Familie III - Martina, Schwester

Über 30 Jahre habe ich meine Schwester Martina jetzt nicht gesehen. Alles was ich hier schreibe, setzt sich aus Begegnungen, die sehr lange zurück liegen, und aus Erzählungen zusammen. Ohne Vorurteile wird es mit Sicherheit nicht gehen. Ich könnte sie hier ausklammern, ignorieren, wie ich es schon Jahrzehnte getan habe. Sie ist aber genauso wichtig, um meinen Hintergrund, um mich zu verstehen. Ich werde alles so notieren, wie ich es für richtig halte, und ich weiß, dass es nur meine Sicht der Dinge ist. Um jemand in seiner Tiefe zu begreifen, muss man viel Zeit mit ihm verbringen und sich auf ihn in Gänze einlassen. Das habe ich nie getan, weil ich es nicht konnte und wollte.  

Meine Schwester ist die Älteste von meinen 

vier leiblichen Geschwistern. Jahrgang 57. 12 Jahre trennen uns. Sie hat als junges Mädchen öfter auf mich aufpassen müssen, deshalb nennt sie mich heute noch, ihr „kloines Brüüüüderle“. Aus dieser Zeit stammen ihre Geschwistergefühle zu mir. Ich kann mich an diese Phase der geschwisterlichen Fürsorge nicht erinnern. An was ich mich erinnern kann, ist Ärger und Streit innerhalb der Familie in Verbindung mit ihrer Person. 

Meine Schwester war 15 als sie ihr erstes Kind bekam: Marion, die dann als mein kleines Schwesterchen bei meinen Eltern aufwuchs. Mit 17 wurde Martina erneut schwanger. Eine gewisse Beständigkeit kann man ihr hier durchaus attestieren: Sie wurde zumindest vom gleichen Mann geschwängert. Einen viel älteren Typen, der sich sein Geld mit Fahrgeschäften auf dem Rummel verdiente. Martina war mit 15 schon weg von der Familie. Irgendwo. Viele Stunden des Suchens und des Bangens um sie haben sich in meiner Erinnerung festgesetzt. Nicht MEIN Suchen und Bangen. Ich war dafür zu klein. Im Gegensatz zu meinem Bruder Wilfried hat sie die Hauptschule abgeschlossen, aber ebenfalls keinen Beruf erlernt. Sie führte ein Rummelplatzleben. Später verbrachte sie mehrere Jahre hinter Gittern, wurde zweimal verurteilt. Wegen schweren Betrugs und Körperverletzung. So die Erzählung. Im Betrugsfall hat sie sogar die Identität von Familienmitgliedern verwendet. Ich habe mich damals als Teenager gewundert, warum so viele verpackte Videorekorder und Fernseher in ihrer Sozialwohnung herumstanden. Alles wurde bestellt, nicht bezahlt und verhökert. Über mehrere Jahre. Bis mein Bruder Wilfried das Spitz bekam und sie an die Behörden verpetzte, um sich selbst zu schützen. Im Verlauf der Zeit gingen diverse Knastbrüder bei ihr ein und aus, die sie meist heiratete. Ihre Lieben verewigte sie dann mit unprofessionellen Tätowierungen auf dem Unterarm. Ein paar von ihren Kerlen durfte ich kennen lernen. Sie waren gesundheitlich sehr angeschlagen, hatten hin und wieder keine oder verfaulte Zähne und waren meist freundlich, soweit wie ich das damals als Heranwachsender beurteilen konnte. Meine Vermutung: Ihre Schwäche spielte sie in die Hände meiner Schwester. Alle verstarben. Embolie, Krebs, Suizid. Ihr zweites Kind wuchs dann bei ihr selbst auf, sorgte für etwas Stabilität im unsteten Leben. Ihre Töchter haben keinen Kontakt zueinander, und Marion hat keinen Kontakt zu ihrer Mutter, aus ihren ureigenen Gründen. Meine Schwester hat sich wiederholt um mich bemüht. Immer wieder bekam ich Post: eine Weihnachtskarte direkt an die Schule oder Nachrichten über Facebook. Ihre Beharrlichkeit imponierte mir. Sie schrieb und schreibt mich weiterhin an, obwohl ich ihr stets signalisiere, dass ich nichts mit ihr anfangen kann, dass sie für mich eine Fremde ist und von einem anderen Stern zu kommen scheint. Sie ließ und lässt nicht locker. Heute schreibt sie mir per WhatsApp. Fast jeden Morgen seit über zwei Jahren bekomme ich einen morgendlichen Gruß, häufig mit einer Diddlmaus oder anderen seltsamen Tieren. Sie ist Stallone-Fan und steht dem rechten Gedankengut nahe. Somit schleicht sich dann auch der eine oder andere flache Kommentar oder Witz in einer Nachricht ein. Der WhatsApp-Kontakt hat sich ergeben, als mich ihr aktueller Mann anrief, um mir von ihrer schlimmen Lungenerkrankung zu berichten. Lungenkarzinom und COPD. Sie hängt fast den ganzen Tag an einer Sauerstoffflasche. Martina war eine lebenslange Raucherin. Sie meinte zu mir, dass das Rauchen nicht unbedingt Ursache für den Krebs sein muss. Das würden sogar ihre Ärzte sagen. Ihr Mann war nett und machte am Telefon einen stabilen Eindruck; er geht einer geregelten Arbeit nach. Sie sind wohl schon mehrere Jahre verheiratet. Aus einem Pflichtgefühl als Mensch, nicht als Bruder, habe ich mich auf diesen skurrilen WhatsApp-Kontakt eingelassen. Ich, der ehrenamtlich mit Sterbenden zu tun hat, kann doch nicht einen der letzten Wünsche der eigenen Schwester verweigern. Das macht man nicht! Leider entwickelt sich auch nach hunderten Kaffee trinkenden Tierbaby-Fotos bei mir keine Zuneigung. Im Gegenteil. Ich bringe es immer noch nicht fertig, mit ihr zu telefonieren. Einen Besuch habe ich angekündigt; aber er hat sich glücklicherweise bis jetzt nicht ergeben. Die „dumme Sau“, klingt immer noch in meinen Ohren nach, so hat mein Bruder sie in unserem letzten Telefonat vor seinem Tod bezeichnet. Ebenfalls Lungenkrebs. Mit dem einen Unterschied: Er hat bis zum Schluss weiter geraucht. Auf den Krebs geschissen! 

Letzte leibhaftige Begegnungen mit meiner Schwester bekomme ich nicht aus meinem Kopf. Sie waren von Sexualisierung, vulgärem Slang und unsozialem Verhalten geprägt. Ihr Anblick unästhetisch. Ein Mensch, mit dem ich im Alltag nichts zu tun haben möchte, für den ich auch nur sehr schwer Verständnis aufbringen kann. Wenn überhaupt, dann beruflich oder als Ehrenamtler. Und doch kann ich ihr nicht schreiben: Lass mich endlich in Ruhe. In den Nachrichten bin ich mehr als ehrlich. Jeder Mensch, der das lesen würde, würde von sich aus sagen, okay, das war’s! Nicht sie! Sie verteidigt sich nicht, sie lässt entweder alles über sich ergehen oder antwortet lapidar: Das war halt so. Und schickt mir weiterhin Diddlmäuse. Na klar wäre das schön, eine Schwester zu haben: gebildet, fürsorglich, vorbildhaft. Ich bin ein Familienmensch. Das werden alle bestätigen, die mich kennen. Nur eben nicht bei meiner eigenen Familie. Da klemmt‘s. Wie hätte da etwas entstehen sollen, waren ja alle schnell weg. Bei meinem Bruder Wilfried habe ich nicht mehr hinbekommen, ihn vor seinem Tod nochmal zu sehen. Den Umständen gebe ich hier offiziell immer die Schuld. Das stimmt so nicht. Wenn ich was wirklich will, schaff ich das meistens. Auch wenn es ein Krankenbesuch in Valencia während der Schulzeit ist. Wie Martina war mir Wilfried ebenso ziemlich fremd. Trotz allem gehören sie zu meiner (ehemaligen) Welt. Leugnen hilft hier wenig. Ich möchte diesen Fehler ein zweites Mal nicht mehr begehen. Früher hatte ich vor solchen Geschwister-Begegnungen immer Angst, weil ich nicht enttäuscht werden wollte, weil ich nicht wollte, dass meine naive Heile-Welt-Vorstellung mit einem Vorschlaghammer zerbröselt wird.  Ich habe nun keine Angst mehr. Ich weiß, dass es keine Heile Welt gibt. Klarheit und Wahrheit ist wichtig. Beides tritt nur ein, wenn man etwas riskiert und sich konfrontiert. Müssen tut man das natürlich nicht: Ich kann mich jederzeit auch gegen eine Begegnung entscheiden. Es ist die Frage, ob es mir damit besser gehen würde.  Ich denke, ich bin nicht alleine mit so einer konfusen Familiengeschichte. Die Herangehensweise ist doch all zu oft dieselbe: ignorieren, totschweigen, Passivität. Man macht sich doch meistens nur vor, man sei immun gegen Verletzungen und irrationale Emotionen. Ich denke, dass sich da vieles trotzdem im Unterbewusstsein abspielt und das Bewusstsein, häufig ohne unsere Kenntnis davon, von vergangenen Bildern beeinflusst wird. Immer wieder erlebe ich es, dass sich Geschwister nicht grün sind, wahnsinnig unterschiedlich sind und sich doch tief im Herzen wünschen, sich näher zu stehen, die Zwistigkeiten irgendwann bereinigen zu können. In meinen Träumen  habe ich oft einen großen Tisch aus schwerem Massivholz vor Augen, an dem alle Familienmitglieder gemeinsam streiten, weinen und lachen. In der Coronazeit natürlich in sicherem Abstand zueinander und mit Maske. Dies wird so nie in Erfüllung gehen. Nach vielen Jahren habe ich endlich gelernt, dies zu akzeptieren. Trotzdem bleibt diese Unvollkommenheit und hinterlässt eine Kerbe in meinem Menschsein. Ich habe so viele Narben, vorhandene und nicht vorhandene, da kommt es auf den einen oder anderen Schmiss auch nicht mehr an. Hauptsache sie verheilen alle gut und entstellen mich nicht so sehr. 

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