Gesichter

Mein montäglicher Bike-Ausflug in die Stadt bietet mir immer die große Gelegenheit, Menschen und Gesichter zu studieren. Welche Geschichten stecken dahinter? Ich blicke in viele Augen, die von Krankheit, Niedergeschlagenheit, Müdigkeit berichten. Wenn ich selbst in den Spiegel schaue, dann muss ich feststellen, dass es mir doch gar nicht so schlecht geht. 

An der Kasse im dm sitzt eine junge Frau, die völlig abgekämpft aussieht, die wohl keine Zeit findet, ein wenig nach sich selbst zu schauen. Ihr Haut ist unrein und fettig. Das im dm! Warum sieht sie bloß so fertig aus? Was stresst sie so sehr? 

Auf einer Bank in der City sehe ich einen älteren korpulenten Mann im verfleckten Unterhemd. Er stützt sich auf seinen Rollator. Sein Gesicht sagt mir, dass er schwer krank ist und nicht mehr lange leben wird. Es ist aufgedunsen und entzündet. Er hat tiefe schwarze Augenringe, blutunterlaufene Augen. Unbeholfen zieht er aus einem Lederetui eine Zigarette ohne Filter und steckt sie sich an. Zieht mit angestrengten Atemzügen viel zu schnell an dem Klimmstängel. Welche Vergangenheit hat dieser Mann, welche Zukunft? Wann wurde er krank? Was hat ihn so vernichtet? 

Bei meinem Hausarzt laufe ich hinter einer betagten Frau langsam die Treppen herunter. Sie nimmt sich für jede Stufe viel Zeit. Ich möchte sie nicht im engen Treppenhaus in Bedrängnis bringen und passe mich ihrer Geschwindigkeit an. Die Anpassung fällt mir schwer. Draußen überhole ich sie und blicke sie an. Trotz Gehbehinderung und schwerem Atem schaue ich in zutiefst freundliche Augen. In ihre Mundwinkeln  sind kleine Furchen eingegraben, dadurch wirkt es so, als würde sie dauerhaft lächeln. Vielleicht hat sie das in ihrem Leben auch. Sie bedankt sich bei mir, dass ich so geduldig hinter ihr gewartet habe. Wenn sie wüsste, wie anstrengend das für mich war. Von wem ist diese nette Frau, die Ehefrau, die Großmutter? Was hat sie so zufrieden gemacht? 

Beim Bäcker steht hinter dem Tresen ein Mann. Nicht mehr ganz der Jüngste. Um einiges älter als ich. Es ist nichts los, trotzdem ist er so abwesend, dass er mir das falsche Getränk hinstellt. Er hat weiße Haare, ist sehr schlank und sehr blass. Er wirkt irgendwie traurig und nicht bei der Sache. Das antrainierte positive Verkäufergesicht geht ihm völlig ab. Was hat ihn in seinem Leben dazu gebracht, als Mann Brot und Kuchen zu verkaufen? Glücklich scheint er mit dieser Entscheidung nicht zu sein. War es überhaupt eine bewusste Entscheidung? Würde ihn das gerne fragen. 

In der Buchhandlung steht ein junger Mann an der Auslage mir direkt gegenüber. Er hat eine Rundbrille auf und sieht sehr gelehrt aus. Wie ich sucht er nichts Bestimmtes, sondern möchte sich bei den Neuerscheinungen nur Anregungen holen. 

Seine Augen strahlen keine Ruhe aus. Sie wandern hektisch von Buch zu Buch. Er scheint sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Vor irgendetwas scheint er Angst zu haben. Irgendwas quält diesen Mann? 

Was für ein Glück! Dann läuft mir ein strahlendes, nur vor Lebensbejahung strotzendes Gesicht über den Weg. Die Oma von Anna. Mitten in der Fußgängerzone halten wir ein Pläuschchen. Sie würde mir nicht zustimmen, aber auf mich macht ihr Gesicht einen unfassbar jugendlichen Eindruck. Es vergeht kaum ein Satz, in dem sie nicht lacht und  über die Welt staunt. Eine fast 80-jährige Dame, wirkt frischer und lebendiger wie die meisten Gesichter, die mir heute begegnet sind. Woher nimmt sie nur ihre Gelassenheit und ihre Energie? So einem Gesicht zu begegnen, gibt einem selbst noch etwas mehr Frische mit auf den Weg. Solche lebensbejahende Gesichter trifft man leider viel zu selten. 

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