sondern auch unverzüglich nach Winnenden verfrachtet. Heute Klingenmünster.
Das Handy. Dieses technische Wundertüte. Wenn du es mehrere Tage (Wochen? Never! Um Gottes Willen!) weglegst, merkst du erst, wie es in den letzten Jahren Besitz von dir und deinen täglichen Abläufen ergriffen hat. Man wurde sozusagen schleichend von der Technik okkupiert. Uns gibt es nur noch mit dem Handy. Geht es verloren, gehen wir gleich mit. Alles läuft mittlerweile darüber. ALLES. Muss ich es aufzählen? Keine Banküberweisung mehr ohne Handy. Terminerinnerungen. Geburtstage, die man nie wieder vergisst. Kein geschossenes Bundesliga-Tor wirst du in deinem Leben jemals durch durch den „Toralarm“ verpassen, nicht einmal beim Geschlechtsverkehr. Alle Zeitschriften und Magazine ständig verfügbar. Du musst nicht mehr in eine öffentliche Bibliothek. Du bist der Eigentümer mehrerer Landesbibos. Musik, die du ohne Handy niemals in deinem Leben gehört hättest. Außer du wärst durch Zufall auf ein Freejazz-Festival gestolpert. Impulse für die abendliche Speise. Ein Stern, zwei Sterne oder 3 Sterne, kein Problem, das Youtube-Tutorial wird dir schon die Kniffs zeigen. Korrespondenz mit der besten Freundin, die gerade an der Costa Brava am Strand einen Caipi schlürft. Fotografieren von Füße, Nasen und Ohren, den eigenen, aber auch fremde. Wenn einem nichts einfällt, das man mit dem Handy anstellen kann, dann fotografiert man eben Füße, Nasen und Ohren. Das Handy in Kombination mit einer Smart-Watch eine Art dauerhafte Gesundheitsteststation: Schlafqualität, Herzrhythmus, Ruhepuls, Sauerstoffsättigung. Das man hinüber ist, kann man minütlich überprüfen. Oh! Dann das Geilste überhaupt! Reaktionen auslösen. Mit dem Handy Reaktionen auszulösen, ist so unfassbar megageil. Nicht besser als Sex. Aber es kommt verdammt nah dran. Status, Facebook, Insta, zack - und Reaktion. Oder keine! Dann ist man kurz davor ein Kilo Valium zu schlucken. Keine Reaktion ist das Schlimmste, Übelste, Schrecklichste. Wissenschaftlich belegt. Ursache für Depressionen.
Man schickt Bilder und bekommt Bilder, die hätte man nur der ungeliebten Tante Gerdi gezeigt, weil man die frigide alte Jungfer einfach mal provozieren und zum Weinen bringen wollte. Die Foto-Cloud beinhaltet Millionen Schnappschüsse, die man niemals in seinem Leben mehr anschauen wird.
Was man da in der Tasche hat und ständig mitschleift, ist nichts weniger als die Welt. Wenn nicht sogar Welten! Warum haben wir eigentlich so viel Schiss vor dem Klimawandel und vor der Vernichtung der Menschheit, wenn wir doch jeden Tag die Welt in der Tasche haben und nach Lust und Laune reproduzieren können.
Die langsam erarbeitete Gewissheit, was ich alles machen kann, ohne ein Handy in der Hand zu haben, hat mich zum Staunen gebracht. Nun werdet ihr sagen: Also du Depp, das hätte ich dir auch gleich alles sagen können, da braucht's kein Experiment dazu. Tja, ich hatte es ja auch geahnt. Aber es dann am eigenen Leib zu erfahren, war dann doch etwas komplett Anderes. Und es war schön. Ich habe nichts vermisst. Keine Nachricht, keine Mitteilung, kein Foto. (Lüge! Ich habe mit einer Uralt-Canon fotografiert!) Wandern ohne Naturaufnahmen ist nicht mehr möglich.
Doch! Ich habe etwas vermisst! Menschen, die ich mag! Mit Handy ist man nie alleine. Alle latschen oder sitzen mit einem mit. Wenn man wollen würde, könnte man Mitteilungen direkt aus dem WC versenden und erhalten - und alle Freunde wären beim Stuhlgang live dabei.
Der 7. Tag: Es war das selbe Gefühl, als ich es endlich geschafft habe, mit dem Rauchen aufzuhören. Ich war frei. Ich wurde nicht mehr kontrolliert. War nicht mehr abhängig. Nicht mehr etwas machen zu müssen, ist ein Hochgefühl. Man fühlt sich wie ein Rebell. Wie Rosa Luxemburg und Mahatma Gandhi in einer Person. Ich fand es nicht schlimm. Ich könnte ebenso noch weitere Wochen ohne Handy und Soziale Netzwerke leben. Das sichere Gefühl, mich auch wieder entwöhnen zu können, ist ein gutes Gefühl. Ich muss aber auch ganz klar sagen: Ich liebe Technik, technischer Fortschritt berauscht! Ich probiere gerne Dinge aus, egal ob es ein neues Schreibgerät ist oder die neueste digitale Schrift. Das war schon immer so. Die angeborene Neugier hat sich nur verselbständigt. Zuerst eine App, dann 100. Wir denken, wir haben die Kontrolle über das Handy. Aber ich glaube, viele haben die schon längst verloren. Ein schleichender alltäglicher Prozess.
Ich kenne einen Typen. Vor dem hatte ich den aller größten Respekt. Er verweigerte sich dem Trend, ein top-aktuelles Handy zu besitzen. Lange Zeit hatte er ein Uralthandy, Marke mobiles Wählscheibentelefon. Außer telefonieren konnte man mit dem Ding rein gar nichts. Und dann passierte es: Er konnte dem Druck seines Umfelds und seiner Freundin nicht mehr Stand halten. Er kaufte sich auch ein neues Super-Duper-Hammer-Handy. Seit dem sitzt er nun in jeder freien Minute vor dieser unglaublichen Zerstreungshilfe, tippt und glotzt, glotzt und tippt. Samsung hat ihn mit einem Schuss erlegt.
Fazit für mich persönlich: Ich werde kürzer treten. Nicht nur beruflich, sondern auch digital. Devise: Weniger ist mehr. Wie viel weniger genau, weiß ich noch nicht. Ich bleibe aber sensibel für dieses Thema. Der Verzicht hat dazu geführt, dass ich zwei Bücher gelesen habe, was ein sehr schöner Nebeneffekt ist, wie ich finde.
Weniger digitales Leben, aber dafür mehr Experimente. Wir sollten uns überwinden, mehr Dinge einfach mal zu versuchen und schauen, was sie bewirken, was sie mit uns und den anderen machen. Es gibt da viele Experimentierfelder. Oft verbunden natürlich mit Verzicht. Aber auch eine Begegnung kann ein Experiment sein. Oder Vergebung und Verzeihen. Danach kann man immer noch sagen: Nö, das war nix. Ein Experiment birgt auch immer das Risiko des Scheiterns, der Erfolglosigkeit. Vielleicht ist aber allein die Erkenntnis, das man ein furchtbar fehlerhafter inkonsequenter Mensch ist schon eine Art Erfolg.
Heute ist ein wichtiger Tag dieser vielen wichtigen Tage. Vor allem eines Krebspatienten mit einem Rezidiv.
Das Abschlussstaging steht an. Ein PET-CT. Ohne Kontrastmittel, aber mit radioaktiven Zucker. Das Kontrastmittel lässt man weg, weil meine Schilddrüse ja demnächst noch untersucht wird und mindestens 3 Monate zwischen einer erneuten Kontrastmittelgabe liegen müssen. Ich sitze im Wartesaal. Infusionsnadel wurde gelegt. 60 Minuten muss ich erstmal liegen, dass der Zucker sich gut im Körper verteilt. Mit Zuckerverteilung im Körper habe ich in der Regel keine Probleme. Bei radioaktivem Zucker bin ich mir da nicht so sicher. Habe ich Angst. Nö! Weiß ja, dass das Lymphom nicht einfach verschwinden wird; es wird wieder kommen. Nur wann ist die Frage. Sind es 3, 5 oder 10 Jahre. Für diese Antwort benötige ich Geduld und viel gute Laune. Die mir aber vergeht, wenn ich an Peter Schilddrüse denke. Da kommt noch eine LKW-Ladung Unannehmlichkeiten, die ich noch gar nicht richtig abschätzen kann, auf mich zu.
ES GIBT GUTE NACHRICHTEN! Die aber noch einer Detailprüfung unterzogen werden müssen. Es hat nichts geblinkt. Keine Aktivität von Tumorzellen. George Lymphomie macht eine Kampfpause. Eine nette Radiologin mit starkem spanischen Akzent hat es mir auf einem kleinen Hocker in einem noch kleineren Behandlungszimmer in drei Minuten offenbart. Ganz unscheinbar hat sie mir Bewegendes mitgeteilt. Vor 10 Jahren bin ich emotional zusammengebrochen und habe hemmungslos geweint. Diesmal war ich ziemlich cool, da mich George, die Kackbratze, mein Leben lang begleiten werden wird. Er ist wie ein WG-Mitglied, das niemand ausstehen kann, weil es nur faul und stinkend im Bett rumliegt, keinen Nutzen für die Gemeinschaft hat. Eine zweite positiv zu bewertende Nachricht gab es oben drauf: Seit August sind meine Wucherungen auf Peter Schilddrüse nicht gewachsen. Seit 2011 ist das Zeug extrem größer geworden, aber auf einem konstanten Niveau. Jetzt kann also geplant werden, wie man Peter aus der Krebs-WG raus bekommt. Anschwärzen bei der GEZ oder seine Cannabis-Plantage im Zimmer verpetzen. Oder ganz einfach vor die Türe setzen und das Schloss austauschen.
Am Freitag werde ich mit Wonderwoman eine Strategie austüfteln. Aktuell heißt es erstmal erholen und genießen. Auf die Jagd gehen - nach tollen Augenblicken.
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